Fünfundfünfzigstes Capitel.
Von der Berufung der sündigen Seele aus der Verbannung.

[76] Ein gewisser edler König hatte einen schönen, weisen, tapfern, gütigen und wohlgesitteten Sohn und vier Töchter, deren Namen folgende waren: Justitia (Gerechtigkeit), Veritas (Wahrheit), Misericordia (Erbarmen) und Pax (Frieden). Dieser König wollte nun seinem einzigen Sohne eins Gemahlin geben und bestellte einen Boten, der sich nach einer ehrbaren Jungfrau umsehen sollte. Endlich fand derselbe die schöne Tochter des Königs von Jerusalem, welche seinem Sohne übergeben wurde und die derselbe gar wundersam liebte. Nun hatte aber dieser Sohn einen Diener, welchem er aus allzugroßem Zutrauen die Verwaltung eines Herzogthums übertrug. Dieser Verräther aber verführte und schändete die angetraute Frau seines Herrn und verheerte seine Provinz. Wie nun der Sohn von dem Ehebruch seiner Gattin gehört hatte,[76] wurde er sehr traurig, entließ sie, gab ihr einen Scheidebrief und nahm ihr jegliche Ehre. Als sie nun so von Allem beraubt war, kam sie in die äußerste Dürftigkeit und ging gleichsam in Verzweifelung überall umher und bettelte ihr Brod. Wie das ihr Mann vernahm, empfand er Mitleid und sendete ihr einen Boten, der sie zurückrufen und ihr sagen sollte: komm o Herrin ohne Sorge zu Deinem Hernn: fürchte Dich nicht. Sie aber verweigerte es und sprach: sage meinem Herrn, ich kann nicht freiwillig zu ihm kommen. Wenn aber mein Herr fragt, warum ich mich weigere, so sage ihm: weil das Gesetz so ist. Wenn ein Mann eine Frau genommen und sie mit einem andern zu thun gehabt hat, so soll ihr jener den Scheidebrief geben und so gestraft, soll sie nicht wieder zu ihm zurückkehren. Nun habe ich einen Scheidebrief empfangen, weil ich mir Untreue habe zu Schulden kommen lassen, kann also nicht wieder zu ihm zurückkehren. Da sprach der Bote: mein Herr steht höher denn das Gesetz, da er dasselbe gegeben hat, und weil er nun Mitleid mit Dir empfindet, so kannst Du ohne Sorge zu ihm kommen. Jene aber versetzte: Was für ein Zeichen wird er mir geben, daß ich ohne Furcht zu ihm treten kann. Wenn er mir nur das zeigen wollte, dann würde ich keine Sorge mehr haben: wenn nehmlich mein Herzliebster zu mir träte und mich mit einem Kusse auf meinen Mund küssen wollte, dann bin ich sicher, daß er mich wieder zu Gnaden aufnimmt. Als der Herr durch den Boten dieses erfahren hatte, hielt er einen Rath darüber mit allen Großen seines Hofes und Reiches. Endlich beschloß man einen weisen Mann hinzuschicken, der sie zurückführen sollte, allein es fand sich in dem ganzen Königreiche auch nicht Einer, der sich mit dieser Sache[77] einlassen wollte. Wie das ihr Mann hörte, bestellte er an sie einen Boten, der ihr sagen sollte: was soll ich mit Dir thun? Es hat sich Niemand gefunden, der Dich zu mir zurückbringen möchte. Als sie das hörte, weinte sie bitterlich, daß sich Keiner fand, der sie zurückführte. Wie das ihr Mann vernahm, daß sie so wehklage, da machte er sich zu seinem Vater auf und sprach: mein Herr, so es Euch gefällig ist, will ich zu meiner verlobten Frau gehen und werde sie in meinen Palast zurückführen. Da versetzte sein Vater: gehe hin in Deiner Mannheit und bringe sie hierher. Hierauf sendete er einen Boten an sie, der ihr sagen sollte: siehe ich komme zu Dir und will Dich wieder zu mir nehmen. Wie die ältere Schwester oder die Justitia solches hörte, da trat sie vor den König hin und sprach: Herr, Euer Urteilsspruch