Hundertunddreiundzwanzigstes Capitel.
Wie junge Frauenzimmer von ihren Eltern vom Umgange mit Wollüstigen abgehalten werden müssen und ihrem Willen nicht überlassen werden dürfen.

[241] Ein gewisser Ritter, der eine Reise unternehmen wollte, vertraute seine Frau seiner Schwiegermutter, d.h. der Mutter seiner Gemahlin an. Seine Frau aber verliebte sich nach der Entfernung ihres Mannes in einen Jüngling und zeigte es ihrer Mutter an. Diese aber war ihr sogleich zu Willen und ließ den Jüngling holen; als sie aber noch mit einander bei Tische saßen, kam der Ritter und klopfte an die Thüre. Sogleich stand seine Frau auf, versteckte ihren Liebhaber in ihrem Bette und machte ihrem Manne auf. Kaum war der eingetreten, so befahl er ihr sein Bett zu machen, denn er war müde und wollte ausruhen. Hierüber ward seine Frau bestürzt und dachte bei sich darüber nach, was sie jetzt anfangen sollte. Wie das ihre Mutter sah, sprach sie zu ihr: meine Tochter, Du mußt nicht eher weglaufen um das Bett zu rüsten, als wir Deinem Manne die Decke gezeigt haben, welche wir gefertigt haben. Hierauf breitete die Mutter die Decke aus so viel sie konnte und gab ihrer Tochter den einen Zipfel zu halten, und sie spannten das Tuch so lange an, bis der Liebhaber hinaus und der Mann durch das Vorhalten der Leinwanddecke getäuscht worden war. Hierauf sprach die Mutter zu ihrer Tochