Zweiundsiebenzigstes Capitel.
Von der Tödtung der Undankbaren.

[123] Man liest von einem gewissen König, der einen einzigen Sohn hatte, welchen er sehr liebte und zärtlich erzog. Wie nun der Knabe zu dem gesetzlichen Mannesalter gekommen war, lag er dem König von Tag zu Tag an, er solle ihm sein Reich abtreten, weil er es nicht mehr zu regieren im Stande sey, er aber es vermöge. Der König aber sprach: mein Theurer, wenn ich sicher wäre, daß Du mich freundlich und ehrenhaft Dein ganzes Leben über behandeln würdest, würde ich es Dir abtreten und Dir jede Menschenpflicht, welche der Vater dem Sohne schuldig ist, leisten. Der aber sprach: Herr vor Deinen Magnaten und Edeln des Reiches will ich Dir einen Eid leisten, daß es Euch an nichts fehlen soll, sondern daß ich Euch in größern Ehren als mich selbst halten will. Der König aber glaubte seinen Worten, gab ihm sein Reich und behielt für sich nichts. Wie der aber gekrönt und auf den Thron gesetzt worden war, da erhob sich sein Herz unglaublich von Hochmuth und nach wenigen Jahren erwieß[123] er seinem Vater keine Ehre mehr, noch ließ er ihm irgend etwas Gutes zufließen. Der aber fing an sich bei den weisen Männern des Landes zu beklagen, wie sein Sohn seinen Vertrag nicht halte. Die Weisen aber, welche ihn sehr hoch hielten, beschuldigten den König, daß er seinem Vater schlecht abwarte. Wie das der König hörte, ward er voller Wuth und sperrte seinen Vater in einem Schlosse ein, wo Niemand zu ihm Zutritt haben konnte. An diesem Orte nun litt er Hunger und vieles Elend: nun begab es sich aber einstmals, daß der König in derselben Burg übernachtete. Der Vater aber trat ihn an und sprach zu ihm: o mein Sohn, erbarme Dich Deines greisen Vaters, der Dich gezeugt und Dir Alles gegeben hat: ich leide an diesem Orte Hunger und Durst und befinde mich jetzt in einem bedeutenden Unwohlsein, ein Trunk Wein würde mich vielleicht stärken. Der König entgegnete: ich weiß nicht, ob Wein in der Burg ist. Jener aber erwiederte: ja mein Sohn, es sind fünf Faß Wein in der Burg und ohne Euer Wissen wagt der Seneschall dieses Schlosses nicht sie anzubohren und mir einen Trunk zu reichen: ich bitte Dich also, mein Sohn, daß Du mir einen aus dem ersten Faß geben läßt. Darauf sprach der König: das werde ich nicht thun, denn es ist Most und der taugt nicht für alte Leute. Jener aber sagte: gieb mir also aus dem zweiten Fasse: Hierauf sprach jener: das will ich nicht thun: dieses ist für meine Leibwachen und für die Pagen bestimmt, die ich bei mir habe. Jener aber entgegnete: gieb mir also aus dem dritten Fasse. Darauf sprach der König: das kann ich nicht thun, denn der Wein ist stark und Du bist schwächlich und unpaß, das könnte die Ursache zu Deinem Tode seyn. Darauf versetzte jener: gieb mir demnach vom vierten Fasse.[124] Darauf erwiederte der: das kann ich auch nicht machen, denn der Wein ist zu alt und essigsauer und taugt nicht viel, überhaupt nicht für Deine Constitution. Darauf sagte der Vater: Mein Sohn, gieb mir also vom fünften Fasse. Darauf entgegnete jener: das sey ferne, denn es sind eitel Hefen und die Magnaten meines Reiches würden mich beschuldigen, daß ich Dich getödtet hätte, wenn ich Dir Hefen gäbe. Wie das der Vater hörte, ging er traurig von ihm weg und schrieb alsbald heimlich einen Brief an die Edeln seines Reiches, wie ihn sein Sohn behandele, sie möchten ihn doch um Gottes Willen aus seiner Noth helfen. Alle Magnaten aber fühlten Mitleid, nahmen ihn gleich wieder zu ihrem König an und betrachteten den Vater wieder wie vorher als solchen, den Sohn aber warfen sie ins Gefängniß, wo er elendiglich umkam.

Quelle:
Gesta Romanorum, das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. 3. Auflage, Unveränderter Neudruck Leipzig: Löffler, Alicke 1905, S. 123-125.
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