Zweiundsechzigstes Capitel.
Von der Schönheit einer treuen Seele.

[101] Es herrschte einst der gar kluge Kaiser Gajus: in seinem Reiche lebte aber ein Weib Namens Florentina, die war sehr schön und reizend. Nun war aber eine so große Schönheit an ihr, daß sie drei Könige überfielen und sie von jedem gemißbraucht wurde. Darnach entstand aber zwischen diesen Königen wegen ihrer allzugroßen Liebe zu derselben ein Krieg und von allen Seiten fielen unendlich viel Leute. Wie das die Statthalter des Kaiserthums hörten, kamen sie alle zum Kaiser und sprachen: Herr jene Florentina in Deinem Reiche ist so schön, daß täglich sich Unzählige aus Liebe zu ihr umbringen und so Du nicht bald ein Mittel dagegen anwendest, werden bald soviel nur in Deinem Lande leben, alle verloren seyn. Wie das der König hörte, befahl er an sie einen Brief zu richten, den er mit seinem Ringe versiegelte, auf daß sie ohne weitern Verzug zu ihm käme. Ein Herold ging mit dem Briefe an sie ab allein ehe er noch zu ihr kam, war sie bereits gestorben Der Herold kehrte also wieder um und meldete dem[101] König ihren Tod. Da wurde der König sehr betrübt, daß er sie nicht in ihrer Schönheit sehen konnte, ließ alle Maler seines Reiches zu sich rufen und als sie gekommen waren, sprach er so zu ihnen: Ihr Lieben, folgendes ist die Ursache, weshalb ich nach Euch geschickt habe. Es gab ein gewisses Frauenzimmer mit Namen Florentina von so großer Schönheit, daß neulich Viele aus Liebe zu ihr starben. Jetzt ist sie todt und ich habe sie nicht gesehen. Gehet also hin und malet mir mit allem Euerem Fleiße ihr Bild mit aller ihrer Schönheit, damit ich erkennen kann, warum so Viele aus Liebe zu ihr in den Tod gegangen sind. Jene aber erwiederten: Herr, Ihr verlangt eine schwierige Sache. Denn in ihr lag eine so große Schönheit und Zierlichkeit, daß alle Maler der Welt ihr Bild in jeder Hinsicht nicht so zu malen im Stande wären, mit Ausnahme eines einzigen Malers, der in den Bergen einsam lebt: der allein und kein Anderer ist es, welcher Eueren Willen erfüllen kann Als das der König gehört hatte, sendete er nach diesem Maler und als derselbe zu ihm gekommen war, sprach er zu ihm: mein Theuerster, wir sind von Deinem Fleiß und Deiner Geschicklichkeit in Kenntniß gesetzt worden: gehe hin und male mir das Bild der Florentina in jedem Stücke ihrer Schönheit gemäß und ich werde Dir einen des Gegenstandes würdigen Lohn geben. Jener aber sprach: Du verlangst eine schwierige Sache, indessen gestatte mir, daß ich alle schönen Frauen Deines ganzen Reiches wenigstens eine Stunde lang vor Augen haben darf und ich will thun, was Dir gefällig ist. Von diesen wählte nun der Maler die vier Schönsten aus, die andern aber beurlaubte er, daß sie wieder in ihre Heimath zurückkehren konnten. Nun fing der Maler an ihr Bild mit[102] rother Farbe zu malen und wenn nun eine von jenen vier Frauen irgend einen reizenden Gesichtszug oder Nase hatte und ebenso auch in Bezug der andern Theile des Körpers, als die übrigen, so setzte er das auf sein Bild. Auf diese Weise nahm er von jeder Frau irgend einen Theil und machte so sein Bild vollständig; als es aber fertig war, kam der Kaiser, um es zu sehen und als er es gesehn hatte, sprach er: O Florentina, wenn Du noch lebtest, müßtest Du vor Allen diesen Maler lieben, der Dich in Deiner so einzigen Schönheit dargestellt hat.

Quelle:
Gesta Romanorum, das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. 3. Auflage, Unveränderter Neudruck Leipzig: Löffler, Alicke 1905, S. 101-103.
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