VII.

[259] Daß Brahms den Entschluß gefaßt hatte, sich dauernd in Düsseldorf niederzulassen und hier eine erwünschte Wendung seines Schicksals abzuwarten, die ihn den engen und drückenden Verhältnissen entreißen sollte, steht fest. Denn er gab Auftrag, was noch von seinen Büchern im Elternhause lag, ihm nach Düsseldorf zu schicken. Sein Zimmer war vollgepfropft mit musikalischer und schönwissenschaftlicher Literatur, und seine Bekannten benutzten diesen antiquarischen Schatz als Leihbibliothek. Ein Verzeichnis von Personen und Werken, die jene von ihm borgten, ist noch vorhanden. So liberal er im Verleihen von Büchern war, so genau hielt er auf Ordnung und Pünktlichkeit, und er konnte sehr ungemütlich werden, wenn ihm etwas nicht rechtzeitig wiedergegeben wurde. Was er zurückerhielt, durchstrich er sofort auf seiner Liste. Professor Otto Jahn entlieh im April 1856 von ihm Originalausgaben von Reinhard Keiser, dem alten Hamburger Opernkomponisten, Friedemann, Philipp Emanuel und Sebastian Bach. Die Remittenda sind noch offen, und es ist nicht unwahrscheinlich, daß Brahms deswegen mit dem berühmten Gelehrten nach kaum erfolgter Annäherung nun seinerseits wieder gründlich auseinander kam. Von Ankäufen der damaligen Zeit notierte er Grimms Deutsche Sagen, Simrocks Heldenbuch, Gudrun und Nibelungen, Herders und Lichtenbergs sämtliche Werke, Herodot, Cervantes u.a.

Mit Joachim wurde setzt auf Brahms' Vorschlag eine Talerkassa gegründet, welche die Fonds für Bücherankäufe in sich aufnehmen sollte. Die Beiträge dazu aber sollten aus Strafgeldern eingebracht werden, die immer derjenige von ihnen zahlen mußte, der mit kontrapunktischen Arbeiten im Rückstande blieb. Ja, Brahms empfand das Bedürfnis, als Musiker noch einmal in die Schule zu gehen. Je weiter er in der Kennerschaft vordrang, [259] und je höher die künstlerischen Aufgaben waren, die er sich bei seinen Kompositionen stellte, desto mehr glaubte er die Unzulänglichkeit seiner theoretischen Kenntnisse zu fühlen, desto deutlicher sah er die Notwendigkeit ein, sie durch praktische Übungen zu bereichern und flüssig zu erhalten. Was er bisher komponiert hatte, kam ihm, trotz der Bewunderung eines Schumann, Joachim, Grimm, Dietrich, unbedeutend in der Erfindung, weitschweifig in der Form, überladen im Ausdruck, steif und ungelenk in der Bewegung vor. Er wollte zu einer Freiheit und Sicherheit sich emporarbeiten, wie sie die großen Meister der Vergangenheit, vor allen Sebastian Bach, gehabt hatten. Bei Marxsen war er, seiner Ansicht nach, kaum über die Anfangsgründe hinausgekommen. Eine Hochschule, wo er das hätte lernen können, was ihm zu fehlen schien, gab es nicht und konnte es nicht geben; deshalb sollte der gleichgesinnte, kongeniale Freund sein Lehrer sein, wie er seinerseits wieder des Freundes Berater und Lehrer sein wollte. Schon beim vorjährigen Musikfeste war das Projekt zwischen ihnen besprochen worden, die unruhige Zeit aber hatte die Ausführung vereitelt. Nun nahm Brahms seinen lange gehegten Lieblingsgedanken wieder auf und trieb Joachim mit Feuereifer an, ihn zu verwirklichen. Am 26. Februar, bald nach seiner Ankunft in Düsseldorf, schreibt er dem Freunde, er solle nicht erst mit Worten erwiedern, sondern gleich mit Übungen; in vierzehn Tagen erwarte er die ersten Arbeiten. Ein bequemer Freund war Brahms nicht. Vergebens suchte Joachim, der, mit neuen, größeren Kompositionsplänen im Kopf, sich offenbar nur ungern zu diesen Exerzitien verstand, Brahms für ein Konzert in Hannover zu gewinnen. Schon wieder öffentlich spielen? entgegnete er. Noch dazu im schönsten Frühlinge? Nein, im Herbst will er gern zwei Soireen mit Joachim geben. Jetzt bleibt er bei der Stange. Wenn Joachim noch Lust zu ihrem Studium habe, so sollten einige Bedingungen festgesetzt werden, und er erklärt kurzweg, um den Freund zu zwingen: Alle Sonntage müssen Arbeiten hin und her gehen. Den einen Sonntag werde Joachim, den nächsten er die Arbeiten zurückschicken mit eigenen als Beilagen. Wer den Tag aber versäumte, d.h. nichts schickte, habe statt dessen seinen Taler in die bewußte Kassa zu zahlen, wofür dann der andere sich Bücher kaufen könne. Nur [260] wenn man statt der Arbeit mit einer Komposition aufwarte, sei man entschuldigt. Das solle so lange fortgehen, bis sie beide »recht gescheut« geworden seien. Warum sollten auch, fragt Brahms, ganz vernünftige, ernsthafte Leute sich nicht selbst besser belehren können, und weit schöner als irgend ein Philister es könnte? Es handelte sich dabei um Studien im doppelten Kontrapunkt, Kanons, Fugen, Präludien, Choräle, Variationen u. dgl. Viele Jahre hindurch wurden diese strengen Übungen ziemlich regelmäßig fortgesetzt, und sie sind es, die Brahms zu dem von keinem seiner Zeitgenossen erreichten Meister des musikalischen Satzes gemacht haben, der sich mit Haydn, Mozart und Beethoven in eine Reihe stellen, ja in einigen Gattungen der Musik selbst mit Bach konkurrieren konnte. Sie gaben ihm das unumstößlich sichere Fundament für die erst von ihm wiedererlangte, in schweren Kämpfen erstrittene, durch eine großartige Fülle herrlicher Werke befestigte Unabhängigkeit seiner Kunst, für eine Musik, die nichts anderes ist und sein will als eben Musik.

Im Verlaufe seiner Studien gelangte Brahms auf eigenem Wege zu grundlegenden Gedanken über das Wesen der Tonkunst und die gehörige Anwendung ihrer Mittel, die er zu einem System hätte entwickeln können, wenn es ihm darum zu tun gewesen wäre, zu ästhetisieren und zu philosophieren. Was er früher bloß geahnt und unbewußt ausgeübt hatte, lernte er immer klarer erkennen, immer zweckmäßiger gebrauchen. Das Gesetz der Form wurde nur so lange als Zwang von ihm empfunden, als er sich fürchten mußte, dagegen zu verstoßen; das absolut Gültige durfte nicht mit dem relativ Zulässigen oder Konventionellen verwechselt werden. Er sah ein, daß, wie Schiller sagt, »nur strenge Bestimmtheit der Gedanken zur Leichtigkeit verhilft,« daß ein höherer Zweck nur bei der genauen Kenntnis aller möglichen Mittel zu erreichen ist, und daß diese Mittel nicht erst zu gelegentlichen Proben hervorgesucht werden dürfen, sondern wie aufmerksame Diener immer zur Disposition stehen, sich von selbst anbieten müssen. Die Versuchung, Kunstfertigkeit und Künstlichkeit an Stelle der Kunst treten zu lassen, eine Gefahr, der so viele ausgelernte Professionisten und Artisten verfallen, trat an ihn nicht heran. Bei seinen Kanons fragt er: »Ist es, die Kunst [261] darin ungerechnet, gute Musik? Macht das Künstliche es schöner und wertvoller?« und er lobt einen Joachimschen Kanon, indem er sagt: »Schon einstimmig gespielt mit der Harmonie macht die Melodie Freude, und die Nachahmung verschönert nur.« (Brief vom 27. April 1856.) An anderer Stelle schreibt er: »Ich mache manchmal Betrachtungen über die Variationenform und finde, sie müßten strenger, reiner gehalten werden. Die Alten behielten durchweg den Baß des Themas, ihr eigentliches Thema, streng bei. Bei Beethoven ist die Melodie, Harmonie und der Rhythmus so schön variiert. Ich muß aber manchmal finden, daß Neuere (wir beide!) mehr – ich weiß den rechten Ausdruck nicht – über dem Thema wühlen. Wir behalten oft die Melodie ängstlich bei, aber behandeln sie nicht frei, schaffen eigentlich nichts Neues daraus, sondern beladen sie nur. Aber die Melodie ist deshalb gar nicht zu erkennen.« Hier hören wir schon den Meister der Händel-Variationen sprechen. Als deren Vorläufer sind die elf Klaviervariationen über ein eigenes Thema zu betrachten, die erst sechs Jahre später als op. 21 Nr. 1 erschienen, aber im Frühjahr 1866 komponiert worden sind. Sie überragen die Nr. 2 desselben Opus bei weitem. Von diesem oder einem dritten Variationenwerke meint Brahms in seinem Begleitschreiben an Joachim: sie taugten wohl nicht viel; aus dem Thema könne vielleicht noch Besseres kommen. Absonderlich im Finale tobe wohl bloß ein ungezogener Junge, und er möchte eigentlich gern wie ein Geselle schon ordentlicher bilden, nicht toben, wie manchmal in den Sonaten. Diese Bemerkungen würden auf die Variationen über das ungarische Thema passen, die aber noch aus den Zeiten Reményis stammen. Möglicherweise hat sie Brahms 1856 überarbeitet. Dem widerspricht nicht direkt, daß er von dem Variationenwerke schreibt: »Sie ist eben gebacken, die neue Bemme.« Ein andermal wirst er die Frage auf: »Muß man nicht dahin kommen, auch das Tiefsinnigste schön und dem künstlerischen Ohre angenehm auszusprechen?« Da liegt's. Wenn der Tiefsinn allein das Kunstwerk ausmachte, so wäre mancher kontrapunktische Grübler, verzwickte Harmoniker und geistreiche Formalist ein großer Künstler.

Von seinen Übungen, zu denen diese Variationenwerke nur beziehungsweise gerechnet werden dürfen, hat Brahms einen großen [262] Berg beschriebenen Notenpapiers aufgetürmt, der wie viele andere seiner Kompositionsversuche bei einem Autodafé in Hamburg verbrannt worden ist. Verhältnismäßig wenig fand bei der strengen Ausmusterung, die er zu Beginn der Achtzigerjahre abhielt, als seine Stiefmutter nach Pinneberg zog, Gnade vor seinen Augen. Lebendige Zeugen dieser unermüdlichen Arbeiten aber sind sechs von den 1891 herausgegebenen Kanons (op. 113) (Nr. 1, 2, 8, 10, 11 und 12), ferner die as-moll-Fuge und das Choralvorspiel mit Fuge über »O Traurigkeit, o Herzeleid« für Orgel, das »Geistliche Lied« für vierstimmigen Chor mit Orgel op. 30 und wenn nicht alle, so doch einige der erst nach seinem Tode veröffentlichten Choralvorspiele. Zu einigen Kanons, die ihm Joachim schickt, bemerkt er: »Daß ich noch nicht auf den Kanonstoff 7. Kapitel gekommen bin! Da liegt viel drin. Der Schulfuchs sieht aber wohl gefährlicher aus als er ist?« (Die angeführten zweimal drei Noten zielen auf Joachims Wahlspruch: »Frei aber einsam« und seine Berliner Freundin Gis|e|la Arnim.

Am 5. Juni 1856 war die as-moll-Fuge fertig. Wegen ihres Anfangs hat er Gewissensbisse, wie er Joachim schreibt.