war gerecht und gut. Ich bin Euere Tochter Justitia: Ihr habt recht gerichtet, daß jene Buhlerin nicht länger die Frau meines Bruders seyn sollte, und habt ihr den Scheidungsbrief gegeben. Haltet also die Gerechtigkeit aufrecht und so Ihr gegen diesen thun werdet, da sage ich Euch, will ich nicht mehr Euere Tochter Justitia seyn. Wie sie das gesagt hatte, da kam die zweite Tochter oder die Veritas und sprach: Mein Vater, der Wahrheit gemäß habt Ihr über jene Buhlerin gerichtet, welche das Bette unseres Bruders durch ihre Untreue geschändet hat. Wenn Ihr sie wiedernehmen wollt, so handelt Ihr gegen die Wahrheit und so kann ich ohne Zweifel nicht länger Euere Tochter Veritas heißen. Wie das die dritte Schwester oder die Misericordia hörte, kam sie zu ihrem Vater und sprach: Herr ich bin Deine Tochter Misericordia, habe also Erbarmen mit der Sünderin und Verbrecherin, denn ihr Vergehen schmerzt sie sehr[78] und wenn Ihr nicht Mitleid mit ihr haben werdet, werde ich nicht mehr Euere Tochter Misericordia seyn. Wie das die vierte Schwester oder die Pax vernommen hatte, daß eine so große Uneinigkeit zwischen ihren Schwestern war, da wollte sie das Land verlassen und begab sich auf die Flucht: worauf die Justitia und Veritas ihr Schwert zogen und es dem Könige überreichten, also sprechend: siehe Herr, hier ist das Schwert der Gerechtigkeit, um jene Buhlerin hinzurichten, welche uns und unsern Bruder veruneinigt hat. Wie das die Misericordia sah, riß sie ihnen das Schwert aus den Händen und sprach: Ihr habt lange genug hier geherrscht und Euern Willen durchgesetzt: es ist nun auch einmal Zeit, daß ich von meinem Vater erhört werde; ich bin seine Tochter so gut wie Ihr. Da antwortete die Justitia: Es ist wahr, daß wir seit langer Zeit geherrscht haben und immer noch die Herrschaft behaupten wollen. Indessen, da zwischen uns eine so große Uneinigkeit herrscht, so mag unser Bruder herbeigerufen werden, der in allen Dingen einen scharfen Blick hat, zwischen uns zu richten: und also geschah es. Als aber der Sohn herbeikam und den Streit derselben unter einander vernahm, wie die Justitia und Veritas auf einer Seite Rache forderten die Misericordia und Pax aber auf der andern Verzeihung, sprach er: Theuerste Schwestern, unsere von unserem Vater vielegeliebte Schwester Pax hat wegen Euerem Zwist das ganze Königreich verlassen: das will ich aber auf keine Weise leiden, weil ich für meine ungetreue Frau bereit bin Strafe zu leiden. Da sprach die Justitia: Wenn Du das thun willst, kann ich nichts dagegen einwenden. Also sagte er zur Misericordia: Du bemühst Dich also für meine Gemahlin, daß ich sie wieder[79] zu mir nehme? Wenn ich sie nun aber wieder hierher kommen lasse, ist es denn Deine Absicht für sie, wenn sie abermals sich Untreue zu Schulden kommen läßt, Dich ins Mittel zu schlagen? Jene aber versetzte: Nein nur wenn sie Buße thut. Wie das der Königssohn hörte, führte er seine Schwester Pax wieder zurück und ließ sich die Schwestern gegenseitig küssen. Als nun aber Eintracht geworden war, da verließ der Königssohn sein Reich, fing für seine Gemahlin einen Krieg an und führte sie in allen Ehren zum Reiche seines Vaters zurück. Und so beschlossen Beide ihr Leben in Frieden.

Quelle:
Gesta Romanorum, das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. 3. Auflage, Unveränderter Neudruck Leipzig: Löffler, Alicke 1905, S. 76-80.
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