Verfall des Kunstsinns in Prag

[405] Aber die Oper war es nicht allein, die in den letzten Jahren vor Weber's Ankunft in Prag daselbst in Verfall gekommen war. Der lange Krieg hatte die Mittel der Aristokratie in anderweiten Anspruch genommen, der Sinn hatte eine, von der Kunst abgelenkte Richtung, auf Politik erhalten, die meisten Privatcapellen der Großen waren eingegangen, die politische Gährung hatte die Stände und Nationalitäten strenger von einander gesondert, als sonst jemals in dem freundlichen Prag für möglich gehalten worden war, Geselligkeit, geistiger Austausch waren in's Stocken gerathen, die gemeinsamen Interessen hatten sich in Kasten- und Coterienwesen aufgelöst, und das Publikum, eitel auf seinen Ruf, irre gemacht in seiner Richtung, unbestimmten Strebens nach Vortrefflichem verlangend, erschwerte durch seine Kühle wie durch die Unsicherheit seiner Meinungsäußerung dem Künstler überaus das Erkennen des Rechten, so daß Prag ein gut Theil seines alten Ruhms mit in die Waagschaale werfen mußte, um, bei der Prüfung, als tonangebende Stadt in der Musikwelt nicht zu leicht befunden zu werden.

Das war das Bild, welches sich vor Weber's Augen von der Sphäre gestaltete, in der er fortan thätig sein, eine neue Kunstanstalt schaffen sollte.

Er verkannte nicht die ungeheure Schwierigkeit, die sich ihm dabei entgegenstellte und in den eben dargestellten Verhältnissen wurzelte, aber er wurde auch der Kraft der Stützen vollkommen inne, die ihm das Entgegenkommen der öffentlichen Meinung, die unumschränkte Gewalt, die ihm das Vertrauen Liebich's lieh, und seine Kenntniß des Bühnenwesens bot.

Quelle:
Weber, Max Maria von: Carl Maria von Weber. Ein Lebensbild. Band 1, Leipzig: Ernst Keil, 1864, S. 405.
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