Dreiundsiebenzigstes Capitel.
Der Geiz macht Manchen blind.

[125] Es war einst in der Stadt Rom ein gewisser König, der festsetzte, es solle ein jeder Blinde jedes Jahr vom Kaiser hundert Groschen bekommen. Nun trug sich der Fall zu, daß einst drei und zwanzig Gesellen mit einander zur Stadt kamen, und, um mit einander zu trinken, in einer Kneipe einkehrten. Hier blieben sie sieben Tage lang liegen und aßen und tranken, nachher aber als sie mit dem Wirthe zusammenrechnen wollten, gaben sie ihm Alles, was sie nur an Geld besaßen, aber jener sprach: Ihr lieben Leute, bestimmt es fehlen noch 100 Groschen: Amen ich sage Euch, Ihr sollt dieses[125] Haus nicht verlassen, bevor Ihr mir nicht den letzten Heller bezahlt habt. Wie jene das hörten, sprachen sie zu einander: Was sollen wir thun? wir haben nichts zum Bezahlen. Da versetzte einer: ich will Euch einen klugen Rath ertheilen. Es ist vom Kaiser ein Gesetz gegeben worden, daß wer blind ist, hundert Groschen aus seinem Schatze erhalten soll. Laßt uns also mit einander loosen und auf wen das Loos trifft, dessen Augen wollen wir ausreißen und dann wird dieser zum Palast gehen, hundert Groschen erhalten und uns alle ledig machen können. Jene aber sprachen: das ist der beste Rath. Sie loosten also unter sich und das Loos fiel auf den, welcher den Rath gegeben hatte. Alsbald blendeten sie ihn und führten ihn zum Palast: man klopfte an das Thor und der Pförtner verlangte die Ursache des Pochens zu wissen. Jener aber sprach: siehe hier ist ein Blinder, der die Wohlthat des Gesetzes fordert. Darauf versetzte der Thorwärter: ich will es dem Seneschall sagen. Er ging also zum Seneschall und sprach: es steht ein Blinder am Thore, welcher die Wohlthat des Gesetzes begehrt. Jener aber versetzte: ich will zu ihm gehen und ihn sehen. Wie er aber den Blinden sah, betrachtete er ihn ganz genau, und als er ihn betrachtet, sprach er zu ihm: Mein Lieber, was verlangst Du. Und jener sprach: hundert Groschen, wie das Gesetz besagt. Darauf entgegnete jener: Amen, ich sage Dir, am gestrigen Tage sahe ich Dich, wie Du in der Schenke noch zwei ganz helle Augen hattest: Du verstehst das Gesetz schlecht. Dieses heißt so: wenn Jemand aus Krankheit oder irgend einem Unfall blind wird und sich gegen die Noth nicht schützen kann, der soll die Wohlthat des Gesetzes erhalten. Nun hast Du[126] aber freiwillig Deine Augen zerstört, in der Schenke mit getrunken und den Rath gegeben, Dich zu blenden. Suche Dir also einen andern Trost, denn hier sollst Du keinen Heller bekommen. Wie jener das hörte, ging er voll Bestürzung vom Palaste weg und kam nie wieder.

Quelle:
Gesta Romanorum, das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. 3. Auflage, Unveränderter Neudruck Leipzig: Löffler, Alicke 1905, S. 125-127.
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