V.

Komposition des ›Parsifal‹ vollendet.

[149] Beginn der Komposition des dritten Aktes bei wenig befriedigenden Gesundheitsverhältnissen. – Auswärtige Aufführungen: Wien, Leipzig, München u.a. – Bachstudien mit Rubinstein. – Weihnachtliches Hauskonzert mit der Meininger Hofkapelle (›Parsifal‹-Vorspiel). – Zahnarzt Jenkins. – Plutarch und Xenophons ›Memorabilien.‹ – Wiederaufnahme der Bachstudien – Rauhes Frühjahr. – Beschluß der Komposition des dritten Aktes.


Wir können der uns fortreißenden Strömung des Lebens nicht anders wehren, als wenn wir ihr entgegen nach dem Quelle des Stromes steuern. Wer wenn er zu diesem Quelle gelangte, würde wohl Luft empfinden sich je wieder in den Strom zu stürzen? Von seliger Höhe herab gewahrt er das ferne Weltmeer mit seinen sich gegenseitig vernichtenden Ungeheuern; was dort sich vernichtet, wollen wir ihm verdenken, wenn er es verneint?

Richard Wagner.


Während so, besonders in den Sommermonaten, ›Gäste kamen und Gäste gingen‹, schloß sich nach Ablauf derselben der einheimische Kreis um so enger zusammen, dem insbesondere Feustel – je nach seiner Anwesenheit in Bayreuth – und dessen ausgezeichneter, stets aufopferungsvoll im Dienste des Meisters und seiner Sache wirkender Schwiegersohn Adolf Groß angehörten Nicht bloß als die ›Frau ihres Mannes‹, sondern als durchaus selbständige Persönlichkeit mit hellem Verstande und liebevollem Herzen, stand neben Feustel seine ausgezeichnete Gattin, die ›gute Frau Feustel‹, von tiefem Gemütsverständnis für die Natur des Meisters, in gewissem Sinne die eigentliche Seele seiner ersten Anknüpfungen und Beziehungen zu dem Orte, der ihm – nächst dem unvergeßlichen Triebschen – zur Heimat geworden war, in ihrer ungemeinen Schlichtheit und Tiefe von allen, die sie kannten, geehrt und geliebt und vom ganzen Hause Wahnfried als dessen beste, ja einzige Freundin in Bayreuth empfunden. Und da wir bereits an früherer Stelle ein eingehenderes Bild der Persönlichkeit Feustels zu geben versuchten1 und diese [149] uns auch im weiteren Verfolg unserer Darstellung überall mit ihren hervorragenden Eigenschaften sichtbar entgegengetreten ist, wo es sich um das Wohl der Sache oder der Person des Meisters handelte, so geziemt es sich wohl, hier auch einiges über seinen, von Anbeginn in den markanten Zügen seines eigenartigen Naturells hervortretenden Schwiegersohn Adolf Groß hinzuzufügen. Nicht allein ein Charakter von stämmiger Rechtlichkeit, sondern vor allem auch ein Mann der Arbeit, der unausgesetzten Tätigkeit, so steht er vor unseren Blicken da. Vom ersten Augenblick des Entstehens des Bayreuther Werkes hat fast alles, was dafür im geschäftlichen Sinne zu leisten und auszuführen war, auf seinen kräftigen Schultern geruht. Und so blieb es für alle kommenden Zeiten. Mit klarem Kopf, sowie der ihm eigenen mannhaft für seine Überzeugung einstehenden Gesinnung, war er neben der Erledigung vielseitiger Berufsgeschäfte unausgesetzt für die Wohlfahrt des Meisters, für die Wahrung seiner Interessen nach allen Richtungen hin tätig, sowohl in der Regelung seiner oft komplizierten privaten Vermögensverhältnisse als insbesondere auch in der Verwaltung der Patronatsangelegenheiten; alles im vornehm großen Zuge erledigend, fern von jeder Kleinlichkeit, und doch auch mit hingebender Sorgfalt so sehr auf das Kleinste bedacht, daß ihm nichts entging, und er als ein wahres typisches Vorbild jener glücklichen Eigenschaft gelten konnte, welche Wagner an den alten Hellenen rühmte: wie richtig hätten diese allezeit das Kleinste gesehen, weil sie vor allem das Große richtig erkannten! Alles Unvornehme, Unwürdige hatte vor seinem durchdringenden Auge den schwersten Stand, und er ruhte nicht, bis er es aus dem Gesichtskreise des Bayreuther Unternehmens entfernt hatte. ›Lieber Herr Groß‹, hörten wir einmal den Meister in seinem warm neckischen, liebenswürdigen Schmeichelton zu ihm sagen, ›lieber Herr Groß, Sie sind noch so groß; mich wundert es, daß Sie nicht unter der Last Ihrer Sorgen für mich schon ganz klein geworden sind.‹ Und wie hier im Scherz, so hat er es nie unterlassen, im Tone des gemütvollen tiefsten Ernstes seine Verdienste zu rühmen und anzuerkennen. Was Adolf Groß für den Meister, die Festspielinstitution und das Haus Wahnfried in strenger Rechtlichkeit und selbstloser Treue geleistet, steht mit unvergänglicher Schrift in der idealen Geschichte Bayreuths seit ihrem ersten Anfang verzeichnet. Und je mehr diese Idee im Laufe der Zeiten ihrer Verwirklichung zuschritt, desto mehr wuchs gerade für ihn die Last der Arbeit und Verantwortlichkeit, aber auch die schweigende Wucht seiner Energie, mit welcher er ihren Druck bewältigte. ›In seinem Büreau‹, sagte Wolzogen von ihm, ›hat sich alles Not- und Sorgenvolle durch Jahrzehnte recht eigentlich konzentriert. Er hat von allem Großen und Schönen, was da droben im Festspielhause zustande kam, weil er drunten arbeitete, nur die Schattenseiten gesehen; und nicht nur das, sondern auch mit den Schatten selbst höchst real kämpfen, sie durch seine Energie und Besonnenheit niederkämpfen [150] müssen, damit uns die Sonne scheinen könne.‹ Aber ›aufreibende Mühseligkeiten, anfeindende Verkennung und bittere materielle Schwierigkeiten‹, sagt eine andere Stimme,2 ›haben den hartgefügten Mann niemals am endgültigen Siege verzweifeln lassen. Das Vorbild seines Meisters stand ihm in Wollen und Können stets vor der Seele, und der Segen der Treue, die, selten geworden in der Welt, in Bayreuth ihre rechte Heimat begründete, ruhte stets auf seinem Walten und Wirken‹ Damals liebte er es noch, einmal in der Woche, im Verein mit Seidl und anderen jungen Musikern oder bürgerlichen Musikfreunden, sich auf dem Riedelsberg zu Übungen in der Kammermusik zu vereinigen, wobei er selbst mit guter musikalischer Begabung den Violinbogen führte; und auch für die Ausübung der Photographie entfaltete er mit ungewöhnlicher Fachkenntnis alle Tüchtigkeit eines hervorragenden Amateurs, die er stets bereitwillig dem Hause Wahnfried zur Verfügung stellte. Erst mit der Zeit, als die Festspielangelegenheiten seine Kräfte mehr und mehr in Anspruch nahmen, wuchsen die Pflichten den Liebhabereien so sehr über den Kopf, daß diese gegen die ersteren bis zu völliger Entsagung zurücktreten mußten. Aber den wahrhaft goldenen Humor, die Neigung zu Witz und Scherz, haben auch die ernstesten Sorgen des Geschäftsmannes nie in ihm ausgerottet, wenn er erst in seiner gastlichen Häuslichkeit, an der Seite seiner liebenswürdigen Gemahlin, die Strenge der Berufspflicht aus seinem Antlitz verscheuchen durfte. Auch durch seine tierfreundliche Gesinnung stand er dem Herzen des Meisters nahe.

Durch die Idealität seiner geistigen Anlagen war andererseits Hans von Wolzogen diesem auf das innigste vertraut und nicht genug konnte er sich dessen erfreuen, wie still und schön der junge Freund und seine Familie ihre Übersiedelung an den neuen Wohnort, seine wahre geistige Heimat, bewerkstelligt hätten. Er rühmte neben seiner reichen Begabung insbesondere seine mit nichts zu vergleichende zartsinnige Bescheidenheit: man sollte sagen ›Bescheidung‹, dieses ›nicht nach links noch rechts sehen, sich von allem scheiden, um nur dem Einen sich unterzuordnen‹. Es interessierte ihn, aus Wolzogens Familiengeschichte zu vernehmen, daß bereits vor 200 Jahren dessen Voreltern zeitweilig hier in Bayreuth sich niedergelassen hätten; wobei ein Trauercarmen zur Sprache kam, welches um jene Periode eine Frau Rucktäschel auf einen Wolzogen gedichtet: diese Dichterin, meinte er, sei gewiß die Ahnfrau oder Ureltermutter des gegenwärtigen Bayreuther Schulmeisters dieses Namens gewesen. Inzwischen war der Bau des Wolzogenschen Hauses in unmittelbarer Nachbarschaft von Wahnfried im Laufe des Sommers tüchtig vorgerückt, und es erfüllte ihn mit Befriedigung und angenehmer Genugtuung, auf dasselbe als auf ›seine Schöpfung‹ zu blicken. Eine Tür aus dem [151] Wolzogenschen Garten sollte zu steter enger Verbindung zwischen beiden Grundstücken dienen; sie sollte ein für allemal unverschlossen sein und sich auf bloßen Federdruck öffnen. Von einem Spaziergange mit Wolzogen heimkehrend, rief er eines Tages seine Frau, um ihr einen prachtvollen Regenbogen zu zeigen, der sich vom Wolzogenschen Hause nach Wahnfried herüberwölbte. Doch dauerte es immerhin noch einige Wochen nach Malwidas Abreise, bis der Tag heranrückte, an dem er den jungen Freund (1. November) in seinem neuen Hause mit Champagner bewillkommnen konnte. Bei dessen bald darauf folgendem dreißigsten Geburtstag aber (13. November) war Siegfried die Aufgabe zuerteilt, bei Tische das Hoch auf ihn als Hausherrn auszubringen.

Nur wenige Tage nach dem Abschluß der musikalischen Ausführung des zweiten Aktes begann er sich für die Arbeit am dritten Akte zu sammeln und zunächst eine genaue Revision aller derjenigen musikalischen Gedanken und Notizen zu veranstalten, die er sich seit Beginn der Arbeit im voraus für diesen Akt niedergeschrieben. Er zeigte seiner Frau die für das Vorspiel entworfenen Blätter: ›so zu phantasieren, Einfälle zu haben‹, meinte er dabei, ›sei nicht schwer; meine Schwierigkeit‹, fuhr er fort, ›ist immer die Be schränkung‹. ›Meine Vorspiele müssen alle elementarisch sein, nicht dramatisch, wie die »Leonoren«-Ouvertüre, denn dann ist das Drama überflüssig.‹ Dann sprach er von den traurigen Klängen, die er jetzt zu komponieren habe; es dürfe auch nicht ein Lichtstrahl hineinfallen, denn er könne sehr irreführen. Wiederum äußerte er dabei gelegentlich: daß er am liebsten jetzt Symphonien schreiben möchte, heitere, freundliche, in denen er sich nicht hoch versteigen würde; er fühle förmlich das Bedürfnis in sich, dieses in ihm lebende Element sich wohlig ausströmen zu lassen. ›Symphonien möchte ich komponieren, wo ich schreiben könnte, was mir einfällt; ich würde zur ursprünglichen Form der Symphonie zurückkehren, in einem Teil, mit einem Andante als Mittelsatz Viersätzige Symphonien kann man nach Beethoven nicht mehr schreiben; alles erscheint dann ihm nachgeahmt, z.B. wenn man so ein großes Scherzo schreibt.‹ Während der Arbeit am Vorspiel sah er oft angegriffen aus: er mache, sagte er, förmlich immer alle die Stimmungen durch, die in seiner Musik zum Ausdruck kämen. Aber auch der rauhe Herbst wirkte nachteilig auf sein Befinden. Er empfand rheumatische Schmerzen um das Herz herum, welche aber aus anhaltenden Beschwerden des Unterleibes hervorgingen. Der hiermit verbundenen krampfartigen Erscheinungen haben wir bereits gedacht (S. 22). In der Zeit von Malwidas Anwesenheit brachten Einreibungen mit Öl und Franzbranntwein einige Erleichterung Gedanken an ein plötzliches Ende traten oft nahe an ihn heran. ›Du wirst sehen‹, sagte er einmal zu seiner Gemahlin, ›ich sterbe dir unter der Hand weg‹ Frau Wagner lehnte diesen Scherz mit einem sehr ernsten Blicke ab, und doch kam er häufig darauf zurück. Bei sonst guter und heiterer Stimmung konnte ihm oft ein [152] geringer Anlaß zum Ärger sehr nachteilig sein; so eines Nachmittags, als eben die Durchgangstür zum Wolzogenschen Grundstück angelegt worden war und er fand, daß diese Anlage unsymmetrisch und seiner Intention nicht entsprechend ausgefallen sei. Der Ärger bekam ihm schlecht, er sah angegriffen aus und hatte etwas Blutauswurf. Wiederum gab es nicht selten schlechte Nächte, in denen er mehrmals aufstehen mußte, da jene krampfartigen Erscheinungen in seiner Brust ihn dazu zwangen. Es kam vor, daß ihn dieser Brustkrampf bei Tische mitten in heiterster Laune überfiel; er stand dann schweigend auf und kam nach einer Weile wieder, nachdem er ihn besiegt hatte. ›Wenn man ihn nur unterbricht, dann ist es vorbei; so könnte man die üblen Regungen besiegen, – nur einmal ihnen nicht nachgeben!‹ Der Beginn des November erfolgte bereits mit allen Zeichen rauher Winterlichkeit und brachte ihm starke Erkältung und Kopfschmerzen. Es sei zu schwer, was er noch vor sich habe, klagte er dann, und fühlte sich von dem Münchener Kontraktpunkt (S. 43 Anm.) lästig bedrückt. ›Noch hab' ich nicht ins Freie mich gekämpft‹, zitierte er dann aus ›Faust‹ und erklärte, es wäre ihm am liebsten, wenn das Theater da oben abbrennte und er nichts mehr von allem zu hören brauchte Wolzogen aber habe sein persönliches Schicksal auf die Zukunft der Idee basiert, dies bände ihn noch! – –

Im Gegensatz zu Äußerungen dieser Art, die ihm nur dazu dienten, sein Inneres von jenem lastenden Druck zu befreien, blieb er doch in ununterbrochener Arbeit an seinem Werk. Nulla dies sine linea, sagte er dann wieder scherzend, nur so verdiene er sich sein Glück. Wiederum schrieb er den ersten Entwurf mit dem Stift nieder, um ihn dann einige Wochen später mit Tinte zu überziehen; letzteres oft nachmittags bei Lampenlicht. Gelegentlich war er dann selbst für das früher Geschriebene nicht immer gut gestimmt; so hatte er die ursprüngliche Komposition des ›Auf, Kundry, auf!‹ mit einem darüber geschriebenen, wütenden ›Schlecht‹ durchstrichen, um es hinterher doch mit einer ganz geringen, für gut befundenen Veränderung, zu fixieren. Sehr befriedigte ihn die Eingebung jenes Violoncellmonologs bei Gurnemanz' Bemühung um Kundrys Wiederbelebung. Dann – Parsifals Nahen, seine edle trauernde Ruhe, als er erkennt, wo er ist. Es kam vor, daß er wegen anhaltender Vormittagsarbeit das Mittagessen für eine spätere Stunde bestellte. Am Tage nach der soeben von uns erwähnten Geburtstagsfeier Wolzogens hinderte ihn ein Schneegestöber am Ausgehen; er ließ die jungen Freunde zu sich herüberkommen und spielte seiner Frau und ihnen das nun mit Tinte überzogene Vorspiel des dritten Aktes. ›Zum Untergang einer Zivilisation, wie zur Vollendung des »Parsifal«‹, sagte er, ›braucht es nur Zeit.‹ Denn er rückte nur langsam vorwärts und war befriedigt, wenn er melden konnte: er habe gut komponiert; nicht viel, aber gut, oder: er sei um acht Takte vorgerückt, die seien aber exquisit, besonders die zwei letzten. Aber [153] ›einfach‹ müsse er dabei immer bleiben, er könne nicht einfach genug sein. Ein paar Takte seien es manchmal, die einen furchtbar aufhielten, bis die Tonart, die man brauche, so eingeführt sei, daß sie nichts Auffallendes an sich habe. ›Immer mehr scheue ich mich vor allem, was als Seltsamkeit oder als etwas Grelles wirkt; nun stellen sich gleich vier bis fünf Möglichkeiten vor – da richte ich eine Falte, gebe mich mit Dummheiten ab, bis ich die eine, sanft überleitende, gefunden habe.‹ Wir gedenken bei dieser letzteren Erwähnung eines Passus aus den handschriftlichen Triebschener Erinnerungen der treuen Vreneli,3 wonach sie ihn oft, wenn er sich unbeobachtet glaubte, dabei betroffen habe, wie er an irgendeinem Vorhang, einer Gardine ›eine Falte richtete‹, was sie als ein Beispiel für seine Akkuratesse, seinen häuslichen Ordnungs- und Schönheitssinn anführt. In Wahrheit geschah dies wohl in dem eben erwähnten Zustande des träumenden Schaffens, oder schaffenden Träumens, daß er sich mit einer Schleife, einer Gardine, einer herabhängenden Decke zu tun machte, während der Geist in ihm lebte und, um sich auf das Eine zu konzentrieren, nur etwas Weiches, in den Formen Unbestimmtes, nicht aber z.B. Bücher um sich duldete. Alle festen Linien, erklärte er in diesem Sinne, machten ihm die Arbeit unmöglich, während die träumerischen Farben und die Lichtbrechung auf den weichen Stoffen ihm zugleich Zerstreuung und Sammlung böten. Er durfte nicht einmal durch das Fenster die Wege des Gartens erblicken, das war schon zu bestimmt an die Außenwelt erinnernd und verhinderte die Sammlung. In Triebschen ging sein Fenster auf die fernen Berge, das war etwas anderes. Dagegen konnte es ihn erfreuen und seine Stimmung im günstigsten Sinne beeinflussen, daß die sinnende und sorgende Liebe seiner Gattin, stets auf sein Wohlergehen und alles, was dieses fördern konnte, bedacht, gerade während der Komposition der Karfreitagszene und mit Beziehung darauf, um seinem idealen Heim einen neuen Reiz zu verleihen, ihm eine lachende ›Blumenaue‹ in Gestalt einer schönen Klavierdecke über den Flügel gebreitet hatte, die er dann seinerseits liebevoll in die rechten Falten legte. ›Nur noch eine Weile‹, sagte er, ›will ich liebliche Farben und Muster haben; mit 70 Jahren richte ich mich sibirisch ein.‹ Erwähnen wir in diesem Zusammenhange auch seine Vorliebe für zarte Wohlgerüche, vor allem der Rosenessenz, der er, wenn sie auch nicht den Duft der Rose wiedergäbe, den Charakter der Schwermut zuschrieb. Er freute sich, daß Platon (im ›Timäus‹) die Wohlgerüche den ›ästhetischen‹ Genüssen beizählte, da ihr Genuß nicht durch das tierische Bedürfnis bedingt sei und uns wie ein reines Geschenk der Natur begrüße. Da er die Bedarfsgegenstände für seinen häuslichen Gebrauch immer gern persönlich bestellte (daher die vielen von ihm erhaltenen Bestellungen bei kaufmännischen Firmen verschiedener Art), [154] so stand er auch mit Pariser Parfümeurs in direkter Verbindung, aber nicht unter seinem eigenen Namen: er schrieb ihnen vielmehr als, Mr. Bernard Schnappauf, Ochsengasse, Bayreuth' und erhielt ihre Sendung durch seinen getreuen Barbier zugestellt.4

