Vierundsiebenzigstes Capitel.
Von Fürsorge und Vorsehung.

[127] Es war einst ein König, der hatte nur einen einzigen Sohn, welchen er sehr zärtlich liebte. Nun ließ der König mit großen Unkosten einen goldenen Apfel machen und als dieser fertig geworden war, da wurde der König zum Tode krank, berief seinen Sohn zu sich und sprach: mein Lieber, wenn ich aus dieser Krankheit nicht davonkommen kann, so gehe mit meinem Segen nach meinem Tode durch alle Länder und Burgen und nimm den goldnen Apfel, den ich habe machen lassen, mit Dir, und wen Du als den größten Thoren antreffen wirst, dem gieb den Apfel in meinem Namen. Der Sohn nun versprach das Geheiß seines Vaters getreulich zu erfüllen, der König aber wendete sich nach der Wand um und gab seinen Geist auf. Der Sohn ließ ihn hierauf aufs Ehrenvollste begraben, nahm nach dem Begräbniß desselben den Apfel und zog durch verschiedene Länder und Schlösser, traf zwar und erblickte viele thörigte Leute, jedoch gab er Keinem den Apfel. Nachdem aber machte er sich nach einem gewissen Reiche auf den Weg, kam zu der Hauptstadt desselben und sah den König mit großem Gepränge mitten durch die[127] Stadt reiten. Er befragte sich nun bei einigen Bürgern um die Verhältnisse dieses Landes und jene sagten ihm: es ist die Gewohnheit in diesem Reiche so, daß nie ein König bei uns anders zur Regierung gelassen wird, als daß er nach Verlauf eines Jahres aller Würden und Schätze beraubt, in die Verbannung getrieben wird, wo er eines elenden Todes sterben muß. Wie das der Königssohn hörte, dachte er bei sich: jetzt habe ich gefunden, was ich lange suchte. Er begab sich also zum König, begrüßte ihn mit gebogenen Knieen und sprach zu ihm: Heil sey Dir, o König. Mein Vater ist mir gestorben und hat Euch in seinem Testamente diesen goldenen Apfel vermacht. Der König aber nahm den Apfel und sprach zu ihm: mein Lieber, wie kann das möglich seyn? der König hat mich niemals gesehen, noch habe ich Deinem Vater irgend etwas Gutes erwiesen, weshalb er mir ein so kostbares Spielwerk hätte geben sollen. Darauf entgegnete jener: mein Herr König, mein Vater hat Euch den Apfel ebenso gut vermacht wie einem Andern, aber er hat mir bei seinem Segen aufgegeben, diesen Apfel dem größten Thoren zu geben, welchen ich finden könnte. Ich bin nun, wie Ihr nicht zweifeln werdet, durch viele Königreiche und Schlösser gezogen, habe aber noch keinen so argen Thoren und Narren angetroffen als Euch, weshalb ich Euch nach seinem Geheiß den Apfel übergeben habe. Darauf sagte der König: ich bitte Dich mir zu sagen, weshalb Du mich für einen solchen Thoren ansiehst. Jener aber antwortete: Siehe Herr, das will ich klar beweisen. Es ist die Gewohnheit dieses Landes, daß Jemand ein ganzes Jahr hindurch König ist, am Ende desselben aber aller seiner Ehre und Reichthümer beraubt und in die Verbannung getrieben wird, wo er eines erbärmlichen[128] Todes sterben muß. Amen, nun sage ich Euch, daß ich aus diesen meinen Worten abnehme, wie es in der ganzen Welt keinen so argen Dummkopf geben kann, als Ihr seid, der nur eine so kurze Zeit hindurch König seyn und nachher so elend sein Leben beschließen soll. Darauf entgegnete der König: ohne Zweifel ist Alles wahr, was Du mir da gesagt hast und darum werde ich, solange ich noch im gegenwärtigen Jahre im Besitze meiner Macht bin, unermeßliche Reichthümer vor mir her in das Land meiner Verbannung senden, damit ich, wenn ich dahin komme, von jenen Gütern solange ich lebe, leben kann. Und also geschah es: er wurde am Schlusse des Jahres der Regierung beraubt und in die Verbannung geschickt, wo er aber noch viele Jahre von jenen Gütern lebte und sein Leben in Frieden beschloß.

Quelle:
Gesta Romanorum, das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. 3. Auflage, Unveränderter Neudruck Leipzig: Löffler, Alicke 1905, S. 127-129.
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