Sechsundneunzigstes Capitel.
Wie das gegenwärtige Leben ein Leben der Vergebung und Gnade ist.

[174] Der König Alexander stellte an seinem Hofe eine brennende Kerze auf und schickte Herolde aus, welche in seinem ganzen Reiche ausrufen und sagen sollen: so Jemand gegen den König irgend ein Verbrechen verübt habe, der solle kühnlich kommen, so lange die Kerze brenne, und der König werde ihn, trotz dem, daß er ein Uebelthäter sey, gehen lassen, so aber Jemand eine Missethat begangen hätte und nicht käme, derselbe solle,[174] wenn die Kerze verlöscht sey, eines elenden Todes sterben. Wie das die Völker in seinem Reiche vernahmen, kamen ihrer viele zu dem Könige und baten ihn um Gnade, und der König nahm sie gnädig auf. Es waren aber auch Viele, so nicht kommen wollten und sein Gebot gering achteten, allein als die Kerze verlöscht war, da ließ sie der König mit Gewalt holen und elendiglich umbringen.

Quelle:
Gesta Romanorum, das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. 3. Auflage, Unveränderter Neudruck Leipzig: Löffler, Alicke 1905, S. 174-175.
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