Einige Male im Lauf des Winters sah er auch einen kleineren oder größeren Kreis seiner Bayreuther Freunde, Bürgermeister Muncker und Feustel nebst ihren Familien, Adolf Groß nebst Frau, den Konsistorialrat Kraußold, seinen Hausarzt Dr. Wilhelm Landgraf u.a. An einem Sonntag im Beginn des November wurde bei einer solchen Gelegenheit wieder mancherlei Musik gemacht: eine eben anwesende Sängerin, die sich dem Meister bekannt machen wollte, Fräulein Chiomi, sang recht artig die Susannen-Arie aus ›Figaros Hochzeit‹, und aus ›Lohengrin‹ Elsas Traum und den Monolog des 2. Aktes an die Lüfte, diesen letzteren allerdings – was weniger erfreulich war – in italienischer Sprache. Er selbst begleitete die Arie der Susanne so schön, daß alle Klavierspieler von ihm hätten lernen können, und schrieb ihr die Worte ins Stammbuch: ›langer Atem – schöne Seele.‹5 Er fand nicht Worte genug, um seine Freude an der gefühlvollen Schönheit der Mozartischen Arie auszudrücken. Er entsann sich seiner einstigen gemeinsamen Studien mit der Wiener Sängerin Frau Dustmann, und daß er ihr dabei in der Arie der Donna Anna genau angegeben habe, wie sie den Atem zu nehmen, wie sie z.B. den auf die Wiederkehr des Themas vorbereitenden Takt und dieses Thema selbst auf einen Atem zu singen hätte.6 Von Konsistorialrat Kraußold sagte er, dieser sei ihm ein gutes Zeichen und Vorbild, da er mit seinen mehr als siebzig Jahren so rüstig wäre. Wenn er etwas derartiges aussprach, konnte es seltsam berühren, da er trotz aller Leiden in seiner unversieglichen Frische und Jugendlichkeit den Eindruck machte, als ob er und das Alter gar nichts miteinander gemein hätten! Auf Mozart aber kam er in der nächstfolgenden Zeit und immer wieder mit gleicher warmer Bewunderung zurück, und nahm auch gerade diese Arie mehrmals wieder vor, sich an der Begleitung der zwei Oboen und ihrem ›süß wehmütigen‹ Eintritt erfreuend. [155] Wie alles bei Mozart Gesang sei, zeigte er einmal durch den Ausruf: ›das ganze Andante der C dur-Symphonie ist eine Gesangsarie; ich wollte Worte darunter setzen und sie dann von einer Catalani singen lassen. Welcher Adel, welche Schönheit in dieser Arie der Donna Anna, – er hat das Gefühl für Schönheit gehabt! Wenn er nur nicht das Ritornell hinzugefügt hätte! schon das Allegro ist schlimm, doch möchte es noch hingehen, aber dieser Schluß! Das zeigt, wie alles bei ihm nur Instinkt war, nicht die vollbewußte Unmöglichkeit es anders zu machen!‹ Gern nannte er sich selbst den ›letzten Mozartianer‹ und klagte darüber, wie wenig gerade das Schönheitsgefühl, vermöge dessen er sich den ›Nachfolger Mozarts‹ nenne, bisher noch beachtet worden sei.7

In einem Briefchen vom 2. November erstattete er Seidl, der lange nichts von sich hatte hören lassen, Bericht über den Ausfall seiner bisherigen Bemühungen um eine Anstellung für ihn.8 Mit dem Braunschweiger Generalintendanten Herrn v. Rudolphi hatte er vergeblich darüber korrespondiert, trotz seiner Empfehlung war ein Engagement daselbst nicht zustande gekommen. ›Wegen Triest9 lange keine Antwort; endlich abschläglich, weil bei der italienischen Stimmung des dortigen Publikums die Berufung eines deutschen Kapellmeisters gefährlich erschiene usw.‹ Er hatte sich dann augenblicklich nach Wien gewandt, wo es sich allerdings nicht um eine Stellung als Kapellmeister, sondern nur um eine solche als Korrepetitor handeln konnte. Indes dachte er dabei an seine eigenen Anfänge in Würzburg10 und wie er dabei seinerseits mit ›Camilla‹ von Paer habe beginnen müssen ›Gerade als Repetitor holen Sie am schnellsten und praktischsten das nach, was Ihnen bisher noch fehlte: Bekanntwerden mit dem Opernrepertoire unserer Theater; das Dirigieren aller dieser Sachen macht Ihnen dann keine Verlegenheit!‹ Während des ganzen Oktobers gab es mit Direktor Jauner und Hans Richter einen lebhaften Brief- und Depeschenwechsel, mit dem Ergebnis, daß sowohl Seidl als Jäger (letzterer als Gast) daselbst engagiert wurden. Bereits am 8. November erfreute ihn ein Wiener Telegramm, unterzeichnet von Richter und Seidl, mit der Nachricht vom günstigen Ausfall der Generalprobe zum ›Siegfried‹: Jäger habe sich vorzüglich bewährt, bis zum Schluß kräftig ausdauernd. Tags darauf (9. November) ging die erste Wiener Aufführung des ›Siegfried‹ unter stürmisch begeistertem Beifall glücklich vonstatten, und es regnete Depeschen über den beispiellosen Erfolg, von Standthartner, Jauner und endlich Jäger selbst, dessen Wiener Triumph den Meister bestens erfreute. Allen an ihn ergangenen Einladungen, sich bei [156] dieser Gelegenheit selbst von den Wienern bejubeln zu lassen und die beliebten Ehrungen des Autors entgegenzunehmen hatte er grundsätzlich widerstanden; er stellte sich die bloße Möglichkeit vor, daß er mit Jäger nach Wien gegangen wäre, wie alles schwierig, für ihn unbefriedigend sich gestaltet haben würde! ›Denn alles‹, sagte er, ›bleibt doch schließlich, wie es ist; nach dem Spruche im »Faust«: »setz' dir Perrücken auf von Millionen Locken!« Und da wäre ich die »Perrücke von Millionen Locken« gewesen, und der Zustand geblieben, wie er ist!‹ Da er nicht gleich eine telegraphische Gegenäußerung an einen der Wiener Freunde ergehen ließ – jedem konnte er doch nicht einzeln antworten! – so meldete sich schon anderen Tages, wiederum auf telegraphischem Wege, Direktor Jauner nervös beunruhigt bei ihm mit der Bitte um ein Lebenszeichen als Antwort auf ihre Glückwünsche, und ließ diesem Telegramm alsbald auch noch eine ausführliche briefliche Nachricht folgen, in der er vor allem die in der Aufführung vorkommenden Striche zu entschuldigen sich mühte. Seine Erwiderung auf diesen Brief hatte den Zweck, den wohlgesinnten, geschäftigen Mann, dessen sprühender Enthusiasmus allerdings nicht immer mit tiefer Einsicht Hand in Hand ging, in bezug auf den von ihm hervorgehobenen Hauptpunkt zu beruhigen. ›Aber, liebster Freund! Wie können Sie über mich im Zweifel sein? Was ich jetzt an solchen Aufführungen, wie den Ihrigen in Wien, erlebe, grenzt ja an das Wunderbare! Glauben Sie, ich bin blind für die Bedeutung dieser Erfolge und den außerordentlichen Willen, der sie hervorrief? Daß damals, als ich die Dichtung dieses Werkes veröffentlichte, Niemand – und vor allem die Wiener Kritiker nicht – an die Möglichkeit seiner Aufführung glaubte, kommt mir jetzt weniger in Erinnerung, als daß ich selbst mit keinem Gedanken daran denken zu dürfen glaubte, die Teile dieses Werkes selbst als Opernaufführungen dem Publikum unserer Theater bieten zu können. Solch eine, wirklich und vollständig gefallende Aufführung z.B. des »Siegfried« bei dem Wiener Opernpublikum ist ja – denken Sie doch nach! – etwas vor zehn Jahren noch als unerhört Geltendes, und ganz so empfinde ich auch heute. Ich kann nichts anderes sagen, als daß ich darüber staune: wie aber sollte ich dafür unerkenntlich sein können? – Allerdings weiß ich aber auch, daß ich das Werk in seiner reinsten Vollständigkeit nur unter so außerordentlichen Umständen, wie ich sie mir für Bayreuth gestaltete, zur Darstellung bringen konnte; demnach bin ich, von der Vernunft der Sache geleitet, der Erste gewesen, der für gewöhnliche Theateraufführungen Kürzungen angab, so noch kürzlich (S. 119) für die »Götterdämmerung«. Daß ich dies für nötig halten muß, ist allerdings auch der Grund, weshalb ich weder selbst diesen Aufführungen beiwohne, noch auch gern von den Einzelheiten solcher Veränderungen näher berichtet höre. Diese Schwäche muß mir verziehen werden. Ein beim Theater gänzlich unbeteiligter junger Enthusiast schilderte mir den [157] peinlichen Eindruck, welchen die Veränderungen in der großen Schlußszene des »Siegfried« auf ihn gemacht. Es war mir unangenehm davon zu hören. Mir kam meine so treue und tüchtige Materna, welche von mir innig wie keine andere gelernt hat, vor die Erinnerung; ich mußte glauben, es habe ihr Schmerz gemacht, alle die zarten Übergänge, die sie so willig zur Ausführung brachte, jetzt einem roheren Durcheinander aufopfern zu müssen, und – meldete ihr recht herzlich mein Bedauern darüber. – Das ist alles! Nun ist's gut. – O! wie begreife ich es, daß der Wiener – namentlich vom Parkettsitze aus – um 11 Uhr endlich etwas Gutes essen und trinken will! Nein, nein! Das verstehe ich vollkommen; und, gestehen wir es uns zu, es ist unsinnig, von einem städtischen Theaterpublikum, selbst für seinen Genuß, Anstrengungen zu verlangen, welchen vorzubeugen ich eben ja meine Bayreuther Bühnenfestspiele eigens erfunden habe. – Ich habe Ihnen, lieber Freund, dies am letzten Wiener Abend11 vor dem ganzen Publikum gesagt, daß nur gerade Sie es über mich vermocht hatten, einem Operntheater noch einmal meine Mitwirkung zur Veredelung seiner Leistungen darzubieten. Ich bezeuge Ihnen, daß nicht an Ihnen es lag und liegt, daß ich meiner Mitwirkung Einhalt tat. Unsere ersten Versuche und deren sonderbare Erfolge überzeugten mich sofort, daß unsere modernen Theaterzustände und die allseitig sie beeinflussende Öffentlichkeit eine dauernde Anteilnahme von meiner Seite unmöglich machen. Desto besser nun, wenn Sie wenigstens Mut behalten; und gewinnen Sie jenen wunderlichen Zuständen zuzeiten etwas wie diese »Siegfried«-Aufführung ab, so kann ich nur den herzlichsten Zuruf an Sie ergehen lassen.‹12

Die Verbreitung der einzelnen Teile des ›Ringes‹ über die Theater vollzog sich in diesem Herbst mit der Unaufhaltsamkeit eines elementaren Vorganges. München, welches es sich kontraktlich ausbedungen, den ganzen ›Nibelungen‹-Zyklus zu allererst unter den deutschen Städten zu bringen, hatte am 1. September die Einzelausführungen mit der ›Götterdämmerung‹ abgeschlossen; Leipzig hielt seinen Termin für ›Siegfried‹ und ›Götterdämmerung‹ (21., 22. September) genau ein und wiederholte beide Stücke unter ungeheurem Zudrang bis zum 14. Oktober fünfmal, um sich dann für den ganzen Zyklus zu Beginn des neuen Jahres zu rüsten; Schwerin brachte am 6. Oktober den ›Siegfried‹; Hamburg, welches gleich Wien und Schwerin mit der ›Walküre‹ den Anfang gemacht hatte, fügte am 26. Oktober das [158] ›Rheingold‹, am 29. November den ›Siegfried‹ hinzu und steuerte demnach ebenfalls auf eine Gesamtaufführung hin;13 Braunschweig begann, gleich Weimar, korrekterweise mit dem ›Rheingold‹, um dann an die ›Walküre‹ (13. Januar) zu schreiten. Köln zögerte noch, so daß seine ersten Aufführungen von ›Rheingold‹ und ›Walküre‹ erst in das nächste Frühjahr fielen (15. Februar und 15. März); Wien machte seit dem 10. November in zahlreichen Wiederholungen des ›Siegfried‹ volle Häuser und am 17., 19., 21., 23. November kam in München endlich auch die erste Gesamtaufführung des ›Ringes des Nibelungen‹ außerhalb Bayreuth als ein in ganz Deutschland Aufsehen erregendes Theaterereignis pünktlich zustande. Wie sich der Meister zu den Einzelheiten dieser Aufführungen verhielt, ist im vorstehenden bereits zur Genüge gekennzeichnet. Am peinlichsten berührte ihn darin alles, was sich als eine Herabziehung seiner szenischen Vorschriften in das Gebiet des Theatereffektes auswies, selbst wenn es sich dabei um eine buchstäbliche Befolgung jener Vorschriften handelte. So wurde in München die ›grandiose Reiterkühnheit‹ der Frau Vogl, mit welcher sie sich nach ihrem ergreifenden Schlußgesang auf das ungesattelte Walkürenroß schwang, um buchstäblich in (oder vielmehr über) den brennenden Scheiterhaufen zu setzen,14 als eine ganz außerordentliche Leistung, ja als ein ›Kulminationspunkt‹, besonders für das größere Publikum, gerühmt. Den Meister veranlaßte diese einseitige Hervorhebung eines so nebensächlichen Punktes zu der Äußerung: er habe diesen Zug wohl vorgeschrieben und er gehöre mit zum Ganzen; wenn sich aber die Aufmerksamkeit des Publikums so störend darauf konzentriere, möchte er ihn am liebsten noch nachträglich streichen. Fast beängstigend wirkte infolgedessen die Vorstellung auf ihn ein, seine soeben im Werden befindliche erhabene Schöpfung schon im voraus verraten und verkauft zu wissen, daß sie nach der Bayreuther Aufführung der Münchener Intendanz abzutreten und er sogar für seine eigene Bayreuther Aufführung auf das künstlerische und technische Personal des Kgl. Hoftheaters angewiesen sein sollte!15 Am liebsten wollte er sein Werk, das doch in jedem Zuge, in jedem Ton des Orchesters, in jedem Vorgang, jedem Schritt auf der Bühne lebendige Kunst war und zur szenischen Verwirklichung hindrängte, überhaupt gar nicht aufführen, den Mitgliedern des Patronatvereines ihr Geld zurückzahlen und nichts mit Sängern und Orchester, nichts vor allem mit der Münchener Theaterintendanz zu tun haben. Am 5. November fragte Herr von Perfall telegraphisch bei ihm an, ob er ihm ›seine Maler‹ zur vorläufigen Beratung [159] über die Dekorationen des ›Parsifal‹ schicken dürfe. Ihm blieb, so wie die Dinge einmal lagen, nichts anderes übrig als dieselben, wenn sie die Reise nicht scheuten, willkommen zu heißen, doch bezeichnete er diesen Besuch als verfrüht. Wenige Tage später erschienen denn wirklich die beiden Herren Döll und Janck, gerade an einem Vormittag, wo er in bester Stimmung zur Arbeit sich alles ›hübsch dazu vorbereitet‹ hatte und gewiß war, daß er heute ›gut komponiert‹ haben würde. Für ihn selbst war es seltsam und traurig zugleich, diese selben Wesen, die in früheren Zeiten wiederholt so unrecht an ihm gehandelt, nun devot und verlegen vor ihm als dem Herrn und Meister dastehen zu sehen. Trotzdem hatten sie sich über keinen unfreundlichen Empfang zu beklagen. Als sie von der Ausdauer sprachen, die er in der Verwirklichung der Bühnenfestspiele bewiesen, erwiderte er ernst: ›Was meine Festspiele ermöglichte, das war der außerordentliche Eifer meiner Künstler, vermöge dessen sie alle zur rechten Zeit eintrafen, ihre Gastspiele entsprechend einrichteten usw. Das sind Dinge, die keine Exzellenz zustande bringen kann.‹ Im übrigen hatten die Herren in bezug auf ihre – vermeintliche!! – Aufgabe den Kopf nur voller Verzierungen, perspektivischer Fernsichten usw., und keiner von ihnen hegte den geringsten Zweifel an seiner Befähigung, die ›Dekorationen‹ des ›Parsifal‹ aus seinem Vorrat an Routine und Kenntnis nach seinen Angaben herzustellen. – Fast ebenso peinlich, als sein Verhältnis zu München, war ihm schließlich auch dasjenige zum sog. ›Patronatverein‹, als einer Anzahl unbekannter, ihm durch nichts innerlich verbundener oder nahestehender Menschen, die nun gleichsam als Gegenleistung für eine gewisse alljährliche Beitragszahlung die Bayreuther Aufführung seines Werkes zu irgendeinem bestimmten, dafür angesetzten Termin von ihm erwarteten! Das Abschreckendste war dabei für ihn die Vorstellung, daß diese Masse sogenannter ›Patrone‹ noch eigens durch besondere Aufforderung seitens seiner Verehrer und Anhänger in diese ihre schiefe und unbegriffene Stellung zu ihm gebracht war; weshalb ihm nichts so verhaßt war, als jede Art von ›Werben‹ für den Verein und das Bayreuther Werk. ›Nur ein großes Vermächtnis könnte mir helfen‹, sagte er dann wohl, ›daß ich mich nach beiden Seiten hin frei machte. Und dann wäre ich erst recht übel dran; denn ich sehe niemand, keinen Sänger, keinen Kapellmeister, keinen Regisseur, der mir taugen könnte: ich muß zittern, daß der kleine Fricke mir alt wird.‹ Es ist derselbe Gedanke, den er ein halbes Jahr später in dem Aufsatz ›Wollen wir hoffen?‹ auseinandersetzt Wohl sei ab und zu von den ungeheueren Legaten eines Peabody oder anderer Menschen-Wohltäter die Rede; aber nie erfahre man, daß dadurch etwas gebessert worden sei. Die vor ihm liegende tiefe Kluft sei nicht mit Geldsäcken auszufüllen.16 ›Entweder halte [160] ich das Jahr 1880 als Aufführungsjahr ein und bin nach der Aufführung ganz frei, oder ich verschiebe die Aufführung, zahle aus meinen Einnahmen dem König das Defizit zurück und gebe den Patronen ihr Geld wieder. Ich möchte jetzt die Komposition vollenden, ohne an Aufführung oder Nichtaufführung zu denken.‹