Joachim, dem diese und andere Fugen seines Studiengenossen sehr gefielen1, – Brahms war darüber so glücklich, »daß er gleich ins Freie laufen mußte, weil er in der Stube keine Freudensprünge machen mochte,« – hatte gleichwohl mancherlei daran auszustellen. Wahrscheinlich genügte das Präludium seinen Ansprüchen nicht, und Brahms strich es weg. Es fehlt schon beim ersten Abdruck der as-moll-Fuge, die als Beilage zur Nummer 29 der »Allgemeinen musikalischen Zeitung« von 1864 erschien. Selmar Bagge, der um die Würdigung und Verbreitung Brahms'scher Musik hochverdiente Herausgeber des Blattes, hatte im Frühjahr 1864 Brahms um einen musikalischen Beitrag für seine Zeitung gebeten. [263] Brahms war im Zweifel, was er ihm geben sollte. »Ein Klavierstück oder Lied möchte freilich Ihren schönen Leserinnen angenehm sein, aber wir denken wohl eher an ernsthafte Leute, die vielleicht nach langen Jahren die Zeitung durchblättern und suchen, was der Mühe verlohnt zu lesen. Da wird man sich denn doch lieber zusammennehmen.« Da nun bei Breitkopf und Härtel damals gerade »Vocal-Sachen in strengerer Form« von ihm erschienen (das »geistliche Lied« op. 30 und zwei Motetten op. 29), so hielt er die Orgelfuge für besonders geeignet, und es sollte von Honorar keine Rede sein, da man doch »zwei Seiten voll Noten auch noch nicht verhandeln könne«. Er ließ durchleuchten, daß er noch mehr von dieser Sorte auf Lager habe, und wäre gern bereit gewesen, weitere derartige Beilagen zu liefern, wofür er auch Honorar genommen haben würde, da es sich dann um mehr als zwei Seiten voll Noten – tatsächlich waren es doppelt so viel! – gehandelt hätte: »An Ihrer Stelle würde ich übrigens mit Beilagen allerlei Spaß machen; kontrapunktische Aufgaben etc. würden wohl manchen Musiker interessieren.« Bagge wollte oder durfte ihn nicht verstehen, da er doch nicht nur für jene ernsthaften Leute und Musikgelehrten, sondern auch für seine »schönen Leserinnen« zu sorgen hatte. Ihm machte im Interesse seines Publikums schon die Vorzeichnung der Fuge Pein, und er fragte Brahms, ob er das Stück nicht lieber in eine bequemere Tonart transponieren wolle. Brahms erwiderte ihm, er müsse auf den »sieben Bee-en« bestehen. Bagge solle nur versuchen, die Fuge in a- oder g-moll aufzuschreiben, und er werde schon sehen, was dabei herauskomme. Übrigens, meint Brahms, falls das Stück ihm neue Freunde gewönne, so würden es sicher solche sein, die sich vor sieben Been nicht scheuen. Hatte schon Joachim am Ende der Fuge Quinten gerügt, die Brahms »zu Zeiten recht fand«, so wies auch Bagge welche darin auf. Zwar erklärte Brahms, die Quinten in der angeführten Stelle nicht zu finden oder wenigstens nicht anzuerkennen, gab aber zu, daß die Stelle »diesmal« so gestochen werde:


7. Kapitel

[264] In der Simrock'schen Ausgabe von 1883 ist das Thema in der Mittelstimme (Tenor) wiederhergestellt, und der erste Takt heißt:


7. Kapitel

Auch über die harmonischen Mittel und Gesetze seiner Kunst gab sich Brahms genaue und gründliche Rechenschaft. Studien über erlaubte und verbotene Quinten und Oktaven mit vielen Beispielen aus Bach, Cherubini, Gluck, Mozart, Beethoven, Mehul, Schumann u.a. haben sich in seinem Nachlaß gefunden. Er statuiert einen Unterschied zwischen absichtlichen (ausdrucksvollen, charakteristischen) Quinten und bloßen Flüchtigkeitsfehlern. In zweifelhaften Fällen entscheidet die Bedeutung des Komponisten und der Wert der Komposition. Auf Ambros' Lehre vom Quintenverbot S. 45 verweisend, beruhigt er sich bei dem Satze: »Wenn man, abgesehen von kleinen Nachlässigkeiten und Versehen, eigentlich schlechte Quintenfortschreitungen findet, ist gewöhnlich alles Andere gleichfalls so schlecht, daß der eine Fehler nicht in Betracht kommt.«

Seine kontrapunktischen Arbeiten von 1856 und 57 gingen Brahms also acht Jahre später wieder durch den Sinn, und er dachte daran, die Fuge mit anderen herauszugeben. Denn er fragt Bagge: »Die Fuge bleibt doch mein Eigentum, und kann ich sie nach ein, zwei Jahren doch in Gesellschaft ihrer geborenen und ungeborenen Geschwister verkaufen?« Diesen Plan nahm er erst im Frühjahr 1896 wieder auf. Auch auf Joachim machte er den Redakteur der »Allgemeinen musikalischen Zeitung« aufmerksam: [265] »Der könnte Ihnen auch was Besonderes in kontrapunktischen Sachen geben!« Es ist sehr zu bedauern, daß Bagge die Winke von Brahms und dessen damalige Geneigtheit nicht benützen und ausbeuten konnte. Wie viel interessantes und reichhaltiges Studienmaterial der musikalischen Welt dadurch verloren gegangen ist, lehren die beiden uns überkommenen Orgelfugen. Die zweite (Choralvorspiel und Fuge über »O Traurigkeit, o Herzeleid«) erschien ebenfalls als Separatbeilage einer Zeitschrift, und zwar 1882 im dreizehnten Jahrgange des »Musikalischen Wochenblattes«. Brahms hielt es nicht für angezeigt, sie, wie die as-moll-Fuge, noch einmal besonders zu edieren. Auch ihre Zwillingsschwester wurde keiner Opuszahl gewürdigt. Dafür, daß beide gleichzeitig komponiert worden sind, sprechen mehrere Anzeichen. So z.B. das Verhältnis des Führers zum Begleiter: Die Beantwortung der Proposta erfolgt hier wie dort mit der Umkehrung des Themas. In beiden Stücken breitet der Komponist den frischerworbenen Reichtum seiner Kunst wie einen bunten Teppich aus, dessen vielverschlungene Ornamentik in Blatt und Blume einem und demselben Stamm entsprossen ist. Die Choralfuge »O Traurigkeit« erhebt sich dreistimmig über einem Cantus firmus, der nach der ersten Durchführung im Pedalbaß die Melodie des Chorals als vierte Stimme hinzubringt.

Noch kunstvoller als die Fugen ist das auf den Paul Flemingschen Text: »Laß dich nur nichts nicht tauren« komponierte »Geistliche Lied«. Das Gedicht, welches das erste Buch der Flemingschen Oden (in der Ausgabe von 1660) eröffnet, zeichnet sich durch seine echoartigen Reime aus. Brahms, der trotz der von ihm geschaffenen komplizierten Form die Zäsuren in allen Stimmen aufrecht hält, steigert den Effekt des Reimes durch Wiederholung. Das ganze Tongebäude scheint auf einer alten Choralmelodie zu ruhen; »Herr Jesu Christ, du höchstes Gut«:


7. Kapitel

Es klingt wie von weitem an. Die Stimmen sind im doppelten Kanon geführt, in der Art, daß immer der Tenor den Sopran, der Baß den Alt in der unteren None nachahmt. In kurzen [266] Vor- und Zwischenspielen tritt die Orgel selbständig hervor; auch im Mittelsatz – die Form ist dreiteilig mit Repetition der ersten Strophe und Coda – gesellt sich ihre Partie in wundervollen kanonischen Sequenzen dem Gesange als koordinierter Faktor bei und hebt das Werk auf den Gipfel seines Ausdrucks: »Der Eine – steht allem für, – der gibt auch dir – das Deine.« Ein vom Komponisten hinzugefügtes bekräftigendes »Amen« sammelt die Stimmen auf dem abschließenden Orgelpunkte. Brahms bildete sich nicht viel auf dieses Meisterstück seiner Kunst ein; er fragt Joachim: »Der Kanon gefällt Dir wohl nicht sonderlich? Die Zwischenspiele sind wohl schauerlich« Paßt das »Amen« (ich meine das Wort überhaupt)? »Mir will der Satz am besten gefallen.« Wir aber bewundern noch mehr als das Kunststück, welches dieser Chor ist, die selbstverständliche Sicherheit, mit der Brahms die Stimmung des auf Gott vertrauenden Trostliedes getroffen hat. Sein Gemüt durchleuchtet das verschlungene Maßwerk der Komposition wie die Sonne die Spitze eines gotischen Fensterbogens. Joachim nahm an einigen harmonischen Härten Anstoß. Er macht folgende, für Brahms höchst charakteristische Bemerkungen: »Dein Ohr ist an so reiche Harmonie gewöhnt, von so polyphoner Textur, daß Du selten die Stimmen, im gegenseitigen Zusammenstoß allein, erwägst – weil sich eben bei Dir gleich das gehörige Ergänzende dazu gesellt. Das kannst Du aber von einem Zuhörer, selbst vom musikalischesten, nicht verlangen; und da denn alle Kunst schließlich zum Mitgenuß beseligen soll, da das ihr heiligster Vorzug ist, so bitte ich Dich, darüber nachzudenken. Mir verkümmert's oft (in allen Deinen Sachen) die reine Freude, die sie mir sonst gewähren, wie die keines andern lebenden Komponisten.«

Ebenfalls jenen strengen, mit Joachim betriebenen Studien entsproß eine fünfstimmige, durchweg in kanonischer Form gehaltene Vokalmesse, von der Albert Dietrich auf Seite 28 seiner »Erinnerungen« spricht. Auch sie scheint (bis auf das zufällig erhalten gebliebene Benediktus)2 in Flammen aufgegangen zu sein; aus den Briefen an Joachim erfahren wir, daß jeder Teil der [267] Messe in einer anderen Tonart stand. Joachim fand, daß das Kyrie dem Geist nach gewiß mehr als eine »Studie« bedeute. Das Wort könne sich nur auf den »sorglos großen Umfang« beziehen, in dem Brahms die Stimmen sich ergehen ließ, nicht auf den Wert des Charakters, der nichts Trockenes oder Mühseliges habe. Das ganze Stück sei voll Schönheit und verdiene, daß es benützt werde. Aber noch ein anderer Umstand mag dazu beigetragen haben, daß Brahms die Messe fallen ließ. Es kamen nämlich viele Deklamationsfehler und falsche Betonungen darin vor, weil Brahms zwar den Sinn der Worte verstand, aber, da ihm die lateinische Sprache fremd war, nicht wußte, wie sie gelesen werden sollten. Joachim, dem auch die anderen Teile des geistlichen Werkes wohlgefielen – und besonders hebt er das »wunderschöne Sanktus« hervor – rät dem Freunde, sich an Dr. Hasenclever oder an irgend einen anderen zu wenden, der Philologie studiert hat. »Wozu,« ruft er aus, »sind solche Menschen auf der Welt, wenn man sie nicht nützen wollte!« – Da Joachim etlichemale anstatt mit Noten, ihrem Abkommen gemäß, in barer Münze zahlte, so meinte Brahms, es wäre wohl gut, er wolle aber lieber Briefe, die mit Arbeiten beschwert sind, als Strafgelder.

Trotz seiner angestrengten vielseitigen Tätigkeit befand sich Brahms andauernd in der »elendesten Stimmung«. Frau Klara kam ziemlich spät (Ende März) von ihrer Kunstreise nach Düsseldorf zurück und traf schon wieder Anstalten zu ihrer Reise nach England, die sie im vorigen Jahre hatte fallen lassen müssen. Ihr Auftreten in Wien war das Vorspiel zu den Triumphen, welche die Künstlerin jenseits des Kanals erwarteten. Im Feuer seelischer Leiden schien das lautere Gold ihrer hohen Meisterschaft erst seine volle Klarheit erlangt zu haben; die Wiener schwärmten für die Pianistin, die eine so rührende, interessante und liebe Frau war, und konnten sich nicht satt an ihr sehen und hören. Man verzieh ihr sogar ihre ernsten Programme, in denen sie Novitäten brachte, die für Leute »draußen im Reich« längst keine mehr waren. Sie trat in apostolischer Sendung für ihren Mann auf und fand einen günstigen, von Eduard Hanslick gerade frisch zubereiteten Boden vor. Schumann war endlich in Wien zum [268] Durchbruch gekommen, und es begann sich, nach Hanslick3, in musikliebenden Kreisen der Residenz bereits eine Vorliebe, ja ein Kultus zu bilden, wie ihn bisher nur Mendelssohn gehabt hatte. So konnte sie es wagen, auch den Liebling ihres Gatten den Wienern vorzustellen; sie spielte »Sarabande und Gavotte« und in ihrem fünften und letzten Konzert am 12. Februar 1856 das Andante aus der f-moll-Sonate von Brahms. Karl Debrois van Bruyck, der Hebbel- und Schumann-Verehrer, der ein wunderliches zwieschlächtiges musikalisch-poetisches Wesen trieb und sein ganzes langes Leben damit hinbrachte, in Worten und Tönen etwas Großes zu versprechen, referierte damals in der kaiserlichen »Wiener Zeitung«. Er scheint der einzige musikalische Berichterstatter gewesen zu sein, der es der Mühe für wert fand, von Brahms Notiz zu nehmen. Da er sich, durch Schumann, für Brahms interessierte und dessen Erstlingswerke bereits kannte, so konstatierte er mit Befriedigung, daß die beiden (unveröffentlicht gebliebenen) Stücke ihn in der hohen Meinung, die er von dem seltenen Talente des Komponisten gewonnen hatte, noch bestärkten.

Im September 1857 kam van Bruyck noch einmal ausführlicher auf Brahms zurück. Er schrieb unter dem atemversetzenden Titel »Federstriche zur Charakterisierung des gegenwärtigen Standes der Tonkunst in einigen ihrer renommiertesten Vertreter«, eine Revue der neuesten Komponisten, die mit Wagner anfängt und mit Rubinstein aufhört. Sein Urteil ist das eines kompetenten, ruhig, sachgemäß und vernünftig denkenden, unparteischen Musikers, der durch seinen Scharfblick für das Charakteristische und sein seines Unterscheidungsvermögen verrät, daß er eher zum Kritiker als zum Künstler geboren war.

Über Robert Franz, den die »Neudeutschen« gegen Schubert ausspielten, ähnlich wie später der dreiste Versuch gemacht wurde, Brahms mit Hugo Wolf abzutrumpfen, läßt sich bei aller gerechten Anerkennung seines anmutigen, aber engbegrenzten Talents Zutreffenderes kaum sagen. Mit Entschiedenheit weist Debrois die unverschämte Behauptung der »Neuen Zeitschrift für Musik« zurück, [269] es seien »gegenwärtig alle einsichtigen Musiker darüber einig, daß das Lied seine höchste Vollendung in Robert Franz erreicht, und daß dieser erfüllt habe, was Schubert bloß ahnte«, und er findet für Schubert keinen Ausdruck zu hoch, um die Ursprünglichkeit und Kraft seiner Genialität zu bezeichnen. Er gilt ihm für »den Born der tiefsten, verborgensten, himmlischesten Naturlaute, welche je eines Menschen Brust durchzittert haben«, und seine Lieder spiegeln ihm »die ganze Weite und Breite der Welt in ihrer süßesten Fülle, ihrer schmerzlichst-schaurigsten Tiefe« wider. Von den Brahmsschen Werken op. 1–10 stehen ihm die Variationen über ein Thema von Schumann am höchsten. Einige, sagt er, seien von ganz zauberhafter ätherischer Schönheit, wenngleich die allerschönste eine etwas starke Reminiszenz aus Schumann – doch wohl nicht mit Absicht?4 – enthalte, und in anderen wie z.B. der letzten, der Hang des jugendlichen Tondichters zum Mystisch-Verworrenen etwas unliebsam und bedenklich hervortrete. Den Variationen zunächst werden die Lieder gestellt, in welchen Klänge von ergreifender Tiefe und Zartheit zu finden seien. Debrois resumiert sein Urteil dahin, daß Brahms jedenfalls »innerhalb des geweihten Kreises« stehe. Seinem Wollen entspreche jetzt schon ein zwar noch nicht ebenmäßiges, aber sehr bestimmt vorhandenes Können. Das Bedenkliche und Gefährliche für seine Entwicklung scheine nur teils in seinem instinktiven, teils reflektierten Streben nach Überfeinerung, in seinem übermäßigen Hange zum Dämonischen und Phantastischen zu liegen. Vermöchte er diesen in etwas zu bezwingen, so dürften wir gewiß, sei es in näherer oder fernerer Zukunft noch viel reinere, reifere Früchte von ihm erwarten.

Überschwenglichkeit wird man der Anerkennung, die van Bruyck dem neuen, von Schumann entdeckten Genie zollt, nicht gerade vorwerfen können. Aber warm nimmt er sich des vielfach Verkannten und Geschmähten an. Wie hoch erhebt sich der in Lob und Tadel gleich offene und ehrliche Beilagen-Referent der »Wiener Zeitung« über den jesuitischen Leitartikler der »Neuen Zeitschrift für Musik« von 1855!

[270] Ende April fuhr Frau Klara nach England ab. Zuvor hatte Brahms auf den dringenden Wunsch seiner Freundin eine Rekognoszierungsreise in württembergische Heilanstalten unternehmen müssen. Sie argwöhnte, daß Schumann, dessen Genesung nach hoffnungsvollen Anfängen keine raschen Fortschritte machen wollte, in Endenich nicht richtig behandelt würde, und es befremdete sie, daß der dortige Arzt die Fortsetzung von Besuchen und Korrespondenzen aus Schonung für den Kranken untersagt hatte. Dazu kam noch, daß Schumann selbst den dringenden Wunsch äußerte, aus der Anstalt entlassen und den Seinigen wiedergegeben zu werden, was früher nicht der Fall gewesen war. Brahms, dem die Reise seiner Studien wegen sehr ungelegen kam, machte sich gleichwohl mit gewohnter Bereitwilligkeit auf den Weg und blieb zuerst einige Tage in Bonn, wo er im Auftrage von Frau Schumann Dietrich und Otto Jahn ins Vertrauen zog und länger mit Dr. Richarz unterhandelte. Der Arzt »den er jedesmal mehr lieben lernt«, war zu einer entschiedenen Ansicht über die Natur der Krankheit, deren Entwicklung und voraussichtlichen Verlauf gekommen. Er verhehlte dem ihn aufs Gewissen befragenden Interpellanten nicht, daß er Schumann für unheilbar und alle ärztliche Hilfe für unnütz halte. Die scheinbare Besserung des vorigen Jahres habe durchaus nichts zu bedeuten gehabt. Im günstigsten Falle werde Schumann in seinem gegenwärtigen apathischen Zustande verharren, und in ein oder zwei Monaten sei wahrscheinlich nur noch Pflege nötig. Es gelang Brahms, die Erlaubnis zu einem Besuche des Kranken für sich zu erwirken. Er fand ihn sehr verändert.

Zwar empfing Schumann den Freund herzlich wie immer, aber es durchschauerte Brahms, als er kein Wort des Meisters verstand. »Wir setzten uns, mir wurde immer schmerzlicher, die Augen waren mir feucht, er sprach immerfort, aber ich verstand nichts. Ich blickte nieder auf seine Lektüre. Es war ein Atlas, und er eben beschäftigt. Auszüge zu machen, freilich kindische, Städte, Flüsse etc., deren Namen mit Aab, Ab, Aba etc. anfängt, die vielen St. Juan etc. zusammen zu suchen u.s.w. Er zeigte mir eine ganze Menge Papier auf diese Weise vollgeschrieben. Alles war höchst ordentlich notiert; das Land, der Fluß, wo die Stadt [271] liegt, und der Länge und Breitegrad angegeben. Dann hatte er ein Pfennigmagazin da [eine damals beliebte populäre Zeitschrift], das ihm viele Freude machte, die Kölnische Zeitung und das Richtersche Bilderheft, in dem er den ›Alten Turmhahn‹ gelesen zu haben scheint; denn er lächelte, als ich darauf zeigte. Er sprach fast immerfort, oft plapperte er freilich nur, ungefähr bababa – dadada. In längeren Fragen von ihm verstand ich die Namen Marie, Elise, Julie, Berlin, Wien, England, viel mehr nicht. Er verstand auch mich schwer, wohl nur wenig.«

Unter dem Banne dieses trostlosesten Eindrucks setzte Brahms die Reise nach Württemberg fort. Er wollte sein Versprechen halten und hören, was andere Fachautoritäten zu dem Falle sagen würden. In Kenneburg bei Eßlingen, wo er »einen recht vernünftigen Homöopathen« zu finden dachte, mißfiel ihm der Arzt ebensosehr wie die Anstalt. Diese schien ihm zumeist für steinreiche Leute da zu sein, die den Rest ihres Lebens mit verdorbener Gesundheit vergnügt hinbringen und möglichst lange ausdehnen wollten. Übrigens sprach sich der Kenneberger Arzt ganz im Sinne des Endenicher aus. Auch in Winnental, das durch Nikolaus Lenaus Internierung im Jahre 1844 zu einer traurigen Berühmtheit gelangt war, wurde Brahms von den Erkundigungen, die er an Ort und Stelle einholte, nicht befriedigt. Da er einmal in dem schönen württembergischen Lande war, so benutzte er die Reise zu einem kurzen Ausflug in die rauhe Alp und das romantische Urachtal. Unterwegs suchte er sich mit Lenaus Gedichten, die er in der Tasche hatte, näher zu befreunden. So sympathisch er sich bei dem damaligen Zustande seines Gemüts von der schwermütigen Naturbetrachtung des Weltschmerzdichters berührt fühlen mußte – er schwärmte eine Zeitlang für ihn – so wenig vermochte die düstere Melancholie seiner Lieder ein musikalisches Echo in ihm zu erwecken. Unter seinen Papieren bewahrte er viele Jahre die Originalhandschrift der schaurigen »Nächtlichen Wanderung« (Lenau betitelte das Gedicht »Der nächtliche Wandrer«), und während er am Ufer des wildrauschenden Brühlbaches der Feste Hohenurach zuschritt, über deren Felsenabhang Nikodemus Frischlin einst den Sprung in die Freiheit des Todes getan hatte, mögen ihm die Verse zugeklungen haben:


[272] »Da unten braust der wilde Bach,

Führt reichen, frischen Tod,

Die Wogen rufen laut mir nach;

Komm, komm und trinke Tod! –«5


Vorsorglich legte Brahms Freund Joachim ans Herz, er sollte nur ja Frau Schumann gegenüber recht behutsam sein, nur ja über keine Fakta schreiben, sondern sie zu zerstreuen suchen, was ihr jetzt sehr nötig wäre. Sie mußte ihre Lebensgeister frisch erhalten für ihre anstrengende Tournee, die sie über Manchester und Liverpool bis nach Dublin führte. Da ihr aber doch nicht verheimlicht werden konnte, daß die Aussichten auf eine völlige Herstellung Schumanns geschwunden waren, so verlebte die Ärmste in der Fremde qualvolle Tage und Nächte. In einem ihrer Londoner »Recitals« spielte sie »Sarabande und Gavotte« von Brahms, die so gefielen, daß sie wiederholt werden mußten. Den 7. Mai feierte Brahms diesmal ohne die Freundin.

Eine Nachfeier seines Geburtstages brachte ihm das vierunddreißigste niederrheinische Musikfest, das 1856 abermals in Düsseldorf abgehalten wurde; es stand nicht auf dem Niveau des vorigen, sondern war im Gegensatz zu dessen sonnigen und wonnigen Pfingsttagen ein gründlich verregnetes Fest. Für Brahms aber wurde es von ganz besonderer Bedeutung, weil es ihm neben älteren Bekannten und Freunden, wie Böie aus Altona, Reimers und Dietrich aus Bonn, ein paar junge Künstler zuführte, mit denen er sich herzlich befreundete: Theodor Kirchner und Julius Stockhausen. Kirchner, ein gebürtiger Sachse,6 ehemaliger Schüler von C.F. Becker und Julius Knorr in Leipzig, und seit 1843 Organist in Winterthur, hatte sich in vielen anmutigen Klavierstücken und Gesängen als berufener Nachfolger Mendelssohns und Schumanns legitimiert. Er ist eigentlich mit seiner musikalischen Erfindung niemals über die Grenzen eines empfindsamen Liedes ohne und mit Worten, eines graziösen Albumblattes, einer leichten [273] Sonatine hinausgekommen; in diesem kleinen Genre aber verdient er ein großer Meister genannt zu werden. Mehr Aquarellist als Öl- oder a fresco-Maler, bringt er durch sein zartes, in tausenden von seinen Übergängen und Nuancen sich ergebendes Kolorit Wirkungen hervor, die anderen versagt sind. Bei seinen minutiös ausgeführten, in Zeichnung und Farbe gleich sorgfältig gearbeiteten Stimmungsbildern denkt man an den Novellisten Theodor Storm oder an jene Stilllebenmaler, die selbst den unscheinbarsten Gegenständen dadurch, daß sie sich mit hingebender Liebe in sie versenken, den Reiz eines eigentümlichen, geheimnisvoll unter der Oberfläche der Dinge spielenden Zaubers verleihen. Kirchner lauscht und späht ins Verborgene, sein Gesichtskreis zieht sich ins Zentrum zurück, er reduziert die Linie auf den Punkt, von dem sie ausgeht. Vor Verweichlichung und spiritualistischer Zerflossenheit bewahrt ihn sein guter Humor, der den klaren Krystall seiner Form durchfunkelt. Seine Hauptforce, auf welche schon August Schubring in den »Schumannianis« hingewiesen hat, besteht in der auch von Schumann öfters angewendeten Kunst, »den ganzen Charakter eines Musikstückes am Schlusse nochmals in ein paar Akkorde zusammenzufassen, und ihn als ein konzentriertes Bild, wie in einem magischen Spiegel, uns zum letztenmale vorzuführen.« Von dieser Kunst, die er nur noch mehr erweiterte und vertiefte, hat Brahms profitiert. Das Überraschende und dabei zugleich Aufschließende, Erklärende und Befriedigende, was manche Coda seiner Sonatensätze enthält, deutet noch mehr auf Kirchner, als auf Schumann und Beethoven zurück. Kirchner war es auch, der seinen Verleger Rieter-Biedermann in Winterthur für Brahms interessierte, und er war es ferner, der manches geschickte Arrangement Brahmsscher Kompositionen (u.a. die beiden Sextette in Trioform) anfertigte.

Noch wichtiger und folgenreicher gestaltete sich für Brahms die Bekanntschaft mit dem großen Oratorien-und Liedersänger Julius Stockhausen. Während Kirchner nicht aktiv bei dem Musikfeste beteiligt war, hatte Stockhausen die Hauptpartie in Mendelssohns »Elias« übernommen und wirkte durch die Art, wie er die Persönlichkeit des alttestamentarischen Propheten gleichsam in ganzer Figur vor den erstaunten Zuhörern erstehen ließ, geradezu [274] wie ein Wunder. Die hohe Kunst des epischen und lyrischen Gesanges war bis dahin ein stillschweigend anerkanntes Monopol der Bühnensänger geblieben, das nur ausnahmsweise einmal, zumeist von konzertierenden Damen, durchbrochen wurde. Die Sänger waren zwar gut geschult, weil ihre Opernpartien keine geringen Anforderungen an die Geläufigkeit ihrer Kehle stellten. Aber sie vertrauten eben dieser ihrer guten Schule doch zu viel, als daß sie für das Studium einer Oratoriumpartie oder etlicher Liedereinlagen mehr als das Notwendigste übrig gehabt hätten, und brachten, was noch schlimmer war, ihre Unmanieren, die sie sich im Reiche der Kulisse und der Schminke angeeignet hatten, in den Konzertsaal mit, ohne danach zu fragen, womit sie hier, wo kein verführerisches Kostüm, keine interessante Lockenperücke ihnen half, die Blößen ihres Vortrags bedecken sollten. Mendelssohn hatte immer über die Solisten in den Aufführungen seiner Oratorien zu klagen. Als in demselben Düsseldorf 1836 der »Paulus« unter seiner Direktion zuerst erschien, schrieb er an den Leipziger Advokaten Schleinitz: »Bei den Paulus-Arien weiß ich Ihr ganzes Gesicht auswendig, wie sie etwas ledern und gleichgültig abgesungen worden, und höre Sie auf den Heidenapostel im Schlafrocke schimpfen.« Und nach der ersten Elias-Aufführung in Birmingham, bei welcher sich Staudigl »alle Mühe gab«, macht Mendelssohn seinem gepreßten Herzen in folgenden an Livia Frege gerichteten Zeilen Luft: »Mir ist in der Musik nichts so unangenehm als jene gewisse kalte, seelenlose Koketterie, die an sich selbst so unmusikalisch ist, und die doch so oft als Grundlage vom Singen und Spielen und Musikmachen angetroffen wird. Sonderbar, daß ich dergleichen sogar bei den Italienern seltener finde als bei uns Deutschen. Mir ist immer, als müßten unsere Landsleute es entweder vom Herzen nicht gut mit der Musik meinen, oder es wäre eben jene abscheuliche, dumme und noch dazu affektierte Kälte in ihnen, während so eine italienische Kehle daher singt, was sie kann, wie ihr der Schnabel gewachsen ist.«

In Stockhausen vermählte sich die italienische Kehle mit der deutschen Seele, und über beide herrschte die hohe künstlerische Intelligenz des internationalen, in Paris geborenen, in London von Manuel Garcia erzogenen Sängers. Das Programm des [275] Festes führte ihn als »Herrn Julius Stockhausen aus Wien« auf. In Wien stand die Wiege seines deutschen Ruhmes. Hier, wo man den schönen Gesang von jeher über alles schätzte, hatte er 1854 in drei Konzerten ein Aufsehen erregt, wie kaum ein deutscher Sänger zuvor. Was am meisten an ihm bewundert wurde, war, daß er eine Koloratur-Arie mit derselben technischen Vollendung und demselben seinen Geschmack vortrug wie ein inniges Lied von Schubert oder Schumann. Keiner verstand es wie er, den Charakter eines Gesangstückes mit solcher unfehlbaren Sicherheit zu erfassen und so plastisch herauszuarbeiten, daß jeder Zuhörer schon nach den ersten Tönen über das, was er zu erwarten hatte, orientiert schien. Stockhausen drang jedem Liede bis auf den Grund seiner Entstehung, er holte es aus dem Mutterschoße der poetischen Empfindung hervor, so rein und unberührt, wie es gefühlt und gedacht war. Was leider nur die wenigsten reproduzierenden Musiker ihr eigen nennen, obwohl es zunächst über ihren Beruf entscheiden sollte, besaß er in hohem Grade: die Fähigkeit, eine neue Melodie mit dem Ohre des Geistes zu hören und das Publikum über deren eigentümliche Reize aufzuklären, einfach dadurch, daß er sie so sang, wie er sie hörte. Deshalb war er auch der berufene Pfadfinder für unentdeckte Länder der Musik und Poesie; er ging seine eigenen Wege und beschämte alle, die zu träge oder zu unfähig waren, ihm zu folgen. So erneuerte er das Alte und machte das Neue altgewohnt und vertraut. Zu den Sängern, die papageienmäßig wiederholen, was ihnen von andern vorgesungen wird, gehörte er nicht, ebensowenig zu denen, die den Wert eines Liedes nach dem Erfolge bemessen, den sie mit ihm davontragen. Alles, was er sang, war gut; denn er sang nur das Gute, und er hatte mit jedem Liede Erfolg, weil er die Macht in sich fühlte, das Publikum auf gelinde Art zur Anerkennung des Guten zu zwingen. Stockhausen hat sein dem Dienste der Musen gewidmetes Organ niemals entweiht, indem er es aus Gefälligkeit, Kameraderie oder auch um mit der Zeitmode gleichen Schritt zu halten, in den Dienst eines Komponisten stellte, der nicht seinen Prinzipien und Begriffen vom Musikalisch-Schönen entsprochen hätte. Seine Kunst stand also auf derselben idealen Basis und erhob sich zu derselben Höhe wie [276] die eines Joachim, einer Klara Schumann; er war der geborene Verkündiger der Brahmsschen Lyrik. Spitta macht darauf aufmerksam, daß von op. 32 an alle Brahmsschen Lieder, bis auf einen geringen Bruchteil, Männerlieder sind7. Brahms dachte sie sich unwillkürlich immer von Stockhausen gesungen; die edle, reife und mit Leidenschaft gesättigte Männlichkeit des Freundes schwebte ihm dabei vor8. Wie schnell Brahms und Stockhausen einander fanden und verstanden, beweist der Umstand, daß sie bereits am 27. Mai 1856, vierzehn Tage nach dem Musikfeste, in Köln zusammen konzertierten. Stockhausen wurde stürmisch akklamiert, Brahms dagegen fand mit Bachs chromatischer Phantasie und Beethovens c-moll-Variationen nur geringen Beifall; zwei solche Riesenbrocken auf einmal konnten die Kölner nicht verdauen. Derselbe Stockhausen sagte später zu Klaus Groth, nachdem er ihm Lieder von Schubert und Schumann, zuletzt die Magelonen-Gesänge von Brahms vorgesungen hatte: »Was man auch gesungen hat – er macht alles tot.« – Auch diesen seinen nachmaligen Freund, den Dichter Klaus Groth, von welchem die Texte zu einigen der schönsten Brahmsschen Lieder herrühren, lernte Brahms im Mai 1856 in Düsseldorf kennen. Groth, der im Jahre vorher seiner Studien halber zu Otto Jahn nach Bonn gekommen war, stand noch zu sehr unter dem Einflusse des Mozart, Biographen, um sich näher an seinen Landsmann anzuschließen. Frau Schumann, welche die Verehrung kannte, die Brahms für die (1853 erschienenen) plattdeutschen Gedichte des Quickborn empfand, hatte Groth schon 1855 nach Düsseldorf eingeladen: Joachim und Brahms sollten dem Dichter, der ein leidenschaftlicher Musikliebhaber war, acht Tage lang vorspielen, was er [277] wünschte. Krankheit hielt ihn in Bonn zurück. Nun wurde das Versäumte, aber nur unvollkommen nachgeholt. »Ich höre noch ganz genau,« schreibt Groth über Brahms, »die ersten Töne seiner Stimme (nicht wegen ihrer musikalischen Schönheit, wie die von Julius Stockhausen), ja, ich fühle genau seine eigenartige Hand, wie er sie mir zum erstenmale gab. Geselligkeiten drängten sich damals beim Musikfeste in Düsseldorf, und auch Brahms wurde natürlich immerfort bestürmt, etwas zu spielen.« Es gefiel mir auch als Ditmarscher wohl, daß er nie sich selbst aufspielte, nie etwas von eigenen Kompositionen vortrug. Es gefiel mir aber nicht, daß er dann fast nur Schubertsche Tänze spielte, d.h. ich hätte gern etwas Größeres von ihm gehört. Im Grunde hatte ich kein rechtes Verständnis für diese Kompositionen des großen Liederkomponisten, doch sei hier noch gleich erzählt: zehn Jahre später klimperte ich selbst beinahe zufällig, da sie mir auf dem Flügel lagen, Schuberts Tänze. Und klimperte und klimperte und verlor mich so in ihrer Schönheit, daß ich einmal Brahms erklärte, als er in Kiel bei mir war: »Die Tänze sind ebenso schön wie die Müllerlieder, sind ja auch ein vollständiger Kranz mit tragischem Abschluß wie der Liederkranz der Winterreise.« Und Brahms, was sagte er? »Die schönsten, seh' ich, kennst Du noch nicht, die habe ich erst herausgegeben!«9 Brahms fühlte sich zu Groth durch die Ähnlichkeit ihrer Schicksale und durch ihre Liebhabereien hingezogen. Auch Groth, der 1856 den Doktortitel honoris causa von der Bonner Universität erhielt, war Autodidakt: er hat, wie er selbst bekennt, alles, was er wußte und verstand, so weit es von Wert und Bedeutung, still für sich aus Büchern gelernt; und auch er hatte sich schon in der Jugend Sammlungen von Volksliedern angelegt. »Damals sangen die Kinder auf dem Schulwege, der Pflugtreiber auf dem Pferde, das Milchmädchen unter der Kuh, die Köchin am Herd. Man machte sich Liederbücher, in die man die beliebtesten Gesänge niederschrieb, ich auch, wobei ich wie beim Anhören der Melodien [278] schier alle deutschen Volkslieder in einer Vollständigkeit kennen lernte, die mich später überrascht hat, da ich als gelehrter Mann die Sammlungen von Erk, Hoffmann, Simrock u.a. in die Hände bekam.«10

Ob auch Groths physikalische und mathematische Untersuchungen, die er mit Helmholtz auf das Gebiet der Tonkunst ausdehnte, zu jenen gemeinsamen Liebhabereien gehörten, ist zu bezweifeln. Brahms hatte vor der »wissenschaftlichen« Behandlung seiner Kunst einen noch größeren Abscheu als vor der ästhetischen. Man konnte oft von ihm hören, daß Leute, die so viel über die Musik redeten, am wenigsten von ihr empfänden und verständen. »Einmal,« erzählte er Wendt, »waren Joachim und ich bei Helmholtz, der uns seine Entdeckungen und die reinen Harmonien auf den von ihm erfundenen Instrumenten vorführte. Er behauptete, die Septime müsse etwas höher, die Terz tiefer klingen als gewöhnlich. Joachim, der ja ein sehr höflicher Mann ist, wollte erst einen ganz eigentümlichen Eindruck von den Intervallen empfangen haben und tat so, als ob er sie gerade so höre wie Helmholtz. Da sagte ich ihm, die Sache sei doch zu ernst, als daß auch hier die Höflichkeit entscheiden könne; ich hörte immer das Gegenteil von dem, was Helmholtz behauptete. Da gab er denn zu, daß es eigentlich auch bei ihm der Fall sei. Helmholtz hatte mehrere Klaviaturen. Ich machte ihn darauf aufmerksam, daß die Töne der zweiten viel schärfer klängen als die der andern; er mußte es zugeben. Er selbst ist eben in musikalischen Dingen ein entsetzlicher Dilettant.«

Für einen theoretischen Streit aber, der zwischen Grädener und der Hamburger Bach-Gesellschaft, beziehungsweise deren Dirigenten, entbrannt war, interessierte sich Brahms desto lebhafter. Die 1850 von Ferdinand von Roda ins Leben gerufene Hamburger Bach-Gesellschaft, die es sich zur Aufgabe machte, »möglichst« vollkommene Aufführungen Bachscher Werke zu veranstalten, strebte ihren löblichen Zweck mit sehr ungeeigneten Mitteln an und verlor ihn dar über gänzlich aus den Augen.11 Roda stellte [279] Arien, Duette und Chöre aus verschiedenen Werken Bachs zusammen, instrumentierte sie nach eigenem Ermessen und nannte dann dieses Konglomerat eine Bachsche Kantate. Georg Armbrust, Organist an der Petri, Kirche, der Roda schon nach einem Jahr in der Leitung der Gesellschaft ablöste, verfuhr zwar insofern pietätvoller gegen Bach, als er die Integrität seiner Werke achtete, trat aber doch in die Fußstapfen seines Vorgängers, indem er bei der Bearbeitung der alten Originale ebenfalls ziemlich eigenmächtig verfuhr. Infolgedessen wetterte Grädener in zwei geharnischten Broschüren gegen Armbrust und die »saubere Bach-Gesellschaft« los. »Sie haben mir,« schreibt Brahms an Grädener, »abgesehen von aller persönlichen Teilnahme, große Freude gemacht. Sonderlich die erste, in der Du oft (z.B. am Schluß) so schön warm wirst und wie rhythmisch redest.«12 Brahms bedauerte nur, daß Grädener keinen würdigeren Gegner gefunden habe als Armbrust. Es sei doch, meint er, die reine Verstellung, wenn er ihm nicht zu Anfang der zweiten Broschüre dasselbe sage, wie der Schreiber im »Korrespondenten«. Übrigens könne sich ja in dieser Sache kein anständiger Widersprecher erheben. Einem ordentlichen Musiker und wahrhaft künstlerisch fühlenden Menschen wie Grädener sei es leicht, die Wahrheit zu sagen, und Grädener streite »schön, klar und kurz, etwas dem Mattheson ähnlich.« Bei dieser Gelegenheit zeigte Brahms, wie gründliche Studien er bereits über denselben Gegenstand betrieben hatte, und wie genau er in der einschlägigen Literatur Bescheid wußte. Nicht umsonst hatte er manchen Vormittag auf der Hamburger Stadtbibliothek zugebracht. Denn er spricht dem Freunde seine Verwunderung darüber aus, daß [280] er den Gegner nicht »noch einfacher« geschlagen habe. Er hätte ja nur nachzulesen gebraucht, was Philipp Emanuel Bach über den Gegenstand schreibt. Dieser spreche vom Akkompagnement als von einer schweren Sache und lehre sie; sie finde aber nur Anwendung, wo statt der Begleitung nichts wie ein bezifferter Baß geschrieben stehe. Als Beispiele führt Brahms Ph.E. Bach, Seb. Bachs »Musikalisches Opfer«, Violinsachen und Arien in den Kantaten an. Dort könne man »bescheidentlich kunstvoll« begleiten.13

Bald nachdem Frau Klara von England, mit Ehren und Geschenken überhäuft – Erard hatte ihr einen prachtvollen Konzertflügel dediziert – nach Düsseldorf zurückgekehrt war, drangen bedrohliche Gerüchte über Schumann zu ihr, und es ließ sich der Ärmsten nicht länger verheimlichen, daß es mit ihrem Gatten rapid abwärts ging. Noch am 8. Juni 1856, Schumanns letztem Geburtstage, war Brahms mit Dietrich, Jahn und Groth von Bonn nach Endenich hinausgewandert, um dem Kranken den großen Stielerschen Atlas zu bringen, den er sich für seine geographischen Tabellen gewünscht hatte. Brahms konnte den Dreien, die draußen auf ihn warteten, berichten, daß Schumann ihn erkannt und sich über das Geschenk gefreut habe. Der Eindruck aber, den der Kranke sonst auf ihn machte, muß grauenerregend gewesen sein. [281] Denn Brahms, der blaß und sehr ernst aussah, als er zu den Freunden zurückkehrte, sprach kein Wort weiter. Nun kündigte sich das Ende an, die Stunde der Erlösung war nicht mehr fern. Am 27. Juli fuhr Klara mit Johannes nach Bonn. Sie mieteten sich im »Deutschen Hause« ein; den Tag über wollten sie immer in Endenich verbringen. »Ich sah ihn gestern,« schreibt Frau Schumann den Morgen darauf an Joachim, »von meinem Jammer lassen Sie mich schweigen; aber einige zärtliche Blicke empfing ich – ich nehme sie durch mein ganzes Leben hindurch. Einmal umfaßte er mich auch, er kannte mich. Bitten Sie zu Gott um ein sanftes Ende für ihn – es kann nicht lange mehr dauern, wie Richarz sagt. Ich verlasse ihn nicht mehr! Ach, Joachim, welcher Schmerz, welcher Jammer, so ihn wiederzusehen! Aber der Blick – um alles in der Welt mißte ich ihn nicht mehr. Eben wollen wir wieder hinaus.« Frau Schumann schrieb dies Joachim für den Fall, daß er den Freund noch einmal sehen wollte. Aber Brahms riet ihm davon ab, es sei doch sehr, sehr ergreifend und zu jammervoll. Schumann sei völlig abgemagert, von Sprechen und Bewußtsein sei keine Rede; dennoch habe er seine Frau erkannt, sie umarmt und gelächelt. Am 29. Juli, nachmittags 4 Uhr, verschied Schumann. »Seine letzten Stunden waren ruhig, und so schlief er auch ganz unbemerkt ein; niemand war in dem Augenblick bei ihm«, schreibt Klara in ihrem Tagebuche.14 Die Kunde von seinem Ableben ging wie ein Lauffeuer durch Bonn und die rheinischen Städte. Schüler, Verehrer und Freunde vom Niederrhein, aus Köln, Düsseldorf, Barmen erschienen, um die Witwe zu trösten, die durch ihre heldenhafte Fassung alles in Bewunderung setzte. Gleichwohl war die »offizielle« Beteiligung am Leichenbegängnisse keine solche, wie man sie bei der Bedeutung des Verstorbenen hätte erwarten sollen, um so lebhafter dafür die zwanglose, nicht vorgeschriebene. Klaus Groth gibt uns eine lebendige Schilderung des Begräbnisses, das am 31. Juli auf dem schönen Bonner Friedhofe vorm Sterntore stattfand.

»Bei Otto Jahn versammelten wir uns, um uns der Begräbnisfeier anzuschließen. Ferdinand Hiller war da, Reinthaler, [282] Grimm, der Bürgermeister von Bonn und eine Anzahl würdiger Männer. Als der Trauerzug durch das Koblenzer Tor eingetreten war, folgten wir auf ein gegebenes Zeichen, ich weiß nicht mehr genau, an welcher Straßenecke. Aber das ist mir noch deutlich in der Einnerung, daß der Zug, der von Endenich hereinkam, nur klein war. An einem wundervollen Sommerabend am 31. Juli, in lauer, stiller Luft, nahte er uns. Bloßen Hauptes gingen Brahms, Joachim und Dietrich mit Lorbeerkränzen nahe hinter dem Sarg. Brahms und Joachim habe ich noch deutlich vor Augen, beide im schönsten Haarschmuck junger Männer, Joachim dunkelbraun, Brahms hellblond, beiden Gesichtern in ebenso entschiedener Art die Genialität aufgeprägt. Feierlich still wanderte das kleine Gefolge, bis die Straße sich erweitert, und vom Markt her, dem wir uns näherten, allmählich das Glockengeläute lauter wurde. Aber siehe, da strömte es aus den Gassen herbei, als gälte es, einen Fürstenzug zu sehen. Was vom Magistrat, Bürgermeister, Stadtverordneten, Vereinen usw. sich anschloß, vermag ich nicht zu sagen; aber das Volk, das hochsinnige, rheinische war erschienen, einen letzten Blick zu werfen auf den Sarg, der unter Blumen, Kränzen, Palmen die irdische Hülle des großen Mannes barg, dessen Name wenigstens, dessen Klänge und Sänge vielen ins Herz gedrungen waren, dessen furchtbares Schicksal alle Gemüter bewegt hatte. Die ganze Bevölkerung Bonns schien vollzählig versammelt zu sein, plötzlich, wie auf die Nachricht von einem großen Unglück, Brand oder Erdbeben. Leute aus allen Ständen liefen herbei in Hast und Eile, offenbar unvorbereitet, in Werktagskleidern, Hemdärmeln, bloßen Kopfes. Ich sah Frauen aus dem Arbeiterstande, welche ihr Kind in die Höhe hoben, damit es etwas sähe. Und dabei war feierliche Totenstille, soweit das bei einer solchen Menschenmenge möglich ist. In Minuten war der Marktplatz Kopf an Kopf gedrängt voll, in den nächsten Straßen Fenster an Fenster, und der Zug kaum imstande, in gemessenem Schritt die teilnehmende Menge zu passieren. Beim Verlassen des Ortes wogte es um uns her, als sei die halbe Stadt ausgewandert. Der schön gelegene Kirchhof war ganz schwarz bedeckt von Menschen. Die wenigsten haben wohl die Worte vernehmen können, mit denen Pastor Wiesmann den Sarg begleitete, [283] als wir ihn hinabließen zur Ruhe, und den tief empfundenen Nachruf, den Ferdinand Hiller seinem hingeschiedenen Freunde widmete. Wir andern streuten schweigend eine Handvoll Erde auf den Sarg als letzten Gruß zum Abschiede. Robert Schumann, einer der größten Meister der Töne, schläft in der Nähe anderer Größen, in der Nähe von Niebuhr, Arndt, Dahlmann und vielen andern, auf deren Taten und Werke wir mit Andacht zurückblicken, den ewigen Schlummer.«

Nach den schweren Gemütserschütterungen, die Frau Schumann in den letzten Wochen vor dem Tode ihres Gatten hatte überstehen müssen, bedurfte sie einer gründlichen Erholung. Auch Brahms fühlte sich stark deprimiert und ließ sich gern von seiner Freundin bewegen, die Reise, zu welcher er ihr riet, in Gemeinschaft mit ihr zu unternehmen. Zweimal hatte er schon einen Anlauf zu einer Schweizerreise gemacht, nach der er sich seit den Hamburger Knabenjahren immer vergebens gesehnt hatte, nun sollte sein Wunsch erfüllt werden. Es wurde beschlossen, einen längeren Aufenthalt am Vierwaldstättersee zu suchen und nicht allzu eilig dorthin aufzubrechen. Ihre jüngsten Kinder ließ Frau Klara unter guter Obhut zurück; ihre beiden ältesten Töchter befanden sich in Leipzig zur Ausbildung ihrer musikalischen Talente, und nur ihre Söhne Ludwig und Ferdinand nahm sie mit auf die Reise. Um aber nicht ohne weibliche Begleitung zu sein, schlug sie Brahms vor, dessen Schwester Elise kommen zu lassen. Johannes war überglücklich, seiner leidenden Schwester eine solche Annehmlichkeit bieten zu können, und holte sie persönlich von Hause ab. Joachim leistete unterdes Frau Klara Gesellschaft.

Die Reisenden hatten die Absicht, vier bis sechs Wochen an einem und demselben Orte zu bleiben, und Brahms freute sich darauf, in herrlicher Gegend seine unterbrochenen Arbeiten fortzusetzen. Sein Freund Allgeyer, der von Düsseldorf in die Schweiz gegangen war, erhielt den Auftrag, »für fünf Men schen, die er lieb haben müsse«, Quartier zu besorgen. Gern möchte er mit der Schwester und Frau Schumann in einem Hause wohnen. Aber die Zimmer müßten so gelegen sein, daß er durch das Klavierspiel seiner Freundin nicht gestört werde. »In meinem Zimmer brauche ich keinen Flügel, nur ein Bett, kein Sopha, nur [284] zwei bis drei Stühle und Tisch. Ein aufrechtstehendes Klavier etwa aus Luxus.«15 Das Ziel der Fahrt scheint Luzern gewesen zu sein, wurde aber, wahrscheinlich auf Allgeyers Vorschlag, nach Gersau verlegt. Das am Fuße des Rigi zwischen dem »Vitznauer Stock« und der »Hochfluh« gelegene anmutige Dorf empfahl sich seiner milden, windstillen Luft wegen besonders für Frau Schumann und Elise Brahms. Über den Weg, welchen die Reisenden einschlugen, und seine Stationen sind wir ziemlich genau unterrichtet durch ein »Erinnerungsbüchlein«, das Frau Schumann im August 1856 für »ihren geliebten Freund Johannes« angelegt hat. Sie begannen ihre gemeinschaftliche Wanderung vom Grabe Schumanns aus und beschlossen sie auch dort nach fünfwöchentlicher Abwesenheit wieder am 23. September. Efeublätter bezeichnen Anfang und Ende der Reise. Das ganze Buch besteht nur aus gepreßten Blumen und Blättern, die von der Hand der Sammlerin eingeklebt und mit Ort und Datum versehen worden sind. Ausnahmsweise unterbricht einmal eine kurze Anmerkung diese stumme Blumensprache der Liebe: »Vergißmeinnicht von Johannes,« .... »Für Johannes im Walde gepflückt ....« »Wonniger Morgenspaziergang mit Johannes ....« »Von Johannes selbst gefundene Blumen.« Wie zart und pietätvoll sind die lachenden Blüten dieses Kranzes mit dem ernsten dunklen Grün, gebrochen an der heiligen Stätte der Erinnerung, durchflochten! Und wie manche dieser trocknen Blumen mag zu unvergänglichem Leben wiederaufgeblüht sein in einer Brahmsschen Melodie!

Die Reise ging am 14. August über Stolzenfels nach St. Goar; Burg Rheinfels und das Schweizertal bei St. Goarshausen wurden besucht. Am 16. blieben die Reisenden in Oberwesel, am 18. befanden sie sich in Heidelberg, wo Joachim, der, ehe er zu Schumanns Begräbnis nach Bonn kam, in Venedig gewesen war, den Sommer verbrachte. Vier Tage hielten sie sich im badischen Lande auf, trafen am 22. in Überlingen am Bodensee ein, machten von hier aus einen Abstecher nach Kloster und Schloß Heiligenberg, reisten über Winterthur nach Zürich und Luzern weiter [285] und langten am 30. in Gersau an. Ihr dortiger Aufenthalt währte etwa zwei Wochen und wurde zu Ausflügen auf den Rigi und Fahrten auf dem Vierwaldstädtersee benutzt. Brahms pilgerte von Gersau nach dem uralten Benediktinerstift Einsiedeln im Kanton Schwyz und wühlte in den Schätzen der reichen Klosterbibliothek, die 1190 Handschriften und 40,000 Bände besitzt; er erxzerpierte aus Frescobaldis »Toccate, Canzone etc. d'intavolatura di cimbalo ed organo« mehrere Stücke und andere altitalienische Kanzonen. Auf der Rückreise blieben sie fünf Tage in Heidelberg und legten am 23. September einen Kranz an Schumanns Grabe nieder. Es waren unvergeßlich schöne Tage eines durch Freundschaft und Liebe, Kunst und Naturerhöhten reinen Lebensgenusses gewesen, Tage, wie sie Brahms in seinen Knabenträumen vorahnend empfunden hatte, Tage der Verheißung und Erfüllung. Am 21. Oktober notiert Frau Schuman in ihrem Blumenbuche: »Letzter Spaziergang in Düsseldorf.« Sie wurde in Frankfurt a.M. und Kopenhagen zu Konzerten erwartet. Johannes konnte die Freundin nicht begleiten, ihre Wege trennten sich; der seinige ging nach Hamburg.

Otten wiederholte im ersten seiner Abonnementskonzerte am 25. Oktober Schumanns »Manfred« (diesmal sprach Devrient aus Hannover die Titelrolle), und Brahms spielte Beethovens G-dur-Konzert. Nie zuvor war er mit solchem Feuer bei der Sache, und sein Spiel erweckte, zum erstenmal in Hamburg, allgemeine Begeisterung. Dagegen fand das Schumannsche Melodrama noch weniger Anklang als im vorigen Jahre, obwohl, wie man meinte, der Tod des Meisters die Herzen der Zuhörer hätte besonders empfänglich stimmen müssen. Eine besondere, dem Andenken Schumanns gewidmete Feier wurde von Grund in den Philharmonischen Konzerten veranstaltet. Sie fand am 22. November unter Mitwirkung von Brahms und Joachim statt und begann mit dem Eingangschor aus Händels »Judas Makkabäus«. Danach sprach Franz Jauner16 (vom Stadttheater) einen Prolog, dem sich die Ouverture zu »Manfred« anschloß. Dann spielte Joachim mit Brahms zwei Phantasiestücke aus op. 73. Es folgten das »Requiem [286] für Mignon« und das Klavierkonzert in a-moll von Brahms vorgetragen. Den Schluß machte Joachim mit Bachs Chaconne (Brahms spielte dazu die von Schumann gesetzte Klavierbegleitung). Auch dieses Konzert vermochte die Gemüter der Hamburger nicht zu rühren, nur das »Requiem für Mignon« mit seinem vom Lieblichen zum Erhabenen fortschreitenden Pathos gefiel dem Publikum. Das Klavierkonzert wurde stillschweigend abgelehnt. Weder die Zuhörer noch die Kritik konnte klug daraus werden, es erschien ihnen wie ein Labyrinth von Tönen, zu welchen der leitende Faden fehlt, und das Lob, welches Brahms für den Vortrag erhielt, bestand darin, daß man ihm sagte, er habe sein Pensum »mit fehlerloser Ausdauer« absolviert.

Brahms, dem es leid war, das »schriftliche Beisammensein« mit Joachim, wie er ihren musikalischen Brief- und Notenwechsel nennt, so lange unterbrochen zu wissen, konnte sich einstweilen mit dem mündlichen Verkehr trösten. Auch daß er, noch dazu zur Kaffeezeit! zum erstenmale!! hatte durch Hannover reisen müssen, ohne ein paar Stunden bei dem Freunde zu bleiben, war ihm nahe gegangen. Nun blühten ihnen einige vergnügte Tage mit gemütlichen Musik-und Austernabenden in Gesellschaft von Grädener und Avé Lallement. Mit zwei Novitäten warteten sie Joachim auf, einem Trio von Grädener und einem Quartett von Brahms. Eines der beiden Klavierquartette (in g-moll und A-dur) war also doch fertig geworden, vermutlich das erste, wenn nicht mit dem Quartett, das Brahms Joachim ankündigt, jener erste Satz des im Winter 1873/74 beendeten »cis«-moll-Quartetts gemeint war. Joachim mag über die schnell gereiften Früchte ihrer kaum begonnenen Studien gestaunt haben. Sieben Wochen bewohnte diesmal Brahms sein Zimmer in der Lilienstraße und ließ es sich wohl sein bei Eltern und Geschwistern. Selbst eine dringende Aufforderung Joachims, nach Hannover zu kommen und dort »in einer ruhigen Stube«, die er mieten wollte, das Klavierkonzert zu vollenden, konnte ihn nicht von Hause weglocken. – Mit Otten verkehrte Brahms nicht mehr so freundlich wie zuvor. Der Direktor der Abonnementskonzerte nahm es ihm übel, daß er bei Grund in den »Philharmonischen« spielte, und Brahms spottete darüber, daß sich Otten auf der »Eselswiese« [287] der »Hamburger Nachrichten« bitten ließ, doch endlich einmal seine eigenen Kompositionen in den Konzerten aufzuführen.

Um diese Zeit trat er in nähere Beziehungen zu Ignaz Lachner, dem jüngeren Bruder Franz Lachners, den er beim vorjährigen Musikfest in Düsseldorf kennen gelernt hatte. Mit ihm, der schon ein bewegtes Leben hinter sich hatte, und seiner klavierspielenden Gattin Julie, einer Schülerin Tedescos, waren 1853, als Lachner den Kapellmeisterposten am Hamburger Stadttheater bezog, belebende neue Elemente im Hamburger Musikleben aufgetaucht. Ignaz machte dem kerndeutschen Schlage der Lachners (aus Rain in Oberbayern) alle Ehre. Er war ein knorriger gemütvoller Mensch und ein vortrefflicher Musiker, der sich als Komponist auf sämtlichen Gebieten der Tonkunst mit Erfolg versucht hatte, als ausübender Künstler auf mehreren Instrumenten zu Hause war und die Manieren der Leute in Nord und Süd genau kannte. Nachdem 1855 das Stadttheater in Hamburg zeitweilig geschlossen worden war, blieb er noch drei Jahre als Lehrer der musikalischen Theorie an der Alster und verfolgte auch fernerhin das emporsteigende Gestirn des Brahmsschen Genius mit Aufmerksamkeit und Teilnahme. Einer der wenigen, welche fest an die hohe Sendung des um sechsundzwanzig Jahre jüngeren Meisters glaubten, ließ er sich durch keinen Mißerfolg des Erwählten in seinem Vertrauen erschüttern und hielt treu zu ihm. Brahms wußte, was er an der Freundschaft des Alten besaß, und blieb ihm sein Leben lang von Herzen ergeben, bis Lachner 1895, im hohen Alter von achtundachtzig Jahren zu Frankfurt a.M. starb. Am 15. Dezember 1856 kam Frau Schumann von ihrer Konzertreise aus Dänemark über Kiel zurück und holte Johannes aus dem Elternhause ab, um das Weihnachtsfest in gewohnter Weise mit ihm in Düsseldorf zu verleben. Ein besonderes Feiertagsvergnügen machte sich Brahms damit, daß er Joachims Ouverture zu Hermann Grimms »Demetrius« für zwei Pianoforte setzte.

Weniger wollte ihm eine andere, dem Andenken Heinrich v. Kleists gewidmete Ouverture einleuchten, die ihm Joachim zuschickte. Wie er dem Freunde schreibt, habe ihm die Ouverture zwar viel Freude bereitet, und sie sei ihm so warm in Kopf und Herz geströmt, daß sie noch lange darin nachklingen werde. Aber sie habe keine [288] Vorzüge vor den früheren Ouverturen Joachims, ja sie biete (was die Erfindung betrifft) wohl kaum Ebenbürtiges. Das erste Thema sei allerdings so schön wie nur irgend eines von Joachim, und die Form sei so leicht gegossen wie noch nichts vordem. Er fühle sich manchmal versucht, die Formen der anderen Ouverturen stellenweise etwas schwerfällig zu finden, und er halte es daher für das Förderndste, wenn Joachim öfter so Schlankes, schön Gegliedertes schreibe. Doch möge der Freund dies nicht für einen »bestimmten Ausspruch« von ihm nehmen; den könne er nicht geben, da Joachims Kompositionen ihm so groß vorkämen, daß er alle seine Kräfte beisammen haben müsse, wolle er sie frei genießen. An einigen Stellen glaube er zu bemerken, daß der Komponist von seiner Leidenschaft zu stark ergriffen worden sei, um nicht den ruhigen Blick für seinen Gegenstand darüber zu verlieren. Übrigens hätte er, Brahms, nie auf Kleist als Stoff der Ouverture geraten. – Artiger kann man gewiß nicht kritisieren als mit dieser bewundernden Ablehnung.

Mit Grädener blieb Brahms in Briefwechsel und empfing gern Briefe von ihm, die Hamburger Musiktratsch enthielten. Wenn Grädener keine Lust zum Schreiben hätte, sollte er die Neuigkeiten nur einem seiner Quint- oder Quartaner in die Feder diktieren. Damit sind Grädeners Söhne gemeint, mit denen Brahms, so oft er in Hamburg war, gern allerlei Eulenspiegeleien aufführte. Daß Otten Reinthalers Oratorium »Jephta«17 einstudieren wolle, gehe über alle Begriffe, obwohl er viel von Otten erwartete: »Einerlei, ob er es gehört hat, oder ob er bloß blind nach Neuem gegriffen, man ist doch mit ihm fertig!« Brahms war sehr übler Laune, als er dies schrieb, und litt obendrein an Zahnschmerzen. In demselben Briefe ruft er aus: »Die Verleger sind Lumpenhunde! – Auch eine der tiefen Weisheiten, welche die Alten noch nicht kannten, und die ich im Plutarch vergebens suche. Des Wissens und Lernens ist kein Ende.« Grädener hatte dem Andenken Schumanns zu Ehren und[289] um Frau Klara eine Aufmerksamkeit zu erweisen, den mehrstimmigen Gesang »Zigeunerleben« für kleinen Chor mit kleinem Orchester gesetzt (das Lied ist dann in dieser Bearbeitung bei Rieter-Biedermann erschienen), und Brahms glaubte den Freund daran erinnern zu müssen, daß es nichts Undankbareres gebe als dergleichen Bearbeitungen. Jeder, der es ebenfalls auch hätte machen können, habe das Recht, daran herumzunörgeln, und dieses Recht gebrauche man oft zu viel. Auch Reinecke, auf den Brahms nicht gut zu sprechen war, weil er ihn irriger Weise in Zusammenhang mit dem Schmähartikel der Süddeutschen Musikzeitung (siehe Kap. VI) brachte,18 habe das »Zigeunerleben« instrumentiert, und so sei es in Barmen bereits aufgeführt worden. »Ist das auch in der Ordnung?« fragt er entrüstet. Niels Gade war der Dritte, der dasselbe Schumannsche Lied für Orchester arrangierte. Er hat (nach Brahms) alles voller gesetzt, auch wohl lebhaftere Figuren angebracht. Bei einem so kurzen Stück, meint Brahms, lasse sich nicht viel darüber sagen. Es werde sich bei Grädener leichter und flotter anhören, wenn die Blasinstrumente nur zuweilen hineinführen, als bei Gade, bei dem das Ganze rauschend und pikant klinge. »Willst Du mir einen Gefallen tun, so nimm Dreiklänge statt Sept-Akkorden zum Schluß!« Aus der Art, wie Brahms die Leistungen seiner Freunde kritisierte, ersieht man, auf welcher hohen Stufe gereifter Erkenntnis sein Urteil schon damals angelangt war. Seine Kritik war keine unfruchtbare, da sie nicht bloß negierte, sondern dem Getadelten mit gutem Rat beisprang. Köstlich ist die Bemerkung, mit der er die Rücksendung einiger Kompositionsübungen Joachims begleitet, nachdem sie im Frühjahre 1857 ihre gemeinschaftlichen Studien wieder aufgenommen hatten. Brahms lobt das schöne Thema einer c-moll-Fuge und deren phantasievolle Zwischenspiele und fährt dann fort: »Die beiden anderen Fugen sind so Arbeiten, die einem erklärlich machen, weshalb man so selten daran geht und so oft die Lust verliert.« Aber es wäre gewiß gut, wenn man sich zwänge, täglich sein [290] Pensum darin fertig zu machen. Joachim solle nur weiter schicken: er werde das nächstemal auch aufwarten mit etwas Langweiligem, denn er wollte einige Kapitel in Marpurg lernen.19

