Siebenzigstes Capitel.
Von der Reue einer treuen Seele.

[119] Es gab einst einen König, der hatte eine schöne und kluge Tochter, die ihr Vater einem Manne zur Frau geben wollte. Sie aber hatte Gott ein Gelübde gethan, daß sie niemals einen Mann nehmen wollte, bevor sie nicht dreierlei von ihm erlangt hätte. Das erste bestand darin, daß er ihr der Wahrheit gemäß sagte, wieviel[119] Fuß in der Länge, Breite und Tiefe die vier Elemente hätten: zweitens, was den Wind von Norden her verändere und drittens, daß er Feuer in seinem Busen, ohne denselben zu verletzen, an seinem Fleische tragen sollte. Als der König dieß vernommen hatte, ließ er diese drei Sachen in seinem ganzen Reiche bekannt machen und daß, so Jemand dieses ohne Fehler vollbringen würde, er seine Tochter zur Frau haben solle. Nun kamen Viele deshalb herbei, aber Alle fielen durch. Nun befand sich aber ein gewisser Krieger in einer weit entfernten Gegend des Reichs: wie der von dem Gelübde der Prinzessin hörte, kam er zum Palaste des Königs, und indem er einen einzigen Diener und ein wildes Pferd mit sich brachte: suchte er vor den König zu gelangen und sprach: mein Herr König, ich bitte mir Deine Tochter zur Frau aus und bin bereit, jene drei Aufgaben zu lösen. Darauf erwiederte der König: das ist mir ganz recht. Der Krieger aber rief seinen Diener und sprach zu ihm: lege Dich auf die Erde. Wie der nun so dalag, maß ihn der Krieger vom Kopf bis zu den Füßen und sprach hierauf zum König also: siehe Herr, ich finde in allen vier Elementen kaum mehr als sieben Fuß. Da entgegnete der König: was hat denn das mit den Elementen zu schaffen? Und jener versetzte: Herr, jeder Mensch und jedes Thier ist aus den vier Elementen zusammengesetzt und also habe ich an meinem Diener die vier Elemente gemessen. Darauf erwiederte der König: Amen, ich sage Dir, Du hast die Sache ganz deutlich erwiesen. Nun wollen wir aber zum Zweiten schreiten, verändere jetzt den Wind. Gleich ließ jener sein toll gewordenes Pferd herbeiführen und gab ihm einen Trank ein, von dem es gänzlich geheilt wurde. Wie[120] das geschehen war, wendete er den Kopf des Pferdes nach Osten und sprach: siehe Herr, der Wind hat sich von Norden nach Osten gedreht. Hierauf versetzte der König: was hat denn Dein Beginnen mit dem Winde zu schaffen? Darauf entgegnete jener: ist es Euerer Weisheit nicht bekannt, daß das Leben eines jeden Geschöpfes nichts als Wind ist? solange als das Pferd schlechten hatte, solange stand es nach Norden zu: nun aber, da es durch die Kraft des Trankes gesund worden ist, habe ich seinen Kopf nach Osten gewen det, auf daß es bereit sey, eine Last zu tragen. Darauf entgegnete der König: Du hast die Sache ganz klar dargethan. Laßt uns demnach zum Dritten schreiten. Darauf versetzte jener: Herr ich bin bereit, dieß vor Aller Augen zu erfüllen. Hierauf nahm er seine beiden Hände voll glühender Kohlen und steckte diese in seinen Busen und sein Fleisch wurde durchaus nicht verletzt. Darauf sprach der König: die andern beiden Stücke hast Du gut bewiesen, sage mir aber jetzt, warum Dich die Kohlen nicht beschädigen. Darauf entgegnete jener: dieß geschieht nicht durch meine Kunst, sondern durch die Kraft eines Steines, welchen ich beständig bei mir trage: denn wer solchen Stein bei sich an einem reinen Orte trägt, wird nie vom Feuer verletzt werden können. Sehet, hier ist er: und damit zeigte er Allen seinen Stein. Darauf erwiederte der König: Du hast alle drei Aufgaben richtig gelöst, und damit richtete er die Hochzeit aus, gab ihm seine Tochter mit vielen Schätzen zur Frau und Beide beschlossen ihre Tage im Wohlleben.

Quelle:
Gesta Romanorum, das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. 3. Auflage, Unveränderter Neudruck Leipzig: Löffler, Alicke 1905, S. 119-121.
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