Zu seiner Lektüre diente ihm, mit einigen Unterbrechungen fast durch zwei volle Monate, Leckys umfangreich angelegte Studie über die ›Sittengeschichte Europas‹,17 die in vielen Stücken, sowohl was das reichhaltig umfassende Material als das geistvolle Urteil des Autors betraf, sein Interesse und seinen Beifall fand, so daß er gern den ›besonnenen Engländer Lecky‹ zitierte. An den Abenden wurde, wie bereits erwähnt, eine Zeitlang ›Oper und Drama‹ vorgenommen; den erwachsenen Töchtern las er an zwei aufeinanderfolgenden Abenden die ›Pilgerfahrt zu Beethoven‹ und ›das Ende eines Musikers in Paris‹ Malwida hatte ihm bald nach ihrer Abreise die Werke Leopardis in deutscher Übersetzung geschickt Zuerst war eine kleine Voreingenommenheit zu überwinden, da er Gedichte ein für allemal nicht liebte, und der erste Dialog erschien nichtssagend; auch ein anderer sprach nicht an, und die Geschichte des Menschengeschlechtes wurde bald wieder aufgegeben. Dann aber gefiel ihm in dem folgenden der Gedanke über die starken Charaktere der antiken Welt im Verhältnis zu ihrem ›beschränkten Gesichtskreis‹; jetzt hätten wir den erweiterten Gesichtskreis, aber schwache Charaktere.18 Die schöne, förmlich antike Fassung des Dialogs ›Plotinus und Porphyrius‹ und sein reicher Gedankeninhalt bewirkten, daß er diesem vor allen andern den Vorzug gab; im übrigen verharrte er dabei, Leopardi sei eine pathologisch interessante Erscheinung und nur als solche aufzufassen: auch drücke auf den Italiener das lateinische Altertum. Wir Germanen hätten es besser, wir stammten von uns selber ab und könnten uns einbilden, unsere große Vergangenheit wieder lebendig machen zu können; wir hätten keine Kultur hinter uns. Mit Interesse und sympathischer Bewunderung wurde hierauf Luthers ›Sendschreiben an den christlichen Adel deutscher Nation‹ an mehreren Abenden von Anfang bis zu Ende gelesen. ›Er ist ein Glied in der großen Kette!‹ rief er und führte dann in feurigen Erörterungen aus, wie die deutschen Fürsten Luthers Lehre nur aus Eigennutz angenommen, wie die Bauern ihm das Zerrbild davon entgegengebracht und wie sich dann der große Reformator am Ende gestehen mußte, der römische Papst sei für sie gerade gut genug. ›Daß die Welt sich einbildet, nur irgendetwas von ihren großen [161] Männern zu haben! Wenn unter den allerseltensten Umständen sie einen großen Mann hervorgebracht, dann sieht sie ihn verwundert an, wie unser Gärtner Rausch seinen Samen, wenn er aufblüht! Auch Christus, wiewohl am Kreuz weit über all diese Dinge und Verhältnisse erhaben, – wenn er den Erfolg seines Werkes gesehen, hätte er nicht auch wohl gedacht: der römische Imperator ist Euch gerade recht? Und nun diese herrlichen »Konsistorialräte« als Luthers »Nachfolger«! O, ist das tragisch und erhaben!‹ Dann wies er darauf hin, wie selbst die besten Erscheinungen dieser geschichtlichen Welt noch schlimm genug seien, z.B. Mark Aurel, der die Christen am ärgsten verfolgte! Und an alles das knüpfte sich, ausgesprochen oder unausgesprochen, der innerste Wunsch, von einer Aufführung seines ›Parsifal‹ gänzlich abzusehen und ihn bloß zu seiner eigenen Befriedigung auszuführen. Er wolle ihn dann in der Partitur vollendet hinterlassen und Siegfried sollte ihn dereinst zur Aufführung bringen.

Die fortdauernden Zeitungskonfiskationen in Berlin empörten ihn als ein Zeichen der Unfähigkeit etwas Besseres zu tun: ›nur verbieten können sie, nie fällt ihnen etwas anderes ein.‹ Die Prolongation des Sozialistengesetzes auf zweieinhalb Jahre, und die Feier des kaiserlichen Geburtstages mit Illumination und Belagerungszustand zugleich, erregte sein schmerzliches Bedenken darüber, daß wir in unserer Zivilisation unser ganzes Heil von der Polizei erwarten müßten. Wohl aber befriedigte ihn die Nachricht, daß sein alter Freund Sulzer19 in Zürich nunmehr an die Spitze der sozialistischen Partei sich stellte. ›So einen könnten wir in Deutschland brauchen; nicht gegen den Besitz, sondern darauf, daß alle Besitz haben, dahin wird sein Bestreben wohlzielen.‹ Weniger konnte es ihn erfreuen, als ein deutsches sozialistisch-demokratisches Blatt Aufsätze über seine Schrift ›die Kunst und die Revolution‹ brachte. ›Das kommt ein wenig spät‹, sagte er und bezeichnete das beschränkte mißverständnisvolle Urteil, mit welchem die Schlußworte jener Schrift angeführt und gedeutet wurden, als einen ›kalten Überguß‹. Anhaltend beschäftigte ihn die Lektüre des, damals eben erschienenen, Buschschen Buches über Bismarck, und da er soeben mit der Abfassung seines ›Rückblickes auf die Bühnenfestspiele des Jahres 1876‹ beschäftigt war, klingt etwas davon auch in diesen Aufsatz hinein: ›Großherzige Illusionen zu hegen, ist dem deutschen Wesen nicht unanständig Hätte Herr Dr. Busch die Versailler Tischreden unseres Reichsreformators bereits damals zu veröffentlichen für gut befunden, so wurde ich jedoch wohl der Illusion, welche mich in jenen Sphären Teilnahme für meinen Gedanken erwecken zu können annehmen ließ, jedenfalls keinen Augenblick mich hingegeben haben.‹20

[162] In der zweiten Hälfte des November traf Joseph Rubinstein nach längerer Abwesenheit zu mehrmonatigem Besuch in Bayreuth ein und erfreute durch den Vortrag des ›Idylls‹, welches er aus seinem eigenen sehr guten Klavierarrangement recht hübsch reproduzierte; dennoch aber immerhin so, daß der Meister nach seinem Fortgang wiederum bekümmert ausrief: ›nicht einen Menschen hinterlasse ich, welcher mein Tempo kennt!‹ Prachtvoll dagegen spielte er an einem der folgenden Abende den ›Amerikaner-Marsch‹, den er seinerzeit mit dem Meister selbst studiert hatte. So nahm dieser denn nach Verlauf einiger Zeit auch das ›Idyll‹ mit ihm gemeinschaftlich vierhändig am Klavier vor, so daß es mit wundervoller Klarheit und Schönheit zur Geltung gelangte. Über Klavierauszüge im allgemeinen sprach er sich bei dieser Gelegenheit dahin aus, daß sie, um ihren Zweck zu erfüllen, gewissermaßen nur geistvolle Andeutungen zu bieten hätten, wobei man nur die Umrisse geben und sich hüten sollte, durch Anbringung von Mittelstimmen die melodische Linie zu unterbrechen. Über das ›Idyll‹ im besonderen äußerte er: es sei das einzige seiner Werke, das aus dem Leben entstanden sei (vgl. S. 144 f.); er könne dazu das Programm bis aufs ›und‹ schreiben. Nur hätte es nicht veröffentlicht werden sollen. Alles, was man publiziert, sei vor die Schw.... geworfen, und nur ab und zu käme ein blindes Huhn und fände die Perle. Er sei stolz auf diese seine Komposition und habe sich ihrer heute sehr gefreut, aber auch der zuhörenden Kinder und der Art, wie sie zuhörten. Für diese und seine Frau hatte er – noch vor Rubinsteins Ankunft – einmal selbst aus dem ›Tannhäuser‹ gespielt (Schluß des zweiten Aktes und Beginn des dritten bis zum Erscheinen Tannhäusers) und dann geäußert, er möchte sie gern einmal, da sie das Werk nicht von der Bühne kannten, inkognito nach München zu einer Aufführung bringen. Übrigens, meinte er in bezug auf das Inkognito, kein Mensch würde ihn dort erkennen. Er sei zufrieden, das Vorspiel zum dritten Akte gekürzt und es von dem ursprünglichen Übermaß rezitativischer Orchesterwendungen befreit zu haben.21 Von Wolfram sagte er: das sei der eigentlich deutsche Charakter; Italiener und Franzosen, fügte er scherzend hinzu, hätten dafür zuviel ›chaleur de cœur‹. Und vom Gebet der Elisabeth: er könne es sich wohl vorstellen, wie ein modernes, fast nur noch aus Juden bestehendes Theaterpublikum dabei ›vor Langeweile auswachsen‹ müsse. Eines Abends bat ihn Siegfried, entweder etwas aus der ›Walküre‹ oder das Andante der A dur-Symphonie zu spielen; worauf er mit der ältesten Tochter Daniela, als tüchtiger Klavierspielerin, das letztere vornahm. Seine gemeinschaftlichen Studien mit Rubinstein betrafen aber hauptsächlich Bach, d.h. sie waren dem ›Wohltemperierten Klavier‹ gewidmet, das er bei dieser Gelegenheit für die eigentliche Quintessenz des Meisters erklärte. [163] Diese Präludien und Fugen seien, nebst den Motetten, wohl das Vollendetste; ob die Passionen, als Ganzes betrachtet, ihnen gleichgestellt werden könnten, wolle er nicht entscheiden; doch – fügte er hinzu – seien sie in der Kirche, von der Gemeinde, aufgeführt worden, und das sei das Rechte. Einmal hatte er abends aus seinen eigenen kleineren Werken musiziert: die Lieder ›Stehe still‹ und ›der Tannenbaum‹, das Albumblatt für, Frau Betty Schott, und war von hier aus zu einem der Bachschen Präludien übergegangen. ›Bach gefällt mir besser als ich‹, sagte er dann lachend, ›diese Musik kann man nur unter dem Begriff des Erhabenen verstehen; ich sehe dabei immer die alten Dome, und es ist wie die Stimme des »Dinges an sich«; das Nervöse, Sentimentale erscheint einem kleinlich dagegen. Bei Beethoven wird alles schon dramatisch. Bei Bach ist alles im Keim vorhanden, was dann in einem üppigen Boden, wie Beethovens Phantasie, fortwucherte. Unbewußt, wie im Traum, ist vieles von Bach niedergeschrieben; die »unendliche Melodie« ist da bereits präformiert. Ich möchte‹, fuhr er fort, ›Klavier spielen können, bloß um mir Bach vorzuführen.‹ Die Fuge Nr. 6 in D moll war ihm das Wunderbarste: ›nie kann das erreicht werden! Was ist da Berechnung? Die Gewalt über alle Mittel, daß er ihrer sich bediene nach dem Bedürfnis seiner Inspiration. Und das, denke man sich, in der Zeit des Tabakskollegiums und des Vaters von Friedrich dem Großen!‹ Er erzählte dann von Bachs Schicksal, seine Frau begraben zu finden, als er von einer Reise heimkehrte und gedachte dabei Rancés, des Neubegründers des Trappistenordens, und seines von Schopenhauer so unvergeßlich eindrucksvoll wiedergegebenen erschütternden Erlebnisses, das ihn mit einem Schlage aus dem Weltkinde in einen Heiligen umwandelte.22 Vom Präludium 7 (Es dur) sagte er: das ist Wotan, das muß – die neun ersten Takte zumal – wild gespielt werden. Die Fuge darauf ist die Besänftigung, die Frau, die sich hübsch kleidet, ihren Mann beruhigt. Vom Präludium 8: ›das spiele ich noch mondscheinartiger, da hört der Dämmer bei mir gar nicht auf.‹ Die dazu gehörige Fuge erklärte er für das Merkwürdigste; sie sei äußerst kunstvoll und dabei so stimmungsvoll: ›was sind da für Engführungen, Augmentationen, und welche Akzente!‹ Sie sei für ihn von jeher der Inbegriff der Fuge gewesen; in seinem Heft Fugen, die er bei Weinlig komponierte23 und welches er verloren zu haben bedauerte, habe sich das gezeigt. ›Das ist Musik in ihrer Essenz!‹ rief er einmal nach dem Abschluß solcher Studien, ›alles was wir machen, ist angewendete Musik; ein Rondo von Hummel z.B. ist so und so viel verdünnter Bach, wie man die Rosenessenz so und so viel mal verdünnt, um einen gewöhnlichen Wohlgeruch daraus [164] zu bereiten. Der Tanzweise die Kontinuität zu geben, das ist hier geglückt – später hat man gruppiert, auseinandergehalten, durch Figurationen verbunden.‹ Er setzte den Kindern auseinander, was eine Fuge sei; dann sagte er; ›Wir wollen jetzt angewendeten Bach vornehmen‹ und ging zu dem Vorspiel zu den ›Meistersingern‹ über, mit unendlicher Freude daran. Es verstimmte ihn tief, daß der junge Kellermann sich einmal von diesen Bachstudien zurückzog, weil er für ein Konzert im Bayreuther Dilettantenverein zu üben hatte; er erregte sich heftig darüber und beklagte dann hinterher, daß er niemand ruhig und gelassen die Wahrheit sagen könne, weswegen er es lieber ganz vermeide. An diesem Tage dauerte es lange, bis man zum Wohltemperierten Klavier übergehen konnte.

