1. Affe und Tiger.

[278] 1. Indische Fabel.


Es war einmal ein alter Tiger, der hatte Lust einen Affen zu fressen. Um ihn zu täuschen, sagte dieser: »Mein Körper ist so klein, er würde nicht einmal zu einer einzigen Mahlzeit für euch reichen. Auf dem gegenüberliegenden Berge gibt es ein großes Tier, das euren Hunger sättigen würde. Ich werde vorangehen und euch führen.« Als sie beide auf dem Berge angekommen waren, bemerkte ein Hirsch mit stattlichem Geweih den Tiger und fürchtete, dieser würde ihn verschlingen wollen. Er ging zum Affen und sagte: »Mein junger Freund, du hattest mir zehn Tigerhäute versprochen, heute bringst du mir nur eine, du schuldest mir also noch neun«. Da erschrak der Tiger und sagte: »Ich hätte nie gedacht, daß ein kleiner Affe so bös sein könnte. Es scheint, er will mich opfern, um seine alten Schulden zu bezahlen.«


  • Literatur: Stanislas Julien, les Avadânas. Contes es apologues Indiens. 1859. Vgl. Indian Antiquary XI, 321.

Hierzu stellen sich zwei mündlich überlieferte Märchen mit Naturdeutung:


2. Aus der Malaiischen Halbinsel.


Der Elefant hat mit dem Tiger gewettet, wer den Affen vom Baum herunterschütteln könne. Der Tiger gewinnt, und soll darum den Elefanten fressen dürfen. Das Jammern des Elefanten hört das Zwergmoschustier und will ihm helfen. Der Elefant muß Sirup über sich ausgießen, das Zwergmoschustier setzt sich auf ihn und tut als fräße es den Elefanten, der schrecklich trompeten muß. So gelangen sie zum Tiger, und das Zwergmoschustier ruft: »So ein Elefant ist knappe Kost, hätte ich nur noch den Tiger.« Der Tiger läuft davon, begegnet dem Affen, und dieser kehrt mit ihm um, um der Sache nachzuforschen. Als sie zusammen ankommen, ruft das Zwergmoschustier: »Holla, Vater Affe! Du versprachst mir zwei Tiger zu bringen und bringst mir nur einen.« Der Tiger reißt aus und hat seitdem Feindschaft mit dem Affen, weil er glaubt, dieser habe ihn dem Zwergmoschustier ausliefern, wollen.


  • Literatur: W. Skeat. Fables & Folktales from an Eastern Forest S. 41. Cambridge 1901. Dähnhardt, naturgeschichtliche Volksmärchen 2 Nr. 81 (8. Aufl.).

3. Aus der anamitischen Provinz Quangbink.


Einst wetteten der Tiger und der Elefant, wer von den beiden die Vögel des Waldes am meisten durch seinen Ruf erschrecken würde. »Verscheucht mein Schrei die Waldvögel,« sagte der Elefant, »so zermalme ich dich mit meinen Füßen. Verscheuchst du sie jedoch, so kannst du mich fressen.« Der Elefant wurde besiegt, bat sich aber drei Tage Frist aus, ehe er sich vom Tiger fressen lassen wollte. In dieser Zeit traf er ein Kaninchen, dem er sein bevorstehendes Schiksal mitteilte.[278] »Fürchte nichts, ich werde dich aus dieser Klemme befreien,« tröstete ihn das Kaninchen. Gesagt, getan. Am dritten Tage mußte sich der Elefant hinlegen; das Kaninchen setzte sich auf seinen Rücken und erwartete so den Tiger. Schon von weitem rief es ihm entgegen: »Sieh her, ich verspeise einen Elefanten, weil ich kein anderes Tier zum Nachtisch habe.« Der bestürzte Tiger wagte nicht, näher zu kommen, sondern lief davon. Unterwegs begegnete ihm eine Schar Affen, denen er sein Erlebnis erzählte. »Und du glaubst wirklich, daß ein Kaninchen einen Elefanten und einen Tiger verspeisen kann! Kehre doch gleich um und friß ruhig den Elefanten auf. Wenn du dich aber fürchtest, so begleiten wir dich und bringen ein Lianenseil mit.« Dies geschah. Die Affen gingen voran, und der Tiger folgte ihnen. Als sie beim Elefanten ankamen, schrie das Kaninchen die Affen an: »Was, ihr Schurken! Ich habe euch drei große und fette Tiger geborgt, und ihr gebt mir einen solchen mageren zurück!« Als dies der Tiger hörte, glaubte er in einen Hinterhalt gelockt zu sein und entfloh. Auch die Affen suchten das Weite. Einige von ihnen, die das Lianenseil trugen, zerrte der Tiger indes mit sich fort. Als er das merkte, sah er sich im Laufen um, gewahrte die vor Schmerz grinsenden Gesichter mit den fletschenden Zähnen und fraß daher die noch lebenden Affen auf. Seitdem retten sich die Affen, sobald sie einen Tiger sehen, schleunigst auf die Spitzen der Bäume und stoßen dabei Schreckensrufe aus.


  • Literatur: Globus 81, 302.
Quelle:
Dähnhardt-Natursagen-4, S. 278-279.
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