Jetzt aber mußte ihm der Freund mit seinen Erfahrungen und Kenntnissen im instrumentalen Fache herhalten, denn Brahms nahm sein Hauptwerk von 1854 wieder vor, das ursprünglich als Symphonie gedacht, dann aber auf eine Sonate für zwei Klaviere reduziert worden war, weil der Komponist sich zu schwach fühlte das Orchester für ein Finale aufzubieten, welches seinen gewaltigen Intentionen und den ersten drei Sätzen entsprochen haben würde. Seit drei Jahren hatte Brahms immer wieder fruchtlose Versuche gemacht, mit dem kühnen und gewagten Entwurfe fertig zu werden. Seine Bemühungen waren die reine Sisyphus-Arbeit gewesen. Wollte er das Werk nicht gänzlich verloren geben, so mußte er es von einer anderen Seite angreifen. Er bemerkte, daß die angebliche Sonate trotz ihrer auf vier Hände berechneten Technik, dem Klavierauszuge einer Symphonie zum Verzweifeln ähnlich sah, daß sie aber doch schon zu innig mit dem Klavier verwachsen war um neuerdings ohne empfindliche Einbußen sich wieder in die Symphonie zurückverwandeln zu lassen. Er stand vor einer unlösbaren Aufgabe, bis ihm, wie schon im Kap. V ausgeführt wurde, der rettende Gedanke kam, die Sonate in ein Konzert mit Orchester umzugießen. Ihr erster und dritter Satz (Allegro und Adagio) konnten in den Grundzügen beibehalten werden; der sarabandenartige Totenmarsch des zweiten, der dann im »deutschen Requiem« eine passende Stelle fand, fiel aus, und für das Finale sorgte ein konzertmäßiges Rondo. Die Genesis des Werkes erklärt die Ungleichheit seiner Teile und das schwankende Wesen seines Grundcharakters. So reich das Finale mit interessanten Partien ausgestattet ist, und so prächtig es bis zur Kadenz (quasi fantasia) gesteigert wird, um dann in ein heiteres Dur überzugehen, das Gleichgewicht vermag es dem furchtbaren Ernst des ersten, weitausholenden Satzes nicht zu halten. Grade aber dieses bis zum trotzigen Übermut gesteigerte, galgenhumoristische Rondo ist der konzertmäßigste Satz des ganzen [291] Werkes; er würde in anderer Umgebung, losgelöst von dem Kolosse des Allegros, noch weit besser zur Geltung kommen als hier, wo er nach der heiligen Szene des Adagios allzu unvermittelt, weltlich und siegesgewiß losstürmt, scheinbar ohne sich um die Dämonen weiter zu bekümmern, die der Komponist des ersten Satzes aus dem Abgrund heraufbeschworen hat.

Bis in den Dezember hinein hielt ihn das Werk unausgesetzt in Schach, und die einzelnen Sätze wanderten immer wieder zwischen Joachim und Brahms hin und her. Grimm hatte dabei eine beratende Stimme. Brahms, der den ersten Satz vereinfacht und erleichtert hatte, bat Joachim, ihm jedes kleinste seiner Bedenken mitzuteilen. Es ist ihm sehr lieb, zu hören, daß die Freunde mit dem Adagio einverstanden seien, und er würde das Rondo, das darüber gar nicht in Betracht komme, gleich mitschicken, wenn er es nicht doch noch länger bedenken müßte. Joachim hat ihm darin eine Stelle à la Kalkbrenner aufgemutzt, und er hat eine Viertelstunde laut gelacht. Daß Joachim meinte, er könne so etwas übelnehmen, hat ihn noch besonders amüsiert. Am 22. April kommt das Rondo zum zweitenmal und bittet um recht strenges Urteil. Er hat geändert und hoffentlich auch verbessert. »Der Schluß war zu flüchtig und gab nicht, was ich wollte.« Nun legt er die ersten zwei Sätze noch einmal bei, damit Joachim ihm vielleicht noch einiges sage, was er verbessern könne. Auch Hiller wurde von Brahms zu Rate gezogen. Mit der Instrumentierung hatte, wie gesagt, der Komponist des d-moll-Konzertes seine liebe Not, und er verdankt besonders in dieser Beziehung Joachim manchen nützlichen Wink. »Ich bin noch gar zu unwissend darin,« gesteht er ehrlich gerade heraus, »und weiß mir wirklich nicht zu helfen. Mit den Hörnern bin ich auch wohl in Konfusion gekommen. Müssen es tiefe B-Hörner sein, und kann man sie nicht mehr benutzen, vielleicht am Schlusse als D-Hörner?« Soll er die dem dritten Horn zugeschriebene Solostelle im ersten Satz nicht lieber vom ersten blasen lassen? Die Pikkoloflöte könnten sie wohl ganz streichen, da sie nur acht Töne im ersten Satz habe. Daß er außer den Hörnern in D noch tiefe B-Hörner, die gelegentlich nach F mutieren, vorschreiben mußte, schien ihm nicht geheuer, und die Pikkoloflöte hat er richtig weggelassen; die Triller in den Tuttistellen [292] des Orchesters waren ihm gell und schneidend genug, der zweimal vier Töne wegen wollte er keinen Bläser inkommodieren. Im Juni erbittet er sich das ganze Konzert zurück; er glaubte so weit zu sein, um es Frau Schumann zum Üben geben zu können. Es bestand also die Absicht, seine Freundin das Werk zuerst öffentlich vortragen zu lassen. Daß er ihr damit viel zumutete, verhehlte sich Brahms nicht. Der schwierigen Technik war ja die Meisterin des Klaviers gewachsen, aber an die nach einer männlichen Kraft verlangende Anstrengung konnte sie sich doch nur allmählich gewöhnen. Als Brahms sein Werk dann wieder vor Augen bekommt, genügt es ihm erst recht nicht. Am 22. Dezember sendet er wieder einen neuen »Probedruck,« eine épreuve d'artiste, an Joachim. Fast ein halbes Jahr hat er daran gearbeitet. Resigniert begleitete er die Sendung mit den Worten: »Ich habe kein Urteil und auch keine Gewalt mehr über das Stück. Es wird nie was Gescheutes daraus.« Joachim war nicht so pessimistisch wie sein verzweifelter Freund; er behielt das Konzert noch einmal zu genauem Studium bei sich und ermunterte Brahms, die Geduld nicht zu verlieren. Im Januar 1858 verlangte es Brahms zurück: »Ich möchte mich gern wieder einmal darüber ärgern,« und noch kurz vor der ersten Aufführung, die am 22. Januar 1859 in Hannover stattfand (die im Leipziger Gewandhause vom 27. Januar 1859 war die zweite), hatte er an dem »unglückseligen ersten Satz, der nicht geboren werden kann,« zu ändern und zu bessern.

Ohne Kenntnis von der Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des Werkes fühlte sich mancher seiner Beurteiler versucht, es für einen herausfordernden Bruch mit der Tradition, für eine in bewußter Absicht durchgesetzte, gewaltsame Neuerung zu halten. Daß dem nicht so ist, glauben wir nach dem Vorangeschickten kaum noch tiefer begründen zu müssen. Die Geschichte hat den Beweis für uns erbracht. Es erging Brahms ähnlich wie Beethoven bei seiner neunten Symphonie; das Schicksal dieses Werkes, das auf sein Konzert anregend und befruchtend eingewirkt hat, wurde verhängnisvoll auch für ihn, und er schuf etwas ganz anderes, als er zu schaffen beabsichtigt hatte. Der heitere Tag, an welchem er mit der Zufriedenheit des Schöpfers sein Werk hätte betrachten und sich sagen können, daß es sehr gut war, erschien [293] auch ihm nicht, und er teilte das stolze Ungenügen Beethovens, dem bekanntlich das Finale der Neunten keineswegs so wohl gefiel wie seinen nachgeborenen Bewunderern. Der erste Satz des d-moll-Konzertes weicht notgedrungen von der herkömmlichen Form ab, weil er, schon nach der Struktur seiner Themen, Symphonie-und Konzertsatz zugleich sein mußte. Spät – nach neunzig dem Orchester überlassenen Takten, die den Ideenkreis des Allegros durchlaufen und den ersten Teil einer Symphonie bedeuten könnten – setzt die Prinzipalstimme ein. Man erwartet das Klavier gar nicht und ist überrascht, ihm zu begegnen. Es tritt mit der Melodie auf:


7. Kapitel

diese Melodie ist organisch aus einer Übergangsgruppe der Introduktion hervorgewachsen und durch die wogende, aus dem Hauptthema abgeleitete Begleitungsfigur mit dem Grundgedanken des Satzes verbunden; selbst das Akkompagnement hat, wie jede Note des Satzes, thematische Bedeutung. Folgende Beispiele zeigen den Zusammenhang:

Hauptthema:


7. Kapitel

[294] Anschließendes Thema:


7. Kapitel

Übergangsgruppe:


7. Kapitel

Besser konnte der überraschende Eintritt des Klaviers gewiß nicht vorbereitet werden Wie ein Chor von klagenden Stimmen stellt es sich dem Orchester gegenüber. Es ist, als könne der Spieler an das furchtbare Schreckensbild nicht glauben, welches das Tutti vor ihm aufgerichtet hat, bis er selbst von den wilden Fieberschauern des Hauptmotives gepackt und als aktiver Teilnehmer in die Katastrophe verstrickt wird. Das eigentümliche Seitenthema des Satzes steht, der Regel entsprechend, in F, der Durparallele von d-moll, und bringt mit seinen Baßimitationen einen gefesteten, beruhigenden Eindruck hervor; aus der Einleitung hat es den poetischen Signalruf übernommen:


7. Kapitel

der fortan in seiner Gefolgschaft erscheint und vom Komponisten zu den erschütterndsten Effekten benützt ward. Behält man diese Verhältnisse im Auge, so ist die Übersicht über den von prägnanten Tongedanken geschwellten Satz wesentlich erleichtert, und seine fünf oder sechs Themata, von denen zwei dem Soloinstrument vorbehalten blieben, gruppieren sich in symmetrischer Weise. Im Durchführungsteile übernimmt eine tiefschmerzliche Melodie, welche zuerst von den Holzbläsern in b-moll gebracht worden war und vom Klavier später reizend umspielt wird:


7. Kapitel

[295] eine hervorragende Rolle. Bei einer nur von Violoncellen und Kontrabässen begleiteten Solostelle des Klaviers (Seite 72 der Partitur), welche dieselbe Melodie paraphrasiert, taucht einen Augenblick visionär das Adagio der Beethovenschen B-dur-Sonate op. 106 mit der Variation des Themas in Zweiunddreißigsteln auf. Bei der (freien) Wiederholung setzt das Hauptthema auf dem Dominantseptakkord von A ein, das Gesangsthema kehrt in D wieder, auch der dem Solohorn zugewiesene Signalruf bleibt bei dieser Tonart, der Schluß des Satzes aber wird aus der oben zitierten Übergangsgruppe, beziehungsweise der Eintrittsmelodie des Klaviers gebildet, so daß gleichsam zuletzt noch die Suprematie des Soloinstrumentes und somit der konzertmäßige Charakter der Symphonie ausgesprochen und anerkannt wird.

Es bedarf wohl nur einer Andeutung, daß es in dem Satze von Feinheiten der thematischen Arbeit wimmelt. Der Geist des Komponisten schaltet so frei mit seinem Stoffe, daß er jede Nuance ausdrücken kann, die ihm durch den Sinn geht, und die verschiedenen Themata werden von dem an der Spitze des Werkes stehenden Hauptgedanken beherrscht, ohne etwas von ihrer Freiheit und Beweglichkeit einzubüßen. Tote Punkte gibt es bei Brahms nicht mehr. Alles ist mit impulsivem, kräftigen Leben erfüllt. Trotz seiner Verwandtschaft, ja wenn man will, Abhängigkeit von Beethoven, hat dieser grandiose Satz des Konzerts ein durchaus eigentümliches Leben und völlig individuelles Gepräge, und steht in seiner finsteren Majestät neben dem Allegro der neunten Symphonie wie dessen titanenhafter Bruder da. Wenn das unvergängliche Denkmal, das er dem heimgegangenen Freunde darin errichtete, Brahms so wenig befriedigte, daß er in seiner c-moll-Symphonie und im »Deutschen Requiem« noch zwei andere, kunstvollere und erhabenere Monumente im Andenken an Robert Schumann aufführte,[296] so kehren wir doch immer mit besonderer Vorliebe zu dem d-moll, Konzerte zurück, das zugleich ein Denkmal an die von wilden, aber reinigenden Stürmen durchbrauste Jünglingszeit unseres Helden ist.