Schon in früher Jugend hatte er, durch E. T. A. Hoffmann angeregt,24 nach Mystischem suchend, die Bachschen Fugen vorgenommen und, wie er sich nun sagte, eigentlich eine Art Ennui dabei empfunden. ›Wie doch zu allem Erziehung gehört!‹ rief er aus. Beim 19. Präludium mußte er über die Quintenfolgen lachen; diese habe Bach mit dem Bewußtsein geschrieben: ›man weiß wohl, was ich für ein Musiker bin und daß ich, wenn ich dergleichen schreibe, es mit Absicht tue, dem auszudrückenden Gedanken zulieb‹. Ungefähr um die gleiche Zeit, kurz vorher oder nachher, gestaltete sich in seinem Geiste seine eigene ›Quintenfolge‹ bei Gurnemanz' Erkennung des Speeres! Von der 20. Fuge (A moll) sagte er: sie müsse von Bach zuerst vierstimmig gedacht und dann erst für Klavier gesetzt worden sein. Das seien die Sachen gewesen, die ihn bei den späteren Musikern in Verruf gebracht und bewirkt hätten, daß z.B. sein Nachfolger im Thomaskantorat, Wagners Lehrer Weinlig, der ihn einst Mozart ›innig erkennen und lieben lehrte‹, von Bach – nichts habe wissen wollen. Bei einer dieser Fugen (zwischen 16 und 20) hob er hervor, wie der große Meister manchmal die bedeutendsten Themen wie am Spinnrad abspinne: ›er treibt keinen Handel damit‹. Beim Präludium in H dur (Nr. 23) sagte er: ›das ist hoffnungsvoll: es muß doch Frühling werden‹. Das letzte Präludium (Nr. 24, H moll) wollte er ›klagend leidenschaftlich‹ wiedergegeben haben und wünschte sich wie bei jenem Andante der Mozartschen C dur, Symphonie (S. 156), das Ganze – mit Text – von einer Catalani gesungen zu hören: ›man sollte sehen, welchen Eindruck das machen wurde‹. Dementsprechend gab er Rubinstein für den Vortrag den Rat, den Canto immer sehr hervorzuheben; er möchte sich gern den Spaß machen, wirklich einen Text dafür zu schreiben. Die entsprechende Fuge wollte er sehr breit genommen haben, allmählich sich belebend. ›Es sind Rätsel‹, sagte er davon, ›man muß zusehen, nach dem Gesang gehen. Er hat hier Melos förmlich vergeudet.‹ Hier gab er sich dem großen gewaltigen [165] Eindruck hin, ohne einen Versuch ihn in irgendwelcher plastischen Gestalt festzuhalten, die seiner Phantasie sonst gleich beim ersten Eintritt des Themas sich zeigten; so, wenn er das Thema der 5. Fuge (D dur) gleich bei seinem ersten Erscheinen als den ›Herrn Bürgermeister‹ ansprach (›man müsse bei der Figur erschrecken‹), das Gegenthema aber als die ›Frau Bürgermeisterin‹ und am Schluß die Worte mitsang: ›mein Wille geschieht‹. Das Thema in Fuge 17 bezeichnete er als einen Tanz und machte einen Pas zu den ersten Takten. Die auf das entzückende und ergreifende Präludium 18 in Gis moll folgende Fuge bezeichnete er als ein Märchen der Großmutter ›Edda‹: eine vollständige Resignation spreche sich in dem Thema aus, und er sang einen improvisierten Text dazu mit dem Schlusse: ›es muß ja doch so sein‹.25 Als jedoch gleich im ersten Beginn dieser Studien (17. Dezember) der naheliegende Gedanke ausgesprochen ward, es möchten die ungemein treffenden Worte, wie er sie aus dem unmittelbaren Eindrucke heraus jedem Präludium und jeder Fuge als poetische Deutungen hinzufügte, sogleich als ein eigenes Buch fixiert werden, da wehrte er dies entschieden ab, mit dem Bemerken, dergleichen könnte zu mißverständlichem Experimentieren mit den Meisterwerken verleiten.26 Mit Rührung betrachtete er das Portrait Bachs vor der Czernyschen Ausgabe des Wohltemperierten Klaviers: ›ganz ein Musikergesicht‹, sagte er, ›wie das von Mozart und Beethoven; es sind Herz-Menschen‹; und wie davon die Rede war, daß man bezweifle, ob Bach sich durch Abschreiben bei Mondschein das Augenlicht zerstört, erwiderte er: ›Warum? Wenn ich an meine zwei Pariser Jahre und ihre ewige, unsägliche Not zurückdenke – das würde man auch in Zweifel setzen können! Ich war doch kein Bauerjunge, und meine Verwandten führten zu derselben Zeit in Leipzig ein großes Haus.‹

Diesen unvergeßlichen Abendstunden, die sich unter seiner Anleitung zu wahren Offenbarungen des Höchsten und Tiefsten gestalteten und bis gegen Weihnachten hin erstreckten, wohnte zuletzt bereits Seidl mit bei, der um diese Zeit mit Jäger aus Wien zurückgekehrt war und wiederum durch sein [166] einfaches wahrhaftiges Wesen und sein richtiges Urteil Freude machte. Seine Berichte über Wien lauteten allerdings so trostlos, daß der Meister damit lieber ganz verschont blieb. Außerdem hatte dieser eben Größeres und Wichtigeres vor, als sich um das glänzende Elend der Wiener Hofoper zu kümmern: seine Arbeit am dritten Akt war auf kurze Zeit von ihm unterbrochen, um zunächst ganz insgeheim, ohne daß jemand etwas davon ahnte, das Vorspiel des ersten Aktes vollständig in Partitur auszuführen. Der gleiche bedeutungsvolle Tag, dem einst in Triebschen die Entstehung und erste Aufführung des ›Idylls‹ gegolten hatte, war diesmal von ihm zu einer unvergleichlichen Feier bestimmt: zu dem hohen Familienfesttage des 25. Dezember hatte er der edlen Genossin seines Lebens, mit einer ersten privaten Aufführung des ›Parsifal‹-Vorspieles am frühen Morgen, als weihevollstes ›Ständchen‹, eine herrliche, ihrer würdige Überraschung zugedacht Natürlich durfte sie, damit die Überraschung eine vollkommene sei, nicht das geringste davon ahnen, und doch waren Vorbereitungen genug dafür zu treffen: ein geeigneter Instrumentalkörper mußte beschafft, es mußten Orchesterstimmen kopiert und Proben abgehalten werden; er hatte dafür zu korrespondieren und zur Probenleitung wiederholt vom Hause abwesend zu sein – das alles in ganz unauffälliger Weise. Für das Orchester hatte er sich an den befreundeten Herzog von Meiningen mit der Bitte gewandt, ihm für diesen Zweck durch einen zweitägigen Urlaub die Musiker seiner Hofkapelle zu bewilligen; die Bläser derselben konnten teilweise – für die ›dritten‹ Blasinstrumente, die dritte Trompete und Baßtuba – aus den Bayreuther Militärmusikern ergänzt werden; die Orchesterstimmen wurden in Meiningen aus geschrieben;27 die nötigen Vorproben fanden teils bereits in Meiningen, teils in Bayreuth mit den Ergänzungsmusikern statt, ›schon der schwierigen rhythmischen Rückungen wegen‹. Für den Abend des Festtages war außerdem im Saale von Wahnfried eine größere häusliche Musikaufführung vorgesehen und als Programm derselben Beethovens Festouvertüre ›zur Weihe des Hauses‹ (mit Fuge, C dur) und 8. Symphonie F dur; als zweiter Teil das ›Idyll‹ und das Andante und Presto aus der A dur-Symphonie nebst der ›Egmont‹-Ouvertüre; endlich – als dritter Teil – die Wiederholung des ›Parsifal‹-Vorspiels festgesetzt. Gern hätte er in diese häusliche Musikaufführung auch noch die ›Freischütz‹-Ouvertüre mit aufgenommen;28 doch wäre diese letztere immerhin etwas aus dem sonst völlig einheitlichen Rahmen gefallen. Das Andante der A dur-Symphonie hingegen war eigens um Siegfrieds [167] willen (S. 163) gewählt, der es so zum ersten Male, von seinem Vater dirigiert, vernehmen sollte.

Am Montag den 23. Dezember abends trafen die Musiker aus Meiningen ein; am Dienstag den 24 fand – im Saale der ›Sonne‹ – um 11 Uhr vormittags, im Beisein weniger Auserwählten, Seidl und Rubinstein, die erste Probe statt; nachmittags um 4 Uhr die zweite. Mit dem ›Parsifal‹-Vorspiel hatte er noch viel Mühe; die Musiker hatten es bei den Vorproben in Meiningen in doppelt so schnellem Tempo gespielt, weil der Kapellmeister sich – wie einst Lachner im ›Tannhäuser‹29 – mit dem Rhythmus einer Stelle nicht zu helfen gewußt hatte. Da die vorausgegangene Nacht für ihn eine recht üble gewesen war, hatte er sich ohnedies nur matt in diese erste Probe geschlichen: aber mit Beethovens Festouvertüre war alles vorbei und in schönster Ordnung, er fühlte sich völlig genesen. Es war unglaublich, wie er auf das, an sich tüchtige, aber damals noch nicht durch einen Bülow geschulte, Orchester wirkte und es in seinen Leistungen weit über sich hinaus erhob. ›Wagner hielt jeden‹, so berichtet Seidl,30 ›wie in magischen Ketten an sich gefesselt; der Musiker konnte nicht anders, er mußte unter ihm Wundervolles leisten Anfangs ging es in den Proben, durch die Ungeduld des Meisters, der alles gleich gut haben wollte, drunter und drüber; die befremdlichen illustrierenden Bewegungen mit dem langen Taktstock machten die Leute stutzig und irre, bis sie endlich begriffen, daß hier nicht der Taktstrich herrsche, sondern die Phrase, oder die Melodie, oder der Ausdruck. Bald aber fesselte der Blick, umgarnte das von ihm ausströmende magnetische, Fluidum, und er hatte sie alle in seinen Händen. Das schwächste Orchester wuchs unter ihm und spielte herrlich; die Töne bekamen Leben, es herrschte der strammste Rhythmus und der hehrste Gefühlsausdruck, – und das Alles spiegelte sich in seinem Gesichte ab.‹ Er selbst erzählte nachher mit Befriedigung, wie die Musiker selig, ja verklärt gewesen seien, als er ihnen in der Probe gelehrt, wie Menuett und Trio der achten Symphonie zu spielen seien; und wie schön, wie ganz seinen Intentionen gemäß die Klarinette schließlich dieses ›reizvollste aller Idylle‹ geblasen habe Seine zweimalige Abwesenheit von Hause wußte er, um ihr jedes Auffällige zu nehmen, durch die originellsten Ausreden und Einfälle zu erklären, die andern Tages sämtlich als erfunden und ›erlogen‹ von ihm bezeichnet wurden, aber die ›Überraschung‹ wurde dadurch auf das vollkommenste verwirklicht.

Es war früh sieben Uhr und der zögernde Wintermorgen kaum im allerersten Grauen begriffen, als sich die Musiker in der hell erleuchteten Halle von Wahnfried zusammenfanden. Der große geschmückte Christbaum, welcher abends zuvor den Mittelpunkt der Familienfeier gebildet, war nun in die [168] Ecke des Raumes gerückt, die Pulte mit den Orchesterstimmen standen bereit und der Meister bereits gegenwärtig, um von einer improvisierten Erhöhung aus mit seinem Zauberstabe den Schöpfungsakt zu leiten, durch welchen seine Partitur in reinster Klangherrlichkeit zum Leben erweckt wurde. Er erhob diesen Stab, und zum ersten Male vollzog sich das Wunder der tönenden Offenbarung des Göttlichen. In dem langsam feierlichen Gesange des Liebesmahlspruches verkündigte sich der göttliche Geist der Liebe als Heilsbotschaft und wurde unter heiligen Schauern von der unsichtbaren Gemeinde der Gralsbrüder wiederholt. Dann erstand im feierlich glühenden Glanz das Heiligtum des Grales selbst vor dem geistigen Auge, und nach einer Pause ergriffenen Schweigens erwiderte ihm das erhabene Glaubensthema: ›Der Glaube lebt!‹, indem es während des nun folgenden Mittelsatzes in immer neuer Gestaltung durch alle Stimmen hindurchschritt, von allen Orchestergruppen gesungen und verkündet, die Welt, die ganze Natur mit seiner Kraft durchdringend, ein Bild der Verbrüderung der ganzen Menschheit. Von erschütternder Wirkung war dann der Übergang zum zweiten Teile, dem schmerzlichen Ringen des bußfertigen Sünders nach der Erlösung; dieser dumpfe Paukenwirbel, dem sich das dunkle Tremolo der Bässe um eine Terz tiefer anschließt, schien nach der Offenbarung der höchsten Himmelsmächte die tiefsten Gräber öffnen zu wollen. Der ringenden Heilssehnsucht des reuigen Sünders erwiderte dann der tief elegische Schmerzensgesang der Heilandsklage bereits wie die Ahnung einer ergebungsvollen Tröstung und erhob die geläuterte Seele in göttliche Höhen. So tief war der Eindruck dieses musikalischen Ereignisses auf die völlig überraschte Gefeierte, daß sie an die Bedingungen zur Hervorbringung desselben gar nicht zu denken vermochte, sondern nur aufs neue überrascht war durch die Vorbereitungen zur abendlichen Konzertaufführung vor einer durch den Meister eingeladenen befreundeten Bayreuther Gesellschaft Bereits in vorgerückter Stunde des gestrigen Weihnachtsabends war heimlich – wie durch Zauber vollbracht – an der hinteren, in den Garten führenden Rotunde des Saales ein Anbau aus Brettern errichtet worden, damit die Musiker ihren eigenen Eingang hätten. Um 11 Uhr, nachdem der Meister inzwischen etwas geruht, fand dann noch eine letzte Probe des ganzen Programmes mit Ausnahme der schon gestern probierten F dur-Symphonie statt: der Festouvertüre, des ›Idylls‹, der ›Egmont‹-Ouvertüre und des Andante und Presto der A dur-Symphonie, unter regster Mitteilung des Meisters über die einzelnen Tonwerke, insbesondere der Fugen-Ouvertüre, die von Beethoven bekanntlich zur Einweihung des Josephstädtischen Theaters komponiert worden war und von der man sich – so sagte er – billig fragen könnte, was sie denn mit dem an sich kunstgeschichtlich keineswegs bedeutenden Anlaß ihrer Entstehung gemein habe, oder wie der Komponist gerade aus diesem Anlaß ein so lebensvolles Werk habe konzipieren [169] können? Um sich dies und damit den Charakter des Tonstückes zu erklären, habe er sich immer vorgestellt, Beethoven habe bei der ›Josephstadt‹ unmittelbar an Kaiser Joseph II. gedacht, an ihn, den Populären, der die Jesuiten aus Wien verjagen wollte, und in der Einleitung seinen Einzug geschildert, an den sich dann Volksjubel, tolle Ausgelassenheit der Menge in berauschender Fülle anschließe! Und vieles Einzelne, spezifisch Musikalische, über Beethovens Instrumentierung und ihre handgreiflichen Mängel, insbesondere in den Blechinstrumenten; daß aber bei ihm der Gedanke so mächtig sei, daß er über alles siege! ›Man muß‹, sagt Seidl in bezug auf solche schöpferische Offenbarungen, ›man muß eine Beethovensche Symphonie, von Wagner dirigiert, erlebt haben, um ahnen zu können, was zwischen den Noten des klassischen Riesen alles verborgen steckt und was alles aus dieser Musik hervorgezaubert werden kann.‹ Wiederum vergegenwärtigen wir uns hier seine Schilderung der mächtigen, unwiderstehlichen Persönlichkeit des Meisters gegenüber seinem Orchester: seines gewaltigen Kopfes mit den scharfen Gesichtszügen, von den wunderbar durchdringenden Augen belebt, seiner klar sprechenden Gesichtsmuskeln, denen jede Regung, jede kleinste Bewegung, jeder Gefühlsausdruck zu Gebote stand. ›Ohne Bewegung stand der Körper da; aber die Augen flimmerten, glühten, stachen, die Finger arbeiteten nervös umher; es fieberte durch die Luft bis zu jedem einzelnen Musiker; eine unsichtbare Macht zog in das Herz jedes Mitspielenden; ein jeder fieberte ebenso, denn er konnte dem Blick dieses großen Mannes nicht ausweichen. An ihm hingen alle und er schien alle zusammen anzusehen zu gleicher Zeit.‹ Wie durch einen Zauber verwandelt und von seinem Geiste beseelt, waren alle diese armen Wesen weit über ihre sonstige Musikertätigkeit hinausgehoben und von aller Erdenschwere befreit. Dann trennte man sich, um allseitig der Ruhe zu pflegen und bis zum Abend neue Kräfte zu gewinnen: doch hielt der schöne Rausch bei allen gleichmäßig an.

