VI. Maltesische Sagen von Paulus.

[193] a) Als der heilige Paulus unten in der Meeresbucht Schiffbruch litt, kamen die Leute aus Naxar1 herzu, standen ihm aber erst dann bei, als sie sahen, daß[193] er am Schlangenbiß nicht zugrunde ging, sondern das giftige Tier einfach ins Feuer schleuderte. (Seitdem ist den Schlangen von Malta das Gift genommen, und sie sind fast scheu geworden, während sie früher die Leute angriffen. Überhaupt gibt es, durch die Segnung des hl. Paulus, auf der ganzen Insel kein giftiges Tier, da weder die Skorpione noch die Kreuzspinnen noch die Kröten oder die Schildkröten usw. Gift in sich haben.) Und da der hl. Paulus völlig durchnäßt war, legte er seine Kleider ab und trocknete sie. Die von Naxar aber warteten einen günstigen Moment ab und machten sich damit davon. Der hl. Paulus aber hatte alles mit angesehen, und als die Diebe nun ein Stück entfernt waren, sahen sie mit einem Auge zurück, mit dem andern auf die Beute. Da fluchte ihnen der Heilige, und siehe! ihre Augen blieben stehen, wie sie waren: sie schielten, und die Diebe kamen zurück, da sie den Weg verfehlt hatten und nicht vorwärts blicken konnten. Der Heilige aber nahm ihnen seine Kleider ab. Seitdem schielen die Einwohner dieses Dorfes und lügen noch obendrein, wenn sie behaupten, sie hätten dem hl. Paulus die Kleider getrocknet.


b) Als der hl. Paulus einst den Leuten von Hal-Zebbug eine Lehrpredigt hielt, spotteten sie seines langen Bartes, und einer aus ihrer Mitte schrie spöttisch: »Der Bart versteckt deinen vorstehenden Unterkiefer nicht, seht nur den ungleichen Wuchs!« Dabei schlug er sich unter das Kinn, und sogleich änderte der Unterkiefer seinen Sitz und ragte soweit vor, daß die untern Zähne den obern einen Fingerbreit vorstanden. So ist es geblieben bis auf den heutigen Tag, und darum sehen die Leute dieses Dorfes jüdisch aus.


c) Als der hl. Paulus auf Malta predigte, fürchtete er, daß die Nachkommen des Inselvolkes dem alten Unglauben, den er ausgerottet hatte, wieder anheimfallen könnten. Darum predigte er mit so lauter Stimme, daß sie in Afrika, in Sizilien, in Gozo und natürlich auf der ganzen Insel vernommen ward und noch dazu in die Steine, in die Felsen eindrang. Dort finden wir sie noch heute in der Form der »Zunge des hl. Paulus«. Auf diese Weise hinterließ er eine stete Mahnung und baute dem Unglauben vor, da die Zungen nur von Zeit zu Zeit gefunden werden.

(Unter den 80–90 verschiedenen Fossilien, die auf Malta gefunden werden, gibt es häufig »Zungen des hl. Paulus«, in Wahrheit versteinerte Zähne, die allerdings der menschlichen Zunge sehr ähnlich sehen und wahrscheinlich vom Ichthyosaurus stammen. Mit diesen Zähnen wurde viel Unfug getrieben: gepulvert und mit allerlei Zutaten versetzt, sie heilten schleichende Krankheiten, halfen aber auch gegen Stottern; das einfache Pulver heilte Biß- und Stoßwunden, die umgehängte, als Anhängsel getragene Zunge schützte gegen Vipernbiß und gegen den mißgünstigen Blick. Heute ist dieser Aberglaube weniger verbreitet. – Größe dieser Zungen ist oft bis 5, ja 6 Zoll Länge, bis 4 Zoll Breite. Doch gibt es auch niedliche, kleine. Farbe glänzend, wie hellbraune oder dunklere Gla sur. Vorderrand ist leicht gezähnt.)


d) Als der hl. Paulus in den unteren Teil des Dorfes Zeitun kam, um die Einwohner zu bekehren, wollten sie nichts davon wissen, sondern trieben ihn hinaus und schrien, mit den Füßen zornig stampfend: »Nein, wir brauchen dich nicht, nein, wir wollen es nicht glauben, was du sagst!« Von der Minute an wurden ihre vordem kleinen Füße zu häßlichen Plattfüßen, und das vererben sie nun seither an Kind und Kindeskinder. Dagegen tragen die Bewohner des oberen Zeitun dieses von Gott gesandte Kennzeichen nicht an sich, weil sie sofort bereit waren,[194] dem hl. Paulus zu glauben. Kommen sie aber in Streit mit den »untern«, so gilt es als größte Beleidigung bei diesen, wenn sie »Plattfüße« geschimpft werden.


Eine andere maltesische Legende vom Plattfuß knüpft an den Gang nach Golgatha an; sie möge gleich hier angeführt werden.


e) Als Jesus, mit dem Kreuze beladen, den Calvarienberg hinanstieg, litt Maria, durch Gottes Fügung, gerade soviel seelische und körperliche Schmerzen wie der Herr, ihr Sohn. Und um dies der Menschheit stets vor Augen zu halten, ließ es der Herr geschehen, daß ihre Füße, ihre Sohlen, sich tief in das Gestein drückten. Diese Spuren von den heiligen Füßen der Gottesmutter sieht man heute noch. Alle aber, die gleichgültig dem Zuge folgten, wurden plattfüßig, und seitdem ist der Plattfuß bekannt. Diejenigen aber, die nach dem leidenden Herrn mit den Füßen gestoßen, wurden ebenfalls im selben Moment bestraft: der frevelnde Fuß schwoll plötzlich riesig an, und der andere wurde dünner, es kann auch sein, daß er derselbe blieb, nur nicht im Verhältnis zum andern stand. –

Menschen, die nach dem Herrn spuckten, erhielten geschwollene Lippen; manche dieser Lippen wogen vier Pfund, und die Nachkommen erkennt man heute noch, obwohl die Lippen etwas kleiner geworden sind.


  • Literatur: Die Sagen a) bis e) verdanke ich sämtlich der frdl. Mitt. von Frl. B. Ilg.

Fußnoten

1 Naxar ist eine der ältesten Ortschaften der Insel.


Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 195.
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