Das Adagio, welches, wie der erste Satz, im Sechsvierteltakte geht, wäre durch die ehemalige Überschrift: »Benedictus qui venit in nomine Domini« hinlänglich charakterisiert, wenn nicht das Bibelwort bei Unkund, gen den Schein erweckte, es handle sich dabei um eine kirchliche oder religiöse Zeremonie. Brahms tat gut, die Überschrift, welche sich mit den ersten fünf Takten des friedlichen Gesanges der Violinen deckt, zu streichen. Aber sie war bereits bekannt geworden und hatte sich herumgesprochen, ohne daß jemand ihren verborgenen Sinn geahnt hätte. Angekündigt und getragen von den Seraphsklängen, kommt die Solostimme und singt den Verlassenen ihr inniges Trostlied; die harmonischen Stimmen der Begleitung wiederholen bruchstückweise das »Benediktus«. Welche begütigende, überredende, sauste Gewalt liegt in dieser Botschaft und in den sich anschließenden Wechselreden zwischen dem Soloinstrument und dem Tutti des Orchesters, von welchem sich einzelne Gruppen bedeutend ablösen! Man denkt an einen Parakleten, der jedem Rede und Antwort steht, jeden nach seiner Art beschwichtigt. Wenn sie dann alle in das Benediktus einstimmen, hat der Gesendete, der im Namen des abwesenden fernen Herrn gekommen ist, seine heilige Mission vollendet, und er begleitet das Lied mit feierlichen Arpeggien. Über das Finale und seine konzertmäßige Bedeutung ist schon gesprochen worden. Joachim, der treue kritische Mitarbeiter des Werkes, fand so viel an dem Rondo, wie es Anfang 1857 vorlag, auszusetzen, daß es ihm fast lieber gewesen wäre, wenn Brahms einen neuen Schlußsatz komponiert hätte. Brahms aber hielt an dem Rondo fest und brachte es durch unermüdliches Überarbeiten dahin, daß Joachim und Klara mit ihm zufrieden waren.

Ob Frau Schumann in das Geheimnis des Konzerts ein, geweiht war? Schwerlich. Und wenn sie es durchschaute, hätte sie sich gehütet, zu Brahms davon zu sprechen. Über seine Gefühle zu reden oder reden zu hören, war ihm ganz unmöglich. Nur vor der [297] unsterblichen Göttin enthüllte er seine schamhafte Seele, und in der Musik sprach er aus, was ihn bewegte.20. Es mag der Künstlerin schwer gefallen und lange nicht gelungen sein, das Konzert ihres Freundes zu bewältigen, und erst das Fiasko, das er mit ihm erlebte, zwang die edle Frau, aus ihrer wohlbegründeten Reserve heraus mit Männern in die Schranken zu treten, Farbe zu bekennen und für den Verkannten und Verleumdeten, wenn es sein mußte, zu leiden und zu bluten. Sie war die teilnahmsvolle Zeugin seiner Kämpfe und Zweifel gewesen, sie wollte auch die Erweckerin seiner Siege und Triumphe sein oder mit ihm für die gute Sache unterliegen. Von England zurückgekehrt, wohin sie im April zum zweitenmale gegangen war, verbrachte sie einen Teil des Sommers mit Brahms, Joachim und Grimm auf Reisen am Rhein.

Brahms hatte vorher in Göttingen mit Joachim konzertiert und bei dem kritisch gestimmten allgemeinen Publikum der Musenstadt einen geteilten Eindruck hinterlassen. Seit Hille Musikdirektor an der Universität geworden war und Grimm dort [298] anregend wirkte, kam ein lebhafteres Tempo in das Musikleben Göttingens, und Brahms lernte die Annehmlichkeiten, welche die Leitung eines eigenen Chorvereines dem Musiker gewährt, aus eigener Anschauung bei seinen Freunden Dietrich und Grimm kennen. Auch in Bonn hatte er sich im Juni 1857 aufgehalten. Dem rheinischen Musikfeste aber, das diesmal in Aachen unter Liszts Direktion stattgefunden hatte, war er absichtlich ausgewichen. Er legte, wie er Joachim schreibt, stillschweigenden Protest ein durch Wegbleiben. Liszts »Festklänge« und Es-dur-Konzert, sowie Berlioz' »L'enfance de Jésus Christ« waren sein Geschmack nicht. Mitte Juli sah er mit Frau Klara die wohlbekannten Stätten am Rhein wieder, die sie an ihre vorjährige, unmittelbar nach Schumanns Tode unternommene gemeinschaftliche Reise erinnerten. Sie wohnten wieder im freundlichen St. Goar und flogen von dort in die reizende Landschaft aus. Am 25. Juli machte Frau Schumann, wie sie in einem ihrer Blumenbücher notiert, »einen recht glücklichen Spaziergang mit Johannes allein auf die, Maus' Katze und Maus werden zwei einander gegenüberliegende Ritterburgen bei St. Goarshausen genannt) und über die Felder zurück«. Mit Joachim, der Anfang August zu den Freunden stieß, wurden Lorch und die Sauerburg, mit Grimm Kreuznach und die bayrische Pfalz besucht.

Diese Reisen und Ausflüge, zu welchen Frau Schumann sich mit den drei nächsten Freunden ihres Hauses verband, hatten für sie noch eine besondere Bedeutung. Denn sie war im Begriff, Düsseldorf für immer zu verlassen und nach Berlin zu übersiedeln, wo sie auf neue musikalische Anregungen und auf einen größeren Wirkungskreis als Pianistin und Lehrerin hoffen durfte. Die letzten, am Rhein verlebten Wochen, waren für sie infolgedessen ein beständiges Abschiednehmen, und als sie am 5. September mit Johannes am Grabe ihres Robert weinte, wußte sie, daß eine der glücklichsten Epochen ihres Daseins hinter ihr lag. Ihre stillen Tränen galten dem Toten und dem Lebenden, von dem sie sich nun auch trennen mußte. Johannes hatte ihr eine zweite Jugend geschenkt, indem er ihr einen Teil der seinigen aufopferte. Das Schicksal, das den geliebten Freund von ihrer Seite abrief, um ihn am Fürstenhofe zu Detmold in neue, der Entfaltung [299] seines Talentes günstigere Verhältnisse zu bringen, forderte seinen Tribut. Die Seligkeiten und Träume ihrer Liebe ließ sie mit ihrer Jugend am Rhein zurück. An ihrem neununddreißigsten Geburtstage hatte sie mit den rosigen Freuden des Lebens abgeschlossen.

Fußnoten

[300] 1 Er schrieb dem Freunde, er kenne wenig Stücke, die den Eindruck der Einheit, Schönheit, seliger Ruh' so sehr auf ihn machten wie diese Fugen-Musik. Die Bezeichnung »trübe« passe nicht darauf, denn das Traurige, Bedrückte löse sich so sanft in Trost und Hoffnung, daß es zugleich erhebe. Von der weichen Stimmführung wolle er gar nicht reden: aller Kontrapunkt, so bedeutend er sei, werde hier zur Nebensache.


2 Es hat sich in einem Stimmenhefte des Hamburger Frauenchors (1859–62) gefunden. Siehe weiter unten Cap. IX.


3 »Aus dem Konzertsaal.« Kritiken und Schilderungen von Eduard Hanslick. 1. Ausgabe 1870, p. 96.


4 Bei der Besprechung der Variationen auf Seite 182 ist das Gehörige über die vermeintliche Reminiszenz gesagt.


5 Brahms hat niemals eine Zeile von Lenau komponiert. Als ihm das Andenken des Dichters durch eine für Lenaus Charakter höchst ungünstige literarhistorische Publikation verleidet worden war, schenkte er dem Herausgeber das Manuskript mit den Worten; »Ich mag die Handschrift nicht mehr besitzen.«


6 Geboren am 10. Dezember 1823 in Neukirchen, gestorben am 19. September 1903 zu Hamburg. »Theodor Kirchner,« von A. Niggli.


7 a.a.O.


8 Brahms gab viel auf das Urteil Stockhausens. Sein herrlicher Vortrag hat das Lied »Die Schale der Vergessenheit« op. 46 Nr. 3 vom Untergange gerettet. Er sang es 1868 in Bonn aus dem Manuskript so schön, daß Brahms sich bewegen ließ, das »wüste Zeug« herauszugeben. So erzählte mir Deiters; mir selbst teilte Brahms, indem er mir das Lied »Mit vierzig Jahren« op. 94 Nr. 1 zeigte, befriedigt mit, daß Stockhausen, als er es in Frankfurt mit ihm probierte, von Rührung überwältigt, nicht habe zu Ende singen können.


9 Gemeint sind die 1869 und 1871 bei J.P. Gotthard in Wien erschienenen Ländler, Deutsche und Ecossaisen, welche Brahms in Originalmanuskripten und Abschriften besaß. In einige der damals noch ungedruckten war er sein Leben lang verliebt.


10 »Musikalische Erlebnisse« von Kl. Groth. »Gegenwart,« 1867, Nr. 44.


11 Sittard, a.a.O.


12 »Bach und die Hamburger Bach-Gesellschaft.« Ein Beitrag zur Kunstkritik von Karl G.P. Grädener. Hamburg 1656. Die betreffende Stelle lautet: »Und also macht's mit Bach! Laßt ihn selber einherschreiten im eigenen Harnisch, mit Zopf unserthalben und aber Schwert, Perrücke und Hellebarde, Manchetten und Donnerwort – sei's körnig auch und derb, wenn Ihr's so findet – ihn selbst, leibhaftig den Koloß und riesentönig! Es eignet einmal keine andere Sprache seinem Munde als die eigene; und blieb auch vieles drin der Menge unverständlich, durch die er hindurchschritt, redend, tönend – doch wird dieselbe staunend horchen, und es wird das bloße Stampfen seines Fußes ihnen sagen: Das war ein großer Mann, ein Held, ein Sieger!«


13 Als der niemals beendete Streit über das Akkompagnement in älteren Musikwerken zu Anfang der Siebzigerjahre wieder ausbrach (zwischen Friedrich Chrysander, Philipp Spitta und Julius Schaeffer, der für die Robert Franzschen Bearbeitungen Bachscher und Händelscher Werke eintrat) nahm Brahms gegen Schaeffer Partei, wenn auch nicht öffentlich. In längeren Debatten, die ich darüber mit ihm hatte – mir gefielen einige der von Franz höchst kunstvoll und geistreich durchgeführten Versuche sehr gut – wiederholte Brahms öfters den Ausdruck »bescheidentlich«. Ihm kamen die Modernisierungen der Instrumentation und die üppige Polyphonie, die Franz aus dem Generalbaß entwickelte, unbescheiden vor; sie schienen ihm dreiste und tadelnswerte Übergriffe zu sein, und als ich ihm einwarf, das Orchester Bachs und Händels klinge uns doch gar zu dürftig, entgegnete er, wir hätten gar keine Vorstellung davon, wie herrlich es in der alten Besetzung mit seinen unglaublich vervielfachten Bläserstimmen und in der Verbindung mit Klavier und Orgel in der Kirche geklungen habe. Glauben Sie, fragte ich ihn, daß Bach, wenn er an der Orgel saß und Arien begleitete, sich mit der einfachen harmonischen Auflösung des bezifferten Basses begnügt haben würde? »Quod licet Bacho non licet Francisco« replizierte er schlagfertig.


14 Litzmann, a.a.O. S. 415.


15 Diese, die Bedürfnislosigkeit des Tondichters charakterisierende Zimmereinrichtung wurde typisch für die Brahmsschen Landwohnungen der Zukunft.


16 Der nachmalige Direktor der Hofoper, des Ring-und Karltheaters in Wien.


17 Otten führte das Oratorium Reinthalers am 26. März 1837 im »Hamburger Musikverein« auf.


18 Verleumderische Zwischenträger hatten das Gerücht Brahms übermittelt. Reinecke gehörte Zeit sei nes Lebens zu den aufrichtigen Verehrern des Tondichters und hat seinem Andenken eine schöne Violoncellsonate (op. 238) gewidmet.


19 F.W. Marpurgs »Abhandlung von der Fuge« 1753–54.


20 Als Zeugnis für die unglaubliche Zurückhaltung, die Brahms auch den nächsten Freunden gegenüber beobachtete, ist mir gerade, was Klara Schumann betrifft, ein persönliches Erlebnis unvergeßlich geblieben. Die Künstlerin hatte mich im Mai 1880, bei der Enthüllung des Bonner Schumann-Denkmales, nach Frankfurt eingeladen. Brahms' Geburtstag wurde bei ihr mit einer musikalischen Abendgesellschaft gefeiert, bei welcher u.a. Frau Schumann die beiden neuen Brahmsschen Rhapsodien op. 79 spielte. Brahms, der in ihrem Hause wohnte, war die ganze Zeit über nicht besonders gut aufgelegt. Am nächsten Vormittag beklagte sich Frau Schumann bei mir über sein schroffes Benehmen und fragte mich, ob ich nicht wisse, warum Brahms verstimmt sei. Ich erwiderte, er habe sich nicht darüber geäußert, übrigens sei mir auch nichts besonderes an ihm aufgefallen. Nach meinem Dafürhalten wäre es das Beste, dergleichen Launen gar nicht zu beachten, sie verzögen sich dann bald wieder von selbst. »Ja,« sagte Frau Schumann, »so denken die Männer. Aber wir armen Frauen fühlen uns gekränkt und verletzt«. Als sie das sagte, traten ihr die Tränen in die Augen. Dann fing sie nach einer Pause wieder an: »Werden Sie es mir glauben, daß Johannes trotz unserer langen und intimen Freundschaft niemals von dem gesprochen hat, was sein Gemüt bewegte? Er ist mir noch heute so rätselhaft, ich möchte fast sagen so fremd, wie er mir vor fünfundzwanzig Jahren war.«

Quelle:
Kalbeck, Max: Johannes Brahms. Band 1, 4. Auflage, Berlin: Deutsche Brahms-Gesellschaft, 1921, S. 259-301.
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