Um sieben Uhr fanden sich pünktlich die eingeladenen Gäste ein, alles in allem etwa sechzig Personen, unter denen wir nur die dem Leser bereits Bekannten hier namhaft machen: die Familien Feustel und Groß, Bürgermeister Muncker nebst Angehörigen, Konsistorialrat Kraußold und Dr. Landgraf nebst Familien, und was sich sonst von den Spitzen der Stadt in Zivil-und Militärkreisen einer persönlichen Beziehung zu dem Meister und seinem Hause erfreute; Wolzogens, Seidl, Rubinstein, Kellermann u.a. Das Orchester war in der Rotunde des Saales sehr glücklich placiert; den übrigen Raum nahmen die Gäste auf den im Halbkreise zusammengerückten Sitzmitteln in geräumiger Ausbreitung ein. Dann begann das wunderbare Weihnachtskonzert, welches Bayreuth an jenem Abende die erste Stelle hoch über allen festfeiernden Städten der Welt verschaffte. Durch die Intimität der ganzen Einrichtung war dem Meister selbst das Vollgefühl künstlerischer Freiheit gewährt, [170] aus welchem er nun, in einer alles Frühere übertreffenden Weise, die vorgeführten herrlichen Werke zu vollkommen neuem, bis in das kleinste durch seinen offenbarenden Genius verklärte Leben erweckte. So erfuhr die kleine Versammlung durch ihn, den selbst Verklärten und durch die Berührung mit seinem großen Mutterelemente zu neuer Kraft Erstarkten und wahrhaft Verjüngten, – was die glanzvolle Fugen-Ouvertüre Beethovens ›zur Weihe des Hauses‹ sei, was die unglaublich humorerfüllte, unbändige achte Symphonie! Jedem Takt dieser beiden Werke, welche die erste Abteilung der Musikaufführung bildeten, hätte man zurufen mögen: verweile doch, du bist so schön. Jeder einzelne Mitwirkende schien, unter dieser Berührung mit dem Genius, wahre Seelenfunken auszusprühen: als ob alle Themen Fleisch und Blut geworden, wie körperhafte Individuen, Tongestalten im buchstäblichen Sinne, schwebten sie den Hörern entgegen. Während der Pause zog sich der Meister etwas zurück, da es ihm nicht möglich und nicht mit seiner großen Aufgabe vereinbar war, sich in besondere Unterhaltungen mit den einzelnen Gästen einzulassen Dagegen hatte er schon vor Beginn des Konzertes einige Worte der Einführung an die Allgemeinheit der Anwesenden gerichtet, ihnen die Bedeutung des Tages und dann auch die Ouvertüre erklärt; als er zur zweiten Abteilung zurückkehrte, ließ er sich wiederum in einigen ungezwungenen Worten vernehmen. Lauter Übermut sprach dabei von seinen Lippen, und strahlende Begeisterung ergoß sich von seiner Stirn und aus seinen Augen. Dann begann der zweite Teil: er brachte zunächst sein eigenes liebliches, zartes, reiches ›Siegfried-Idyll‹, welches in solcher Ausführung jene schönen Worte Liszts über dasselbe vollauf bewahrheitete;31 sodann die letzten Sätze (Andante und Presto) der siebenten Symphonie und die ›Egmont‹-Ouvertüre, die nach fast ununterbrochenem Vortrage mit derselben unerhörten Macht und Kraft zum Ausdruck kam, wie die Ouvertüre am Anfang und alles in helle Begeisterung fortriß. Jeden der Anwesenden berührte es dabei hochbedeutsam, den neunjährigen Siegfried, dem ja der ganze zweite Teil der Aufführung recht eigentlich gewidmet war, mit prachtvollem Gesichtsausdruck in nächster Nähe seines Vaters zu sehen, der ihm jedesmal bei Beginn seine Kappe zur Aufbewahrung zuwarf. Und als der letzte Ton der Ouvertüre ausklang, als der Meister wiederum schnell verschwand, um erst nach einer kleinen Weile des Ausruhens wiederzukehren und – zur leiblichen Erfrischung für Hörer und Musiker bestimmt – die lange Souperpause eintrat: da umfing alle ein nie gekannter Zauber mit fast sprachlos traumhafter Entzückung; niemand hatte das geringste Bewußtsein über die etwaige Dauer dieser Unterbrechung, weil die Schwingungen des soeben Vernommenen in allen noch fortwirkten. Dann, zum weihevollsten Ausklang, reihte sich mit seiner feierlich [171] erhabenen Weltentrückung das ›Parsifal‹-Vorspiel an, zum ersten Male für einen größeren versammelten Hörerkreis, nachdem es bei seinem ersten Erklingen in der Frühe des Tages nur einer einzigen Zuhörerin gegolten hatte Wer möchte den Versuch wagen, den Eindruck der Persönlichkeit des Meisters selbst beim Dirigieren seiner verklärten und verklärenden Tonschöpfung mit Worten auszumalen? ›Wie ein Gott‹, sagte einer der Anwesenden (Dr. Landgraf), ›sei er ihm in diesem Augenblick vorgekommen, und so viele Bilder er von ihm kenne, keines gäbe einen Eindruck von seinem Gesicht beim Dirigieren. Wie der Schlag einer elektrischen Batterie sei sein Geist in die ausübenden Künstler und durch diese in die Hörer übergegangen.‹ Es war immerhin ein schöner und bedeutsamer Abschluß der ganzen Festlichkeit und dem Meister selbst nicht unerfreulich, daß nach seiner kurzen, tief ergriffenen Dankesansprache an die Musiker gerade ein Geistlicher, der ehrwürdige Konsistorialrat Kraußold, aus innerstem Impulse in herzlicher Weise das Wort ergriff, um im Namen der Anwesenden das Hoch auf Meister und Meisterin auszubringen, worauf denn die Gesellschaft in tiefer Bewegung auseinanderging. Es war eine wahre Weihnachtskunde zu allen gekommen: die herrlichste Bezeugung des Daseins eines überirdischen Trostes in unsterblicher Meister Kunst, wie sie dem Empfänger nur in den allerseltensten, in dieser Weise nie sich wiederholenden Fällen zuteil werden kann. Wie viel Störendes und Beirrendes, das hier im trautesten Kreise gänzlich wegfiel, haftet nicht dagegen selbst an den glänzendsten unserer öffentlichen Musikaufführungen! Hier erschienen die herrlichen Werke wie gereinigt von der Profanation, der Verunglimpfung durch die alltäglichen Aufführungen, wie die durch Parsifal erlöste Kundry. Ein Gefühl davon durchdrang sämtliche Zuhörer dieses einzigartigen Hauskonzertes, das der Genius selbst an seiner Heimstätte sich und den Seinigen bereitete, vor allem Ihr, deren Festtag er dadurch ehrte und der er damit seinen Dank und seine Liebe zum Ausdruck brachte.

Auf ihn, den Schaffenden selbst, der noch kurz zuvor sich recht ermüdet und angegriffen gefühlt, hinterließ diese einzige Feier, mit deren Veranstaltung er gleichsam das ›Maienfestspiel‹ dieses Sommers erwiderte, den wohltätig kräftigendsten Einfluß. Durch die für ihn so wonnig belebende Berührung mit den Organen seiner Kunst zu völliger Gesundheit und Frische gelangt, vertiefte er sich mit Beginn des neuen Jahres wiederum in die Ausführung seines, auf kurze Zeit unterbrochenen, dritten Aktes, indem er zunächst die vorhandenen Bleistiftskizzen in Tinte auszuführen begann. Bei dichtem weißem winterlichen Schneegestöber erhielten die mild entzückenden Karfreitagsmorgenklänge von den Worten ›wie anders schreitet sie als sonst!‹ bis zu Kundrys Gang zur Quelle ihre letzte Fixierung, in einem Kreis zarter Stimmungen, milder weicher Gedanken sich bewegend, die immer wieder zu dem Erlöser am Kreuze zurückkehren und aus denen dann, zart und leise, [172] in ihrem synkopierten Rhythmus gleichsam noch unsicher tastend und suchend, die Vorahnung der ›Blumenaue‹ als eine sanft wiegende, friedenatmende Melodie in ihren ersten Keimen sich entspinnt: ›es durfte nichts Ausgeführtes sein‹, sagte er selbst, ›nur wie ein leichter Dämmer – – oh, was sind Synkopen schön, wie geben sie eine leichte Bewegung!‹ Und dann in diese sanfte, mild abgedämpfte Friedensstimmung hinein die – durch schweren Paukenton im Pianissimo angekündigte – Erscheinung Parsifals mit seinem, nun in trauerndes Moll getauchten Motive, seine Ablegung der Waffen, sein stumm inbrünstiges Gebet, die Erkennung des heiligen Speeres durch Gurnemanz, und endlich seine schlichte Begrüßung des Greises mit den ersten von ihm gesprochenen Worten: ›Heil mir, daß ich dich wiederfinde!‹ Von dieser Fixierung der bereits vorhandenen Bleistiftskizzen ging er dann unmittelbar, nachdem er kaum einen Tag der Sammlung sich gegönnt, zur weiteren Skizzierung des Folgenden über. Nur wenn er komponiere, so sagte er, hielte er es aus, daß es ihm so gut ginge, sonst würde es ihm fast wie ein Frevel vorkommen.32 Ganz langsam, ohne jede Überhastung, rückte er weiter vor, meist nur um acht oder zehn Takte des Tages, einmal dazwischen gar nur um sechs Takte – aber, fügte er dann hinzu, die seien vielbedeutend Viel Zeit nehme er sich, das sei seine Freude. Er begreife nicht, wie andere (er nannte Raff und A. Rubinstein) so anhaltend und ununterbrochen komponieren könnten. Dafür sage er sich auch, wenn man seine Werke mit denen anderer ›Komponisten‹ vergleiche, daß zehnmal so viel Musik in den seinigen wäre; das sei noch gar nicht gewürdigt Dementsprechend wurde dann auch ihre Dauer sein ›Ich kann nicht schnell arbeiten‹, so hatte er schon vorzeiten einmal an Malwida geschrieben, ›weil mir kein Takt gefällt, der seine Entstehung nicht einem wahrhaft guten Einfall verdankt. Die kann man aber nicht kommandieren.‹33 Während eines Besuches, den Kapellmeister Levi am 13. Januar von München aus bei ihm machte, nahm er für ihn und die anwesenden jungen Freunde, Wolzogens und Rubinstein (Seidl hatte schon in den letzten Dezembertagen Bayreuth verlassen) den dritten Akt, soweit er damals in den Skizzen vorlag, vom Vorspiel bis zur Anbetung des Speeres, am Klavier durch. Es war dies der Abschluß eines, für alle Zuhörer erlebnisreichen Abends. Er hatte zuvor über das Verhältnis Beethovens zu seinen Vorgängern jene begeisterten und begeisternden Ausführungen gegeben, die in Wolzogens Bericht mit den Worten schließen: ›da kam Beethoven!‹34 [173] ›Bei diesem Worte‹, fährt dann der Erzähler fort, ›mußte man nun wieder den Mann sehen! Aus Blick und Ton sprach es mit ergreifender Deutlichkeit, wie da in seiner Seele bei dem Namen Beethoven eine ganz neue Welt aufstieg.‹ Mit Levi ging er dann, im Hinblick auf seine neuliche Aufführung der F dur-Symphonie, die Partitur derselben nach der Breitkopf-Härtelschen Gesamtausgabe durch: ›so ideal, wie Beethoven, hat keiner die Streicher und Bläser gruppiert; nur in einzelnen Momenten hat er (da ihm nach eingetretener Taubheit das Gehör dafür versagte) die Klangverhältnisse nicht ganz richtig ermessen‹. Er wies ihm im einzelnen diejenigen Stellen nach, an denen ihm die Instrumentierung zum Ausdruck der eigentlichen Intentionen des Schöpfers dieses göttlichen Tonwerkes nicht genügte, wobei er nicht unterließ, auf das – im Trio des Menuettes – den Hörnern durch den Herausgeber Rietz eigenmächtig zuerteilte Sforzato aufmerksam zu machen. Die Aufforderung, alles das, was er in diesem – gleichsam das ursprüngliche ideale Gehörsbild Beethovens restituierenden – Sinne geändert wissen wollte, direkt in die Partitur einzutragen, erwiderte er mit den bedeutsamen Worten: ›nach dem »Parsifal«!‹35 An diese Beethovenstudien fügte sich dann schließlich, in bereits vorgerückter Stunde, die Vorführung des dritten ›Parsifal‹-Aktes. Von Gurnemanz erklärte er dabei, dieser sei sein besonderer Liebling, und verglich ihn in dieser Beziehung mit Hans Sachs und Kurwenal.

Mit dem Zahnarzt zu tun zu haben, ist für niemand erfreulich, und das größte Genie wird in dieser Beziehung keine Ausnahme machen Soweit technische Beherrschung aller Mittel in der Ausübung seines Berufes, soweit eine sichere Hand und ein seines zartes Gefühl, Kenntnis, Liebenswürdigkeit und gesellschaftliche Bildung die nervenreizenden und schmerzerregenden Dienstleistungen eines solchen Wohltäters der leidenden Menschheit in ihren augenblicklichen Wirkungen zu mildern imstande sind, war dies bei dem amerikanischen Zahnarzte Dr. Jenkins der Fall, welcher, in Dresden ansässig, eigens zu diesem Behuf nach Bayreuth herüberkam. Zum erstenmal war er zu gleichem Zweck im September 1877 im Frack und weißer Binde mit all seinen Instrumenten und Apparaten in Wahnfried erschienen, hatte seine Operationen mit der größten Geschicklichkeit ausgeführt und zum Schluß durchaus keine Bezahlung dafür an nehmen wollen. Als er jetzt, nach einer Zwischenzeit von sechzehn Monaten zur Untersuchung der Zähne des Meisters wieder erschien und 21/2, Tage deshalb in Bayreuth verbrachte, wurde er bereits [174] als guter Bekannter und Hausfreund begrüßt und nahm an den Mahlzeiten der Familie und den Abenden in Wahnfried teil; es gab mit dem einsichtigen und gebildeten Manne sehr eingehende Unterhaltungen über deutsche und amerikanische Verhältnisse. Der treffliche Amerikaner zeigte sich wohl überrascht über die herrschenden öffentlichen Zustände in Deutschland, zweifelte aber nicht daran, daß die Deutschen sich prächtig aus ihren gegenwärtigen Kalamitäten ziehen würden. ›Ja‹, rief der Meister lebhaft, ›weil wir Männer wie Goethe und Schiller, Mozart und Beethoven aus unserer Mitte hervorgebracht; fragen Sie aber doch diese, wie ihnen unter ihren deutschen Landsleuten zumute gewesen ist!‹ Er verbreitete sich dann über die Kurzsichtigkeit der deutschen Politik, die es nicht verstanden habe, mit den stammverwandten Nachbarländern Holland, Schweden, Dänemark und der Schweiz in ein festes Bundesverhältnis zu treten36 und z.B. bis zum heutigen Tage auch nicht einmal den bloßen Gedanken an die Begründung von Kolonien gefaßt habe. ›Das deutsche Volk‹, rief er aus, ›das ist der arme Mann aus unserer Gegend, von dem mir Schnappauf37 erzählte, daß er zehn Nächte obdachlos gewesen und dann in eine Scheune gekommen sei, in der er sich an den Ofen gesetzt; plötzlich bemerken die Leute, daß seine Kleidung brennt, sie wollen löschen, und sehen dabei, daß der Mann – tot ist! Und wenn nun Bismarck hierherkäme, wie würde ihm alles huldigen, und mit welcher Superiorität würde er sagen: »Sehen Sie, lieber Herr Wagner, alles das haben wir schon erwogen, aber dieser schändliche X. X., und dieser Soundso; jetzt wollen wir auch Schutzzölle machen« usw., bis man ihm sagen würde: verzeihen Sie, daß ich so ein Esel war, eigene Gedanken zu haben!‹ Die Rede, die er dabei im Namen Bismarcks hielt, war so voller Witz und denen des großen Staatsmannes so ähnlich, daß die ganze Gesellschaft dadurch in einem ununterbrochenen Lachen erhalten wurde Schöne Züge erzählte Dr. Jenkins von den Deutschen in Amerika, und der Meister sagte darauf: ›Ja die Auswandernden, das sind die Tüchtigen und Guten wie einst die Völkerwanderung den daheim bleibenden Deutschen in den Goten, Vandalen, Franken und Longobarden ihre eigentlichen Heldengeschlechter entführte, die zurückbleibenden Seßhaften waren die Philister.‹ Und wieDr. Jenkins auf das [175] Unglück zu sprechen kam, kein Vaterland zu haben, rief er aus: ›Ja, woher käme denn die Trauer, wenn man es nicht so liebte!‹ Anklänge an diese Unterhaltung finden sich noch ein Vierteljahr später in dem Aufsatz ›Wollen wir hoffen?‹ wieder, an welchem er schon damals in Gedanken arbeitete, von dem er schon im Dezember wiederholt gesprochen hatte, mit der Hinzufügung, in diesem Aufsatz wolle er alles, was er noch zu sagen habe, zusammenfassen und es würde seine letzte literarische Kundgebung sein ›England und Amerika‹, heißt es darin, ›wissen uns damit bekannt zu machen, was deutsche Arbeit ist: die Amerikaner bekennen uns, daß die deutschen Arbeiter ihre besten Kräfte sind. Es hat mich neu belebt, hierüber vor kurzem von einem gebildeten Amerikaner englischer Herkunft38 aus dessen eigener Erfahrung belehrt zu werden!‹39

In dem soeben erwähnten Aufsatze, zu welchem die Gedanken des Meisters sich seit einigen Monaten in seinem Geiste zu kristallisieren begannen, wird mit einer offenbaren Vorliebe Plutarch zitiert, als ›klassisch gebildeter Philosoph aus der späteren, so verrufenen Zeit der römisch-griechischen Welt‹, insbesondere seine Schrift über ›Aberglauben und Unglauben‹ (Dämonenfurcht und Atheismus), mit dem Bemerken, daß wir ›von keinem unserer kirchlichen Theologen etwas Ähnliches, geschweige denn etwas Besseres würden vernehmen können‹.40 Plutarchs Biographien waren seit lange für ihn eine gern gepflegte Lektüre gewesen, zu der er dazwischen immer wieder griff. So treffen wir ihn z.B. während der zweiten Pariser Periode (1860) mit dem ›Timoleon‹ beschäftigt;41 in München, Triebschen, Bayreuth war diese Beschäftigung jederzeit gern von ihm wieder aufgenommen Hingegen fehlte in seiner Bibliothek bisher eine handliche Gesamtausgabe der sog. ›Moralia‹ in deutscher Übersetzung, was für den jungen Freund Wolzogen Grund genug war, ihm eine solche – aus der bekannten Sammlung griechischer und römischer Autoren von Osiander und Schwab – auf den Weihnachtstisch zu legen. Wir nehmen an, die Veranlassung dazu sei eine gelegentlich von ihm aufgefangene Äußerung des Meisters selbst gewesen; diese letztere wiederum hatte ihre Ursache möglicherweise in seiner damaligen Lektüre Leckys (S. 161), [176] der in seiner Sittengeschichte wiederholt mit Auszeichnung auf Plutarch zu sprechen kommt.42 Gerade seine Schrift über den Aberglauben, den Plutarch für schlimmer erklärt, als den Atheismus, weil er den Charakter der Gottheit verunglimpfe und seine Nachteile daher nicht bloß negativ, sondern positiv seien, wird von Lecky wiederholt angeführt. Plutarchs erstaunlich umfassende Kenntnis und seine Begeisterung für das, von ihm von der edelsten Seite aufgefaßte Altertum, sein tiefes Gemüt und seine religiöse Gesinnung, sein sittlicher Ernst und seine Tierfreundlichkeit machten ihn dem Meister besonders wert für den täglichen Umgang; er las ihn gern vor Beginn seiner Arbeit, da er ›so gar nichts Aufregendes habe‹. Er nennt ihn daraufhin geradezu ›unseren Freund Plutarch‹43 und zitierte gern einzelne schöne Züge aus frischer Lektüre, z.B. aus den ›Maximen von Königen und Feldherren‹ den Ausspruch des Agesilaos über den höheren Wert der Tapferkeit oder der Gerechtigkeit: ›wer stets gerecht sei, bedürfe der Tapferkeit nicht‹,44 oder die Antwort des jüngeren Dionysius auf die Frage, was ihm nun, in der Verbannung, die Philosophie des Plato helfe: ›sie diene ihm dazu, daß er eine solche Veränderung des Glückes geduldig ertrage‹. Oder, wenn er selbst bei Tag und Nacht von seinem großen Werke erfüllt und dadurch gegen andere Eindrücke präokkupiert war, so freute es ihn von dem griechischen Maler Nikias zu lesen, daß er Essen und Trinken über seiner Arbeit vergessen45 oder von dem großen Archimedes, daß seine Bedienten ihn von der geometrischen Tafel, an welcher er saß, mit Gewalt wegziehen mußten, um ihn auszukleiden, zu baden und zu salben, und er dann auf die gesalbten Schenkel immer noch Figuren fortzeichnete.46 Das gedankenreiche Gespräch ›über die Vernunft der Land- und Seetiere‹ fesselte ihn durch seine Tiefe und den Reichtum seiner Beobachtungen so sehr, daß er, in gegebenem Anlaß noch ein halbes Jahr später zu seiner wiederholten Lektüre zurückkehrte.47 In demselben Zusammenhange [177] gedenkt er mit ersichtlicher Befriedigung des in den Ausgaben unmittelbar an jene Abhandlung angeschlossenen Dialoges: ›Gryllus, oder über die Vernunft der unvernünftigen Tiere‹ mit den Worten: ›Plutarch hatte die Kühnheit, ein Gespräch des Odysseus mit seinen, von Kirke in Tiere verwandelten Genossen zu erfinden, in welchem die Zurückverwandlung in Menschen von diesen mit Gründen von äußerster Triftigkeit abgelehnt wird. Wer diesem wunderlichen Dialoge genau gefolgt ist, wird sich schwer damit zurechtfinden, wenn er heutzutage die durch unsere Zivilisation in Untiere verwandelte Menschheit zu einer Rückkehr zu wahrer menschlicher Würde ermahnen will.‹48 Und daß er auch die, neben so manchem – in den Zeitanschauungen und dem damaligen Stande der Naturkenntnis begründeten Abstrusen, die feinsten und hellsten Geistesblitze enthaltenden neun Bücher sog. ›Tischreden‹ durchlesen hat, wird durch die anderthalb Jahre später in ›Religion und Kunst‹ enthaltene humoristische Anspielung auf das Kapitel ›warum die Juden kein Schweinefleisch essen?‹ bezeugt.49 Allerdings vernehmen wir, daß, als er einmal in schlafloser Nacht zu seinem Plutarch gegriffen und auf die ›Höhle des Trophonius‹ mit ihren Traum- und Gespenstererscheinungen geraten war, mit einem ›hol's der Teufel‹ das Buch zugeschlagen habe und wieder zu Bett gegangen sei. Andererseits gehören eben diese dantesken Berichte des Timarchus über die Geheimnisse der Unterwelt gerade jenem Gespräch über das ›Dämonium des Sokrates‹ an, aus welchem er, als eigentlichem Kern desselben, den geheimnisvollen Vorgang von der Umkehr des Weisen ›auf halbem Wege‹, nebst allem Dazugehörigen, den Seinigen einmal abends vorlas und wiederholt scherzhaft darauf anspielte, so daß diese Episode50 in Wahnfried sprichwörtlich wurde. Zumal, wenn jemand nieste: werden doch in jenem Zusammenhang gerade die zeitgenössischen, verkehrten und oberflächlichen Beurteiler zurechtgewiesen, die nicht darüber hinauskamen, jene merkwürdigen Kundgebungen des Sokratischen ›Schutzgeistes‹ auf allerlei herrschenden populären Aberglauben, z.B. auf seine angebliche abergläubische Beachtung des ›Niesens‹ zurückzuführen! So ward dieser zugleich durch seine [178] vielseitige Mannigfaltigkeit unterhaltende und durch seinen gemütvollen Ernst ansprechende Autor – ›unser Freund Plutarch‹ – zeitweilig in Wahrheit zum gern gesehenen Gesellschafter und drang mit manchen seiner Aussprüche in die täglichen Unterhaltungen der Familie ein. Mit großem Vergnügen las er u.a. auch das prächtige Kapitel ›über die Geschwätzigkeit‹, aus welchem sich einst Schiller die Anregung zu seinen ›Kranichen des Ibykus‹ gewonnen hatte.

Neben Plutarch mit seinen unversieglich zahlreichen Bänden, die ihm – lange nach Homer und Platon! – eine ganz neue Bekanntschaft mit dem spätgriechischen Geiste vermittelten, waren es die ›Memorabilien des Sokrates‹, die, zum Teil mit jenem abwechselnd, in der klaren, durchsichtigen, gleichsam unpersönlichen Darstellung Xenophons von Abschnitt zu Abschnitt mit hohem Genuß wieder von ihm gelesen wurden. ›Ich habe so gern mit dieser Welt zu tun!‹ rief er nach einer solchen Lektüre aus. ›Wenn man so die Leute unseres Jahrhunderts mit diesen vergleicht, in ihren schönen Trachten, den Sandalen an den Füßen, mit diesen Menschen, welche Tapferkeit, Tugend, Rechtlichkeit, alles in den einen Begriff der »Schönheit« zusammenfaßten, – wie erbärmlich erscheinen da wir! An die Stelle des asiatischen Pompes setzen sie den natürlichen bürgerlichen Sinn, dem auch wir heute nachtrachten. Aber wie nimmt sich ein Moderner, Machiavelli z. B, der den Griechen am nächsten stand, wie nimmt er sich dagegen aus! welche korrupte Welt ist der Hintergrund seines Wesens!‹ Über Einzelheiten aus seiner Lektüre des Xenophon, dessen ›Anabasis‹ er noch vor wenigen Jahren mit Entzücken gelesen,51 teilte er sich gern mit; an einem schönen Abend trug er den Seinen, in Gegenwart Wolzogens und Rubinsteins, den Dialog zwischen Sokrates und Theodota vor, mit großer Freude an seiner Anmut, seinem seinen Witz und seiner Schönheit, sodann den mit dem jungen Perikles, auch den Bericht über Sokrates' Tod. Hierauf nahm er mit Rubinstein das erste Finale von ›Figaros Hochzeit‹ vor, von dem Moment an, wo der Graf zur Entdeckung Cherubins an der Gräfin vorüber der Tür zuschreitet, um sie zu öffnen. ›Darin ist griechischer Geist, Witz und Anmut!‹ rief er. ›Selbst die lärmenden Halbschlüsse und Kadenzphrasen, die in der Mozartschen Symphonie so leicht störend wirken, dienen hier in ganz unersetzbar scheinender Weise dem in die Sphäre der Musik erhobenen szenischen Vorgang; der Dialog wird ganz Musik, und die Musik dialogisiert. Alles stimmt da zusammen, und selbst das Unedle wird graziös, ganz wie in dem Dialoge von Sokrates und Theodota! Es konnte aber nicht bestehen neben den Grotesken Rossinis: an lauter große Arien gewohnt, hörten die Leute die zarten leichten Themen gar nicht mehr als Melodie heraus!‹52

[179] Kapellmeister Levi hatte Kellers ›Züricher Novellen‹ nach Wahnfried geschickt; der Meister las sie mit dem größten Vergnügen und sagte gleich nach der ersten (Ursula): ›ich habe eben eine der angenehmsten Stunden meines Lebens verbracht‹. Er lobte die Schweiz, wo solch ein Dichter noch möglich sei, und fuhr dann fort: ›oh, wenn ich so etwas von einem Mitlebenden in der Musik erführe!‹ Die ›Fahne der Aufrechten‹ wurde in Gegenwart Jägers und Wolzogens von ihm selbst vorgetragen; zu der Novelle von Hadlaub las er das Angeführte in der Sammlung der Minnesinger nach; der ›Narr von Manegg‹, der ›Landvogt von Greifensee‹ fanden im gleichen Sinn seinen warmen Beifall. Manche persönliche Erinnerungen an seinen Verkehr mit dem originellen Freunde aus der Züricher Zeit wurden mit eingeflochten, z.B. an die ihm eigene Art, sich in der Unterhaltung mitzuteilen: wenn er das Beste, Geistvollste sagte, sei es doch so seltsam polternd herausgekommen, als wenn man einen Sack Kartoffeln ausschüttete.53 In Marrs Broschüre ›der Sieg des Judentums über das Germanentum‹54 gefiel ihm auf S. 37 die treffende Vergleichung Bismarcks mit Konstantin d. Gr. nebst den daran geschlossenen seinen und vornehm gehaltenen Betrachtungen über das deutsche Wesen in seiner gegenwärtigen hoffnungslosen Lage.55 Die Nachrichten über das Elend des deutschen Volkes und die gleichzeitigen Berichte über die Zollverhandlungen erfüllten ihn mit Bitterkeit über die ›Frivolität‹, mit welcher der große Staatsmann die Sache anfasse: er wolle Geld und nun gebe er dem Reichstage carte blanche: ›bitte, wählt euch unter allen Steuern diejenigen, welche euch recht sind, auch Salz und Brot wollen wir, wenn es euch recht ist, besteuern, aber gering, sehr gering, daß keiner es merke!‹ ›Und das ganze Volk siecht dahin, und wir haben eine mächtige Armee zur Verteidigung dieses toten Körpers!‹ Ein Büchlein von Daudet setzte ihn durch Talent und – echt französische Niaiserie in Erstaunen, letzteres anläßlich seiner satirisch verzerrten Schilderung des deutschen Volkscharakters. ›Wir sind albern und lächerlich genug‹, sagte er, ›warum müssen sie uns noch lächerlicher machen? Sie sollten uns genau studieren.‹ Dies erinnert uns an eine entsprechende Äußerung aus etwas späterer Zeit gegen einen russischen Freund von hervorragender Bildung. Als dieser nämlich behauptete, es erginge den Russen ebenso, und sie würden dem europäischen Publikum in einem ebenso falschen Lichte dargestellt, wie der Deutsche durch den Franzosen, erwiderte er lebhaft: ›Durchaus nicht! denn jene kennen wir durch die Darstellung ihrer eigenen hervorragenden Schriftsteller, Gogol und Turgenjew. Die Anlagen der deutschen Natur aber liegen so wenig an der Oberfläche, [180] daß sie dem Deutschen selbst ein Geheimnis sind, vollends aber dem Fremden, sobald sich dieser keine Mühe darum gibt‹ Turgenjews, ›récits d'un chasseur‹ hatte er noch kürzlich mit wachsendem Interesse gelesen, auch Gogols Novellen wurden während dieses Frühjahrs zeitweilig von ihm aufgeschlagen; da ihn dieser trotz allen Talentes doch aber nur wenig befriedigte, kehrte er wieder zu Plutarch zurück Dazwischen las er dann den Seinigen abends wohl wieder in seiner unvergleichlichen Weise einen Abschnitt aus dem Homer, wie den 19. Gesang der Odyssee: das erste Gespräch zwischen Odysseus und Penelope, mit der darauf erfolgenden Erkennung des Heimgekehrten bei der Fußwaschung durch Eurykleia.

Inzwischen war die weitere musikalische Ausführung seines großen Werkes, soweit nicht vorübergehende Störungen durch Unwohlsein ihn daran hinderten, in voller stetiger Schaffensfreude gleichmäßig vorgeschritten Gurnemanz' Erzählung von Titurels Tod und der sich daran schließende Schmerzensausbruch Parsifals gehören in ihrer Entstehung noch etwa der Mitte Januar an, und er sagte danach: ›ich habe Parsifal bis zur Ohnmacht gebracht; da bin ich froh, wenn ich die Leute so untergebracht habe‹.56 Und wiederum, in gleich heiterem Ton: ›wenn Parsifal in Ohnmacht fällt – da beginnt es! es wird das Schönste – ich habe schon vieles in den Skizzen‹. Die Blumenaue werde nicht ›eine Geschichte für sich‹, sondern durchdringe im voraus die ganze folgende Szene. Als er am 27. Februar die holde Erlösungsmelodie des Karfreitagszaubers mit der scherzhaften Bezeichnung ›Feld- und Wiesenmusik‹ an Levi übersendet,57 war die wunderbare Szene bereits in ihrem ganzen Aufbau vollendet. Das herrliche neue Thema des ›Segensspruches‹, dessen Harmonien vertraut an die Melodie des Liebesmahles und des Gralmotives anklingen, erscheint in ihrem Verlaufe viermal in nicht zu ferner Aufeinanderfolge, immer zur Einleitung der bedeutsamen Vorgänge der Fußwaschung, der Segnung, der Salbung Parsifals und schließlich der Taufe Kundrys. Mild und friedevoll erklingen dann zu Gurnemanz' Worten ›und langer Irrfahrt Staub soll nun von ihm gewaschen sein‹ die zarten Naturlaute der Entsühnungsmelodie, in deren inniger Ausbreitung die Karfreitagsmorgensonne schon hell auf tauige Blumen und erlöste Menschenseelen niederscheint. Den großen Abschied von Gurnemanz' ›Nicht so! die heil'ge Quelle selbst‹ bis Parsifals ›daß heute noch als König er mich grüße‹ brachte er in der letzten Januarwoche seiner Gemahlin in voller musikalischer Ausführung zu Gehör; am letzten Tage des Monats ließ er auch schon die Taufe Kundrys [181] folgen. Von dem glänzend feierlichen Höhepunkt der Salbung mit ihrer gewaltig anschwellenden kanonischen Durchführung des Parsifal-Motives leiten weihevolle, weit ausatmende Akkorde zu dem neuen Einsatz des Segensspruches, als heilverkündenden Taufgesang für Kundry über, aus dem Gralsmotiv erhebt sich schwebend das Glaubensthema und geht, als die von ihrem Fluch befreite Sünderin das Haupt in heftigem Weinen tief zur Erde beugt, in die ergreifenden Töne der Heilandsklage aus: der Blick des einst von ihr verlachten Göttlichen senkt sich aus dem Auge seines reinen Boten entsühnend auf sie nieder. ›Man wird fragen‹, sagte er, ›wie kommt es wohl, daß Parsifal Kundry in ihrer veränderten Gestalt erkennt, – erkennt er sie überhaupt? Alles ist unausgesprochene Ekstase, wie er da heimkehrt und den Blick auf dieses arme Weib wirst.‹ Mit dem Beginn des Februar begann er dann wieder das Vorhandene aus den Bleistiftskizzen zu fixieren, d.h. es ›in Tinte zu übertragen‹, immer ganz erfüllt von den erhabenen Schönheiten der künstlerischen Offenbarung, als deren göttlich begnadeten Träger er sich fühlte. Bei den Worten Gurnemanz': ›des Sünders Reuetränen sind es‹ schien ihm vorübergehend für die vorschwebende Melodie zu wenig Text vorhanden, und er dachte schon an eine Erweiterung des Wortlautes der Dichtung; tags darauf ward es ihm freudig klar, daß er ›Text genug‹ habe, weil ein Vers (›der ließ sie so gedeihen‹) von ihm übersehen worden sei. Das sei sein Stolz, an seiner Dichtung nichts ändern zu müssen; und er gedachte der Melodie des Preisliedes in den ›Meistersingern‹, die er früher hatte, als den Text dazu, und freute sich ihrer. Er kam dabei auch auf die letzte Ansprache des Hans Sachs: diese sollte ihm einer unserer jetzigen Komponisten in bezug auf Stimmführung nachmachen! – Bei den Worten ›will ihr Gebet ihm weihen‹ setzt die Melodie der Blumenaue zum drittenmal in sieghaft prangendem Forte ein; eine besondere Befriedigung empfand er bei dem nun folgenden Übergang zu ›ihn selbst am Kreuze‹, als es ihm gelungen war, die hier wiederzugebende erschütternde Vorstellung so einzuführen, daß sie die herrschende weihevoll liebliche Stimmung nicht völlig aufhebe: die Hauptsache sei, so bemerkte er, daß dieser Übergang ›ohne Schreck‹ geschehe. Und so entstanden die schweren Paukenschläge im Pianissimo, in denen die Erscheinung des Erlösers am Kreuze an der Seele vorüberzieht; worauf denn, wie aus der innigen Sehnsucht nach dem Anblick des Göttlichen, die folgenden Motive (Liebesmahlspruch, Entsühnungsmelodie) mit ersänftigendem Diminuendo zum vierten – vorletzten – Eintritt der Hauptmelodie weiterdrängen und noch einmal die Fälle der Melodik sich, bei dem ›Unschuldstag‹ der ›entsündigten Natur‹ zu einem schwebenden Crescendo erhebt. Es läge ihm viel daran, sagte er, daß auch die jedesmaligen Mittel- und Nebenstimmen gut klängen, deshalb habe er beim Schreiben gern ein Klavier bei der Hand, und lasse nicht nach, bis das Gewünschte erreicht sei. Bei Beethoven gebe es öfters [182] noch ›Quetschgänge‹, von denen er sich sage: ›hätte er sich's angehört, er würde es nicht niedergeschrieben haben!‹

Eine drei- bis viertägige Unterbrechung in seiner Arbeit entstand durch den Umstand, daß sich Frau Wagner in der zweiten Hälfte des Februar wegen eines lästigen Zahn- und Ohrenleidens behufs ärztlicher Konsultation nach München begeben mußte, womit sich die Absicht verband, ihn zu seinem nächstbevorstehenden Geburtstag durch ein Portrait von ihr zu erfreuen, zu dessen Herstellung sie dem befreundeten Maler Lenbach notwendig an Ort und Stelle einige Sitzungen bewilligen mußte. Des Meisters durch diese Trennung natürlich ernstere Stimmung hinderte nicht seine freundlich lebhafte Unterhaltung im Kreise der Kinder und Wolzogens; mit letzterem und Rubinstein verbrachte er auch in munterster gesprächigster Weise ein Stündchen bei Angermann oder unterredete sich abends mit ihnen in ernsten Erwägungen über Patronatverein und Deutschland. Er erledigte auch Briefe; nur zu komponieren war er nicht imstande: alle Musik, sagte er, sei ganz von ihm geschwunden. Erst bei ihrer Rückkehr hatte er ›den Kopf wieder voller Themen‹ und war ganz erfüllt von seinem Schaffen und den sich ihm selbst dabei offenbarenden tiefsten und geheimsten Wundern. Nun entstand jener zarte Übergang vom ›Karfreitagszauber‹ zur nächstfolgenden Episode, wenn Kundry mit dem Thema der ›Blumenklage‹ langsam wieder das Haupt erhebt und feuchten Auges, ernst und ruhig bittend zu Parsifal aufblickt, das: ›ich sah sie welken, die einst mir lachten‹ bis zu dem innig ergreifenden, seelenschmelzenden ›Du weinest – sieh', es lacht die Aue!‹ – jene Stelle, welche er selbst die ›Elegie‹ nannte, den Vorgang in Parsifals Seele, wo er noch einmal ›ganz Mensch ist, bevor er König wird‹. Und dann das wundervoll feierliche Herübertönen der Glocken aus der Ferne, wobei er den eintretenden 6/4-Takt auf das Lauschen Parsifals und Gurnemanz' deutete. Zu den Akkorden, bei denen Parsifal der Gralsrittermantel umgelegt wird, und er den Speer aus dem Boden zieht, bemerkte er, wie hier eine furchtbare Veränderung mit ihm vor sich gehe, – alles sei damit abgeschlossen. Nur wenige Tage verweilte er bei der Übertragung des fertig Geschaffenen in die letzte Ausarbeitung in Tintenschrift; dann wurde einmal abends der ganze Karfreitagszauber bis zu den Glocken am Klavier durchgegangen und die Verwandlungsmusik mit der Aussicht vorgenommen, das ganze erhabene Werk an einem recht schönen Frühlingstage zu vollenden. ›Wenn ich etwas fertig habe in meiner Arbeit‹, sagte er, ›dann frage ich mich: wird das Nächste mir gelingen?‹

Es war Zeit, daß der Bayreuther Winter diesem Frühling endlich den Eintritt vergönnte. Denn bei der vorherrschend rauhen und unfreundlichen Witterung hatte der Meister seine Spaziergänge fast einzig im Hofgarten gemacht, der nun schließlich nach seiner eigenen Aussage (vgl. S. 15) für ihn [183] ›mit Parsifal ganz verwoben war‹. Als er einmal im Februar trotz winterlichen Schneegestöbers seine schöne Neufundländerhündin Brange mit sich nahm, rührte sie ihn da durch, daß sie, nachdem sie anfangs aus eigenem Antrieb freudig ihm nachgesprungen war, zu ihren neugeborenen Jungen zurückverlangte. Aber zu größeren Spaziergängen, die ihm so sehr Bedürfnis waren, wollte selbst der März sich kaum eignen. Wiederholt klagte er in dieser ganzen Zeit über Brustbeklemmungen, und der Plan, den nächstfolgenden Winter nicht hier, sondern im sonnigen Italien, am liebsten in Neapel zu verbringen, nahm während dieser Monate eine immer greifbarere Gestalt an. Gute Nächte mit stärkendem Schlaf wechselten mit desto übleren, unruhig schlaflosen, oder solchen, in denen schlimme Träume ihn mit mancherlei Beängstigungen bedrückten. Einige kurze Sitzungen mit Jäger, in denen er die Siegfried-Szenen der ›Götterdämmerung‹ mit ihm durchnahm, empfand er als unverhältnismäßig angreifend; Indigestionen stellten sich selbst bei geringen Anlässen ein. Somit ging er darauf aus, sich für den kommenden Winter schon zeitig einen passenden Aufenthalt zu sichern, und trat mit Professor Schrön in Neapel in vorläufige Beziehungen. Ließen die Brustbeklemmungen nach und war das Allgemeinbefinden ein besseres, so wich auch der Gedanke an den Süden gegen die vorherrschende Freude an Heimat und Häuslichkeit zurück. Aber des beständig rauhen Bayreuther Klimas war er unter diesen Umständen doch recht überdrüssig geworden. Ein von Neapel her ein getroffener Plan der schöngelegenen säulengeschmückten Villa Angri auf der Höhe des Posilips bewirkte, daß viel über Neapel und diese prächtige Villa gesprochen wurde.

Für sein Verhältnis zur äußeren Welt empfand er es als charakteristisch, daß bald nach seiner Weihnachtsaufführung der Frankfurter Wagnerverein sich an ihn mit der Anfrage wandte, ob ihm der Meister das ›Parsifal‹-Vorspiel zur Aufführung anvertrauen wollte! Nichts konnte ihn mehr verstimmen, als eine derartige Zumutung von sonst befreundeter Seite. Niemand hätte davon erfahren sollen, rief er aus, daß er es hier aufgeführt; so wenig ginge sie dieser ganz interne häuslich-persönliche Vorgang an. Einen nicht wesentlich verschiedenen Eindruck machte ein Brief von Nietzsches Schwester an Frau Wagner mit Erkundigungen nach seinem Wohlergehen, der zugleich die Versicherung enthielt, wie sehr es ihren Bruder nach der bevorstehenden Aufführung des ›Parsifal‹ verlange:58 ›die glauben nun‹, sagte [184] er, ›daß ich nichts anderes im Sinne habe, als wieder eine solche Aufführung zustandezubringen‹, – – während er eher nur darauf sann, wie er ihr entgehen könnte! Dagegen vermeinte er mit seinem, im Dezemberstücke der ›Bayreuther Blätter‹ erschienenen ›Rückblick auf die Bühnenfestspiele des Jahres 1876‹ der befreundeten Mitwelt etwas Ernstes, Bedeutendes gesagt zu haben. Vorsätzlich hatte er, so sehr die Darstellung seines Werkes hinter seinen Wünschen und Erwartungen zurückgeblieben war, einen jeden persönlichen Tadel nach irgendeiner Richtung darin gleichmäßig unterdrückt, im Gegenteil das Außerordentliche der einzelnen Leistungen mit einer Unbedingtheit der Anerkennung hervorgehoben, wie sie unmittelbar seinem großen Herzen und der Wärme seiner Empfindung entsprang. Da war es ihm nun auffällig genug, daß nicht Einer aus dem gesamten darin namentlich erwähnten Künstlerkreise auch nur mit einem Wort der Sympathie, des Dankes, sich darüber hatte vernehmen lassen. Bloß der König hatte sich brieflich darüber geäußert, und zwar mit so ausdrucksvoller Bestimmtheit, daß der Meister seine schönen Worte über dieses Schriftstück nur mit denjenigen Liszts über das Siegfried-Idyll vergleichen konnte. Lebhaft erfreute er sich an Wolzogens einführendem Artikel ›zum neuen Jahr‹. ›Das ist wirklich mein Adept‹, sagte er, und wünschte sich nun nur noch einen ›Musiker‹ dazu, der ihn ebenso wohl verstünde. In seinen Gesprächen mit Rubinstein, dem er gern eine entsprechende Aufgabe für die ›Blätter‹ gestellt hätte, kam er vorzugsweise auf die Plastik bei Beethoven zu sprechen, diese sei das eigentliche Merkmal seiner Schöpfungen, noch mehr als die Rhythmik, auf die ihn einst sein Lehrer Weinlig besonders hingewiesen habe. ›Untersuchen wir ihn in der Fülle seines neuernden Schaffens näher, so müssen wir erkennen, daß er den Charakter der selbständigen Instrumental-Musik ein für alle Male durch die plastischen Schranken festgestellt hat, über welche selbst dieser ungestüme Genius nie sich hinwegsetzte. Bemühen wir uns nun, diese Schranken nicht als Beschränkung, sondern als Bedingungen des Beethovenschen Kunstwerkes zu erkennen und verstehen.‹59 An der Struktur des Symphoniesatzes, wie er sie durch Haydn begründet vorfand, hat Beethoven nichts verändert, wogegen wir bei ihm eine unbesiegbare Kraft zu stets neuer Gestaltung rhythmisch-plastischer Motive und deren Anordnung und Anreihung zu immer reicherem Aufbau wahrnehmen. Die hier angedeuteten und verwandte Gedanken hat Rubinstein zwei Jahre später in nicht unbedeutender Weise in seinem für die ›Bayreuther Blätter‹ verfaßten Aufsatz ›Symphonie und Drama‹ im Sinne des Meisters durchgeführt. Nach langer Unterbrechung in den gemeinschaftlichen Bachstudien wurde nun auch der zweite Teil des ›Wohltemperierten [185] Klaviers‹ wieder vorgenommen. Von der siebenten Fuge sagte er: da sei die Gräfin und Figaro schon völlig darin enthalten. Immer wieder betonte er, wie diese Werke von Bach für sich selbst geschaffen seien und wie seicht einem dagegen die Musik für andere vorkäme, wie sie die Nachfolger, besonders aus der italienischen Virtuosenschule, in der Sonate ausbildeten (vgl. S. 76): ›freilich ist dann auch etwas Schönes daraus geworden; aber dies hier ist die Geburtsstätte‹. ›Bach arbeitet nur für sich und denkt an kein Publikum; nur manchmal ist's, als spiele er seiner Frau etwas vor: das sei dann ein förmlicher Übergang zur neueren Zeit; da ahnt man diese neue Zeit, sie steckt schon ganz in ihm verschlossen.‹ Diese Bemerkung galt der Nr. 12 des zweiten Teiles, doch unterließ er nicht hinzuzufügen: ›es ist unrecht so zu scheiden; er ist ein in sich Vollkommenes, Unvergleichliches‹.60 ›Das ist, wie die unverständige und unverstehbare Natur, das ist auch die unendliche Melodie!‹ rief er bei der 14.(Fis moll). ›Das war seine Sprache; im Leben hat er gewiß nur Not und Ärger gehabt und sicherlich nie ein geistvolles Wort gesprochen; in der Musik aber – da erging er sich!‹ Das Thema der 17. Fuge sang er oft für sich und wünschte sie heiter, als Rondo, wiedergegeben. Die B dur-Fuge nannte er die ›bittende‹ und sang dazu mit einer bittenden Gebärde die Worte: ›sei mir nicht mehr böse, sei mir wieder gut!‹ Das letzte Präludium ließ er in raschem Tempo, sehr passioniert spielen; er fände es höchst merkwürdig, daß Bach so schlösse: die ganze Sonate der Zukunft sei darin enthalten. In ›Tristan und Isolde‹ könne man es nicht besser machen, fügte er bei einer bestimmten Stelle hinzu. Auch die Motette ›Singet dem Herrn‹ wurde mit Dresdener Erinnerungen61 vorgenommen; und das Präludium der Orgelfuge in H moll entzückte ihn: man könne kaum Mozart darauf hören, der noch so viele Leeren habe;62 nur Beethoven, der diese fatalen Zwischensätze gänzlich habe verschwinden lassen.63 ›Bach ist der Abschluß der mittelalterlichen Welt: Wolfram, die Mystiker, A. Dürer, Luther; – von da beginnt eine ganz neue Welt, die der Sonate, der Arie, welche nun auch ihrerseits Großes hervorgebracht.‹ Auch rühmte er gegen Rubinstein Bülows Tondichtung ›Nirwana‹ und empfahl sie ihm zur Ansicht.

Es kann hier nicht unsere Absicht sein, eine förmliche Aufzählung derjenigen musikalischen Anregungen zu machen, die der Meister in dieser Periode sich und den Seinen bereitete und zu denen die Anwesenheit Rubinsteins, als eines tüchtigen Klavierspielers, wohl gelegentlich auch des Münchener Quartettes Veranlassung gab. Nachdem einmal von ›Figaros Hochzeit‹ das erste Finale vorgenommen war (S. 179), wurde an anderen Abenden [186] auch der ganze erste Akt davon nachgeholt und das ganze Werk bis zum Schluß durchgegangen, unter beständigen mündlichen Auslassungen seinerseits, als ebensovielen Enthüllungen der Geheimnisse der göttlichen Kunst Mozarts. Einmal verfiel Rubinstein darauf, die Ouvertüre zum ›Liebesverbot‹ zu spielen, in welcher das ›Verbot‹- Thema mit seiner seelenlos starren gesetzlichen Strenge dramatisch als sehr bedeutend empfunden wurde. Als unter den Anwesenden jemand der Ouvertüre zu den ›Feen‹ den Vorzug gab, erklärte der Meister, die zum ›Liebesverbot‹ wäre aber doch genialer. Er blätterte dann in der Partitur, fand aber, mit Ausnahme des, im ›Tannhäuser‹ wiederkehrenden ›Salve regina coeli64 alles ›schauderhaft‹. Instrumentiert wäre es gut, ›das habe ich im Mutterleib gekonnt‹, in der Ouvertüre habe alles gehagelt und gekracht. Noch am folgenden Tage kam er auf das Jugendwerk zurück; er sei erstaunt gewesen, wie schlecht es sei: ›welche Phasen man durchmacht! Man kann kaum glauben, daß man derselbe Mensch von damals sei‹.65 Im Anschluß daran nahm er Rossinis ›Othello‹ vor, die Musik des zweiten Aktes, wie Rodrigo sich entfernt und die darauf folgende flehende Arie der Desdemona, und sprach von dem Eindruck, den das machte, während die ›Euryanthe‹ immer steif und verfehlt erschien, trotz der himmlischen Musik. ›Die Schröder-Devrient mußte sich mit solchen italienischen Dingen behelfen;66 denn mit den Marschnerschen Seichtigkeiten: »laßt den Schleier mir, ich bitte« – mit denen konnte sie nichts anfangen. Vor allem muß das zugrundeliegende Theaterstück etwas taugen. Was man nun alles in einem solchen Theaterstück bringt, das ist eben die Sache; aber die Basis ist und bleibt es, das fühlte ich von je; deshalb war mir in jener frühen Periode die »Euryanthe« so unverständlich.‹67 Anläßlich einer Äußerung Rubinsteins, daß ihm ›Tannhäuser‹ und ›Lohengrin‹ einst – als Schüler des Wiener Konservatoriums – keinen Eindruck gemacht, sprach er sehr bewegt von der inneren Einsamkeit eines solchen armen Wesens, dem erst der Verstand zu dem Gefühl dieser Werke habe verhelfen müssen. Das mache ihm Rubinstein interessant, daß er trotz der Kluft, die einen von einem solchen Menschen trenne, doch wieder zu ihm habe zurückkehren müssen. Am Schluß des Gespräches sagte er mild zu ihm: ›Wir suchen uns ein Phänomen zu erklären; es ist nicht Abneigung, sondern Zuneigung, was uns zu dessen Erforschung treibt. Das halten Sie wohl wieder für Tusch‹, schloß er scherzhaft ab. So bezeichnete er es ein anderes Mal gegen seine Gattin als eine ergreifende Erscheinung, als er Rubinstein mit dem eben anwesenden Levi am Flügel in [187] den ›Parsifal‹ vertieft sah, den einen spielend, ja selbst den Gesang markierend, den anderen in voller Selbstvergessenheit ihm folgend. Daß Levi sein Dirigent für den ›Parsifal‹ sein würde, stand äußerlich schon durch die Verfügung des Königs in betreff des Münchener Personales (S. 43 Anm.) fest; somit erfreute ihn dessen, durch seine wiederholten Besuche bekundete Zuneigung. ›Was ich Ihnen zu sagen habe‹, schrieb er ihm deshalb ein mal, ›wird nicht viel heißen, es wäre denn, daß der Ausdruck meiner großen Freude über Sie für Etwas gelten könnte. Mit dieser Schätzung meiner »Freude« möchte ich nicht für anmaßend gehalten werden, als ob es einen Wert hätte, wenn ich mich freue; hier liegen aber ernste und tiefe Geheimnisse zugrunde, und wer sie vollständig sich an das Licht der Vernunft brächte, würde z.B. in meiner »Freude über Sie« einen guten Anhalt für eine Konstruktion zukünftiger Gestaltungen der menschlichen Dinge gewinnen, unter deren edler Harmonie uns gereinigt wiederzufinden uns beiden nicht ganz untröstlich dünken müßte.‹68 Im Anschluß an diese, von ihm selbst humoristisch als ›Sozial-Metaphysik‹ bezeichneten Zeilen vom 27. Februar 1879 sandte er ihm, wie bereits erwähnt (S. 181), die Blumenaue-Melodie mit der Bezeichnung ›Feld- und Wiesenmusik‹.

Während die Verhandlungen über die Villa Angri durch die damit verknüpften hohen Forderungen immer problematischer wurden, wuchs die Sehnsucht nach dem Süden unter dem beständigen rauhen Wind und den für ihn daraus entstehenden Beschwerden: Husten und Brustbeklemmungen. Bis in den Monat April hinein herrschte das schlimmste Wetter mit Schnee, Regen und Kälte, über allem ein ewig grauer Himmel, – so daß Dr. Landgraf bereits einen etwa vierwöchigen italienischen Aufenthalt als bloße Episode in Vorschlag brachte, wovon der Schaffende gerade jetzt, da er im Begriff stand seine Arbeit zu vollenden, nichts wissen wollte Dagegen erfreute in dieser vegetationslosen, rauhen und grauen Periode eine liebevolle Blumensendung des königlichen Freundes um die Osterzeit, von schönen sinnigen Grußworten begleitet. Die Kinder traten, alle ganze Massen von Blumen tragend, in das Zimmer, und der Meister sprach ihm dafür – am Ostersonntag, 13. April – in einer sinnigen Depesche seinen Dank aus:


Es zwang ein König die Natur trotz Frost und rauhen Lüften

zu holder Blut' auf Berges Flur und lieblich zarten Düften!

