Hundertundzweiundzwanzigstes Capitel.
Von den treulosen Weibern und der Verblendung mancher Prälaten.

[240] Ein gewisser Ritter zog von dannen, um die Weinlese auf seinem Weinberge zu halten, seine Frau aber, welche meinte, daß er sich etwas lange daselbst aufhalten werde, hatte einen Liebhaber, nach welchem sie schickte, daß er schnell zu ihr kommen möchte. Wie nun aber Beide sich mit einander niedergelegt hatten, da kam ihr Mann, der Ritter, welcher sich eine Weinranke in's Auge gestoßen hatte, und pochte an die Thüre, sie aber öffnete mit Zittern, versteckte jedoch zuvor ihren Liebhaber. Als aber der Ritter hereintrat, schmerzte ihm sein Auge sehr und er befahl das Bett zu rüsten, damit er sich niederlegen könne: seine Frau aber, welche fürchtete, er möchte ihren im Gemach versteckten Geliebten sehen können, sprach zu ihrem Manne: was willst Du denn so schnell zu Bette? sage mir doch, was Dir begegnet ist. Als jener es ihr aber berichtete, antwortete sie: laß mich, Herr, etwas anwenden, daß ich das gesunde Auge durch ein Heilmittel kräftige, damit Du nicht etwa durch Deine Krankheit auch noch das andere Auge einbüßest. Er aber hielt ihr sein Gesicht hin und sie legte etwas wie ein Heilmittel auf das gesunde Auge ihres Mannes, und auf einen Wink mit ihrer Hand entschlüpfte ihr Liebhaber. Hierauf sprach die Frau zu ihrem Manne: nunmehro bin ich sicher, daß Deinem gesunden Auge nichts Böses widerfahren wird: steige jetzt in Dein Bett und lege Dich schlafen.

Quelle:
Gesta Romanorum, das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. 3. Auflage, Unveränderter Neudruck Leipzig: Löffler, Alicke 1905, S. 240-241.
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