Sechzigstes Capitel.
Von der Habsucht und ihren feinen Versuchungen.

[96] Es war einst ein König, der eine einzige Tochter hatte, die war schön und reizend und hieß Rosimunda. Wie nun dieses Mädchen zu ihrem zehnten Lebensjahre gelangt war, war sie so geschickt im Laufen, daß sie eher an das Ziel gelangte, als irgend Jemand sie einholen konnte. Der König ließ also in seinem ganzen Reiche ausrufen, daß, so Jemand mit seiner Tochter einen Wettlauf machen wolle und eher als sie das Ziel erreiche, er sie zur Frau bekommen und nach seinem Tode auch das Reich erhalten solle. So aber Jemand dieses unternähme und im Laufen besiegt würde, der müsse das Haupt verlieren. Wie diese Verkündigung[96] ausgerufen worden war, da erboten sich unendlich Viele mit ihr zu laufen, aber Alle, die mit ihr liefen, blieben hinter ihr zurück und verloren ihre Köpfe. Nun war damals im Lande ein gewisser armer Mann, des Name war Abibas. Der dachte bei sich: ich bin arm und aus gemeinem Blut entsprossen: wenn ich nun auf irgend eine Weise jenes Mädchen besiegen könnte, würde ich nicht allein vorwärts kommen, sondern auch Alle aus meinem Geblüte. Er versorgte sich demnach mit drei Hilfsmitteln, erstlich mit einem Rosenkranze, weil Mädchen dieselben gern haben, dann mit einem seidnen Gürtel, welchen sich alle Mädchen wünschen, drittens mit einem seidnen Beutel, in welchem ein vergoldeter Ball war, auf welchem folgende Aufschrift stand: wer mit mir spielt, der wird nie dieses Spiel satt werden. Diese drei Dinge steckte er in seinen Busen, ging nach dem Palaste und klopfte an. Der Pförtner war da und verlangte den Grund des Anklopfens zu wissen. Der aber sprach: ich bin bereit mit der Prinzessin einen Wettlauf zu machen. Wie die das hörte, öffnete sie ein Fenster, und als sie ihn erblickt hatte, verachtete sie ihn in ihrem Herzen und sprach: siehe da ist ein elender Kerl, mit dem Du laufen mußt. Indessen konnte sie nichts dagegen einwenden, sondern bereitete sich zum Laufen. Beide liefen nun neben einander fort, allein bald kam ihm das Mädchen auf einen großen Zwischenraum zuvor und wie das Abibas bemerkte, warf er den Rosenkranz vor sie hin. Wie nun die Prinzessin den Kranz sah, bückte sie sich, hob den Kranz auf und setzte sich ihn auf den Kopf. Sie freute sich aber so über den Kranz, daß sie wartete, bis Abibas ihr vorgekommen war. Als sie das sah, sprach sie in ihrem Herzen: nie darf die Tochter meines[97] Vaters mit einem solchen Landstreicher verbunden werden. Alsbald warf sie den Kranz in eine tiefe Grube, lief ihm nach und erreichte ihn, und als sie ihn erreicht hatte, gab sie ihm eine Ohrfeige und sprach: bleib stehen, elender Kerl. Es geziemt sich nicht, daß mich der Sohn Deines Vaters zur Frau erhält, und alsogleich kam sie ihm vor. Wie das Abibas gewahr wurde, warf er den seidnen Gürtel vor sie hin und als sie den erblickte, bückte sie sich, hob ihn auf, gürtete sich mit ihm und freuete sich so über denselben, daß sie sich ebendamit länger aufhielt, sodaß sie Abibas zum zweiten Male weit überholte. Als das die Prinzessin bemerkte, weinte sie bitterlich, nahm aber den Gürtel und riß ihn in drei Stücke, lief jenen hierauf nach, holte ihn ein und als sie ihn erreicht hatte, hob sie die Hand auf, gab ihm eine Ohrfeige und sprach: o Elender, Du sollst mich nie zur Frau bekommen. Alsbald holte sie ihn wieder ein, aber Abibas, wie er das sah, wartete solange, bis sie ihm ganz nahe war. Hierauf warf er den seidnen Beutel vor sie hin und sie hatte denselben kaum erblickt, als sie sich auch bückte und den Beutel aufhob. Sie öffnete ihn und fand den vergoldeten Apfel darin, und als sie die Aufschrift las: wer mit mir spielt, wird niemals dieses Spiel satt werden, fing sie dermaßen und solange an mit ihm zu spielen, bis Abibas schneller zum Ziele gelangte und sie zur Frau bekam.

Quelle:
Gesta Romanorum, das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. 3. Auflage, Unveränderter Neudruck Leipzig: Löffler, Alicke 1905, S. 96-98.
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