Dem dankt nun Wahnfried alt und jung

am Fest der Heilsverkündigung

Und blickt mit frohen Sinnen nach Monsalvates Zinnen!69


In dieser farb- und lichtlosen Zeit, in welcher der erwartete ›schöne Frühlingstag‹ für den Abschluß seines Werkes sich nicht einstellen wollte und [188] auch – außer den königlichen Blumen – keine Vorboten, keinen hellen Sonnenstrahl, kein Blühen und Gedeihen im Garten des Hauses entsandte, schritt dennoch die einzig beglückende Arbeit mit geringen Unterbrechungen stetig weiter fort. Noch im März war, im Anschluß an die erschütternde Wucht der Verwandlungsmusik, die Totenklage um Titurel mit ihren gewaltigen Wechselgesängen entstanden. Am 24. März spielte der Meister aus seinen neuen Skizzenblättern jene düster erhabenen, aus feierlichen Trauerklängen mit unaufhaltsamem Fortschreiten zu furchtbarer Anklage sich steigernden Responsorien bis zum ersten leidensmatten ›Wehe‹ des Amfortas. Die Enthüllung der Leiche Titurels, Amfortas' Anruf an den ›hochgesegneten der Helden‹, sein inbrünstiges Flehen um den Tod als das ersehnte Ende seiner Qualen, das Andrängen der Ritter mit ihrer ungestümen Forderung, seine wild leidenschaftliche Weigerung, aus der beginnenden Todesumnachtung noch einmal ins Leben zurückzukehren, Parsifals Erscheinen mit dem Speer, die Heilung des sündigen Königs, die ›Erlösung des Erlösers‹ – lauter innere Erlebnisse des schaffenden Künstlers, deren wir hier nur gedenken können, um es dem Leser zu überlassen, die inneren Geistes- und Seelenvorgänge ihrer Entstehung sich auszumalen. Wir haben hier keine näher eingehenden Züge hinzuzufügen. ›Kinder‹, sagte er einmal bei Tisch, ›so sieht Einer aus, der eine letzte Oper schreibt.‹ Und wiederum: ›Parsifal‹ sei sein letztes Werk; in hohem Alter werde er dann noch die ›Sieger‹ dichten: ›die möge dann Fidi komponieren‹.

Am 26. April war die musikalische Ausführung des Weihefestspieles beendet; noch volle zwei Jahre sollten dahinfließen, bis es auf der Bühne des Festspielhauses seiner szenischen Erscheinung entgegenging.

Fußnoten

1 Band V des vorliegenden Werkes. S. 11/12.


2 ›Leipziger Illustrierte Zeitung‹ Nr. 3446 vom 15. Juli 1909.


3 Vgl. Band IV des vorliegenden Werkes, S. 28. 440/41.


4 Diese scherzhafte Mitteilung stammt noch aus der Zeit von Malwidas Besuch und knüpfte daran an, daß er ungern französisch schriebe.


5 Die gleiche, und noch eingehendere, Mühe gab er sich (19. Dezember) mit einer Wiener Sängerin, Frl. Steinbach, welche ihm in Wahnfried die ›Träume‹ und Liszts ›Es muß ein Wunderbares sein‹ in der üblichen Weise vortrug und der er nun lehrte, wie sie beide Lieder, und zwar immer mit langem Atem, singen sollte und deren Leistung alsbald, unter seinen Händen, eine von Grund aus andere wurde.


6 Vgl. die an diese Sängerin gerichteten brieflichen Worte der Anerkennung in einem undatierten Brief aus dem Jahre 1861: ›Sie haben mich vollständig entzückt! Das Andante der letzten Arie (der Donna Anna) war das Vollkommenste, was ich bisher noch von Gesang gehört habe, und als Sie mit demselben Atem wieder auf das Thema zurückgingen, dieses mit vollem Ausdrucke noch zur Hälfte auf derselben Respiration sangen, konnte ich mich vor schönem Erstaunen kaum halten‹ (Vgl. Band III des vorl. Werkes, S. 324.)


7 Er verwies hierbei als Beispiel auf das ›der diese Liebe mir ins Herz gehaucht‹ in der ›Walküre‹.


8 ›Richard Wagner an seine Künstler‹, S. 293/94 (herausgegeben durch Erich Kloss.).


9 In Triest gelangte am 19. November 1878 der ›Tannhäuser‹ zur ersten Aufführung.


10 Band I des vorliegenden Werkes, S. 183 ff.


11 Band V des vorl. Werkes, S. 223/24.


12 Das Original dieses, hier nur in Verkürzung wiedergegebenen Schreibens befindet sich in der reichhaltigen Wagner-Autographen Sammlung des Herrn Regierungsrats Dr. Heinrich Steger in Wien; in seinem vollen Wort laut abgedruckt wurde es zuletzt in der ›Wiener N. fr. Presse‹ vom 15. Februar 1909 (›Richard Wagner und die »Striche«‹, von Heinr. Steger). Ein vollständiges Verzeichnis der damaligen Wiener ›Striche‹ gab E. K(astner) in der ›Allg. D. Musikzeitung‹ 1878, S. 392.


13 Die ›Götterdämmerung‹ erfolgte am 25. März 1879.


14 ›Die Gewandtheit mit Pferden und Segeln umzugehen, welche wohl auf Vogls Landsitz am Starnberger See erlangt worden war, kam beiden Darstellern sehr zu statten‹, hieß es in einer Münchener Korrespondenz!


15 Vgl. S. 43 des vorliegenden Bandes, Anmerkung.


16 ›Bayreuther Blätter‹ 1879, S. 128 (Ges. Schr. X, S. 169).


17 William Edward Hartpole Lecky, ›Sittengeschichte Europas von, Augustus bis auf Karl den Großen‹, deutsch von H. Jolowicz, 2 Bände. Die zweite, von F. Löwe durchgesehene Auflage war damals (mit der vorgreifenden Jahreszahl 1879) soeben erschienen


18 Auch dieser Gedanke leitet auf den Aufsatz ›Wollen wir hoffen?‹ hin, vgl. ›Bayreuther Blätter‹, 1879, S. 125, und Gesammelte Schriften X, S. 165.


19 Band III des vorliegenden Werkes, S. 39/40.


20 ›Bayreuther Blätter‹, 1878, S. 344 (Gesammelte Schriften X, S. 145).


21 Vgl. Gesammelte Schriften V, S. 177.


22 Schopenhauer, ›die Welt als Wille und Vorstellung‹ II, S. 725 der Frauenstädtschen Ausgabe


23 Band I des vorliegenden Werkes, S. 142.


24 Vgl. Band I des vorliegenden Werkes, S. 114/15.


25 Hierher gehören die durch Wolzogen aufbewahrten Reflexionen über die ›spezifisch deutsche Themenbildung‹ bei Bach und Beethoven. ›Viele Themen unserer Meisterwerke erscheinen an sich allein, musikalisch betrachtet, fast bedeutungslos. Wie sie durch die charakteristische Sprache der Instrumente zur vollen Bedeutung erhoben werden können, dies wäre vielleicht am besten durch Unterlegung wirklicher Worte anzuzeigen, wie etwa im ersten Hauptthema der C moll-Symphonie durch die Worte: »Es muß geschehn.« Auch für Bachs Fugenthema paßt dies, und ist mir besonders dadurch eindrücklich klar geworden, als ich die Wirkung seiner Themen in den Motetten durch die dort untergelegten Gesangsworte erfuhr. Durchzuführen wäre dieser Gedanke allerdings nicht, aber es bleibt eine, wie mich dünkt, wahre Empfindung, daß die großen Meister in ihren erhabensten Schöpfungen bereits eine Sprache geahnt, in ihren Motiven eine Art von Rede angewendet und in Tönen ausgedrückt haben.‹ (Wolzogen, ›Erinnerungen‹, S. 27).


26 Ebendaselbst.


27 Vgl. den hierauf bezüglichen Brief des Meisters an Konzertmeister Friedhold Fleischhauer vom 16. Dezember 1878 in Erich Kloss' Briefsammlung ›Richard Wagner an seine Künstler‹, S. 298/300.


28 Vgl. den ebenerwähnten Brief, worin es dementsprechend heißt: ›vielleicht auch (wenn wir Zeit haben) Ouvertüre zum Freischütz – und (??) Egmont‹.


29 Gesammelte Schriften Bd. VIII, S. 377/78.


30 ›Bayreuther Blätter‹, 1900, S. 307.


31 ›Bayreuther Blätter‹, 1878, 3. Stück, S. 66 (›wie alles sich zum Ganzen webt‹ usw.).


32 Vgl. die verwandte Äußerung Band III des vorl. Werkes, S. 430, nebst S. 279.


33 Vgl. Band III des vorl. Werkes, S. 377.


34 ›Dies war bisher die von den bildenden Künsten und den Dichtern ausgehende Auffassung der Musik als einer Kunst, welche alles Tiefe, Energische, Leidenschaftliche in zierlichen Formen ausgleicht und in Anmut auflöst, und diese Auffassung ward unterstützt durch die mathematische Form der Musik, besonders durch die an Palladios Architektur erinnernde Quadratur, wobei es immer bei dem Ausrufe bleibt: welch Schauspiel! aber ach, ein Schauspiel nur! – Da kam Beethoven!‹ (H. v. Wolzogen, ›Erinnerungen an Richard Wagner‹, S. 24/25.)


35 Nur Weniges von dem bei solchen Anlässen ausführlich Mitgeteilten ist in seine schriftlichen Mitteilungen übergegangen; in bezug auf die F dur-Symphonie vgl. den, dieser gewidmeten Artikel der ›Wagner-Enzyklopädie‹, Band I, S. 74/76.


36 Vgl. Ges. Schr X, S. 173 ›Wir könnten mit Hilfe aller uns verwandten germanischen Stämme die ganze Welt mit unseren eigentümlichen Kulturschöpfungen durchdringen, ohne jemals Weltherrscher zu werden. Die Benützung unserer letzten Siege über die Franzosen beweist dies: Holland, Dänemark, Schweden, die Schweiz – keines von diesen bezeigt Furcht vor unserer Herrschergröße, trotzdem ein Napoleon I., nach solchen vorangegangenen Erfolgen, sie leicht dem »Reiche« unterworfen hätte; diese Nachbarn innig uns zu verbinden, haben wir leider aber auch versäumt, und nun machte uns kürzlich ein englischer Jude das Gesetz. Große Politiker, so scheint es, werden wir nie sein; aber vielleicht etwas viel Größeres, wenn wir unsere Anlagen richtig ermessen‹ usw.


37 Vgl. S. 115 des vorl. Bandes.


38 Damit war Dr. Jenkins gemeint, wiewohl dieser nach seinen eigenen Angaben nicht buchstäblich englischer, sondern walisischer Abstammung war. Er rühmte sich dessen, daß seine Vorfahren aus der Provinz Wales stammten: dort habe es einen kunstliebenden Waliserkonig Jen gegeben, und die Jenkeens seien seine Leute gewesen.


39 Ges. Schr. X, S. 173


40 Ges. Schr. X, S. 165.


41 Brieflich an M. v. Meysenbug, 22. Juni 1860: ›Plutarch bot mir auch jetzt die nötige Zerstreuung. Ich hatte mit großem Eindruck wieder Timoleons Leben gelesen: dieses hat die ganz unerhört seltsame Bedeutung, daß es wirklich vollkommen glücklich zu Ende geht, ein ganz ausnahmsweiser Fall in der Geschichte. Es tut einem wirklich wohl zu sehen, daß so etwas einmal möglich war, ich kann mich aber, im Hinblick auf alles Edle, nicht erwehren, solch einen Fall vom Weltendämon eigentlich nur als Lockvogel aufgestellt zu erkennen‹ usw. (›Cosmopolis‹ 1896, August, S. 560).


42 Die Erwähnungen Plutarchs gehen durch das ganze Leckysche Buch: seine Methode der Sittenlehre (S. 157), die praktische Natur seiner Philosophie (S. 293), seine Schrift über den Aberglauben (S. 286), die Grundlage seines Unsterblichkeitsglaubens (S. 184), sein Brief über den Tod seiner Tochter (S. 210), Schilderung des griechischen Ehelebens (S. 644) und der häuslichen Sittlichkeit (S. 364), seine Milde gegen die Tiere (S. 537. 538), Verdammung der Tierhetzen (S. 257), seine Vorstellungen hinsichtlich der Seelenwanderung (S. 539), Nichterwähnung des Christentums (S. 300), seine Philosophie und Schreibart im Vergleich zu denen Senecas (S. 219/20) usw. Sämtliche Zitate nach der 3. Auflage vom Jahre 1904.


43 Ges. Schr. X, S. 264.


44 Ebendaselbst, S. 166.


45 Nikias v. Athen, Maler in enkaustischen Farben, vielbewundert wegen der Lebendigkeit seiner Phantasie, durch Beleuchtung, Haltung, Rundung seiner Figuren, am berühmtesten durch sein ›Schattenreich‹ (nach Homer), auch als Tier- und Schlachtenmaler. Von ihm berichtet Plutarch, er sei so sehr in seine Arbeiten vertieft gewesen, daß er oft seine Hausgenossen fragte, ob er schon gebadet und gefrühstückt habe (in der Abhandlung: Ob ein Greis die Verwaltung eines Staates führen könne?).


46 Plutarch, ebendaselbst.


47 ›Man lese Plutarchs schöne Abhandlung »über die Vernunft der Land- und Seetiere«, um sich, zartsinnig belehrt, zu den Ansichten unserer Gelehrten usw. voll Beschämung zurückzuwenden‹ (Ges. Schr. X, S. 262). Auch der ebendaselbst S. 266 mit Anführungszeichen, aber ohne Nennung des Autors, zitierte Passus: das Tier ›kenne keine Bitten, kein Flehen um Gnade, kein Bekenntnis des Besiegtseins‹ ist Plutarch entnommen, nämlich dem gleich zu erwähnenden ›Gryllus‹.


48 Ebendaselbst, S. 264.


49 Ebendaselbst, S. 312, wo von den Schweinen die Rede ist, welche, auf den Rücken gelegt, durch den überraschenden Anblick des Himmels, den sie nie gesehen, sofort zu staunendem Schweigen gebracht werden (vgl. ›Tischreden‹ IV. Buch, Kap. V).


50 Bekanntlich ist in dem so überschriebenen Dialog der ›Schutzgeist des Sokrates‹ eine bloße Episode; seinen Hauptinhalt bildet vielmehr die novellistisch ausgeführte Erzählung über die Befreiung Thebens von der spartanischen Willkürherrschaft und die Ermordung der oligarchischen Parteihäupter Archias und Leontides.


51 Band V des vorliegenden Werkes, S. 152.


52 Vgl. Wolzogen, ›Erinnerungen‹, S. 24 der Reclamschen Ausgabe, und auch Gesammelte Schriften X, S. 205.


53 Vgl. Band III des vorl. Werkes, S. 111.


54 Bern, R. Costenoble, 2. Aufl. 1879.


55 Auch die Betrachtungen über Lessing auf S. 18/20 der Marrschen Schrift fanden seinen vollen Beifall.


56 Vgl. Band III des vorl. Werkes, S. 57: ›Brünnhilde schläft! – Ich – wache leider noch!‹ – oder ebendaselbst, S. 151: ›Ich habe meinen Siegfried noch in die schöne Waldeinsamkeit geleitet; dort hab' ich ihn unter der Linde gelassen‹ usw.


57 ›Richard Wagner an seine Künstler‹, S. 301/02.


58 Von diesem Briefe spricht die Schreiberin desselben späterhin mit den erläuternden Worten: ›Da es mich betrübte meinen Bruder so leiden zu sehen und ich damals die Notwendigkeit einer Trennung von Wagner nicht begriff, so machte ich im Februar 1879 einen schwächlichen Versuch, Wagner und meinen Bruder wieder zu versöhnen‹ (Leben Nietzsches II, 312). Aber sie teilt an derselben Stelle auch die ihr zuteil gewordene hochbedeutende, allessagende Antwort mit, bei liebevollstem Eingehen auf alles Persönliche doch von hoffnungsloser Ablehnung der Irrwege und krankhaften Anmaßungen des unglücklichen Buches durchdrungen.


59 Gesammelte Schriften X, S. 232.


60 Vgl. Wolzogen, ›Erinnerungen‹, S. 26.


61 Band II des vorliegenden Werkes, S. 258.


62 Gesammelte Schriften VII, S. 168.


63 Ebendaselbst.


64 Band I des vorl. Werkes, S. 213/14.


65 Vgl. das Zitat aus Schopenhauer auf S. 122 dieses vorl. Bandes!


66 Band I des vorl. Werkes, S. 200/01. 229.


67 Es ist die Periode gemeint, in welcher nicht allein das ›Liebesverbot‹, sondern auch der Aufsatz über ›die deutsche Oper‹ entstand, worin sich ein Passus ausdrücklich gegen die ›Euryanthe‹ richtet.


68 ›Richard Wagner an seine Künstler‹, S. 301.


69 Richard Wagner, ›Gedichte‹, S. 133.


Quelle:
Glasenapp, Carl Friedrich: Das Leben Richard Wagners in 6 Büchern. Band 6, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1905, S. 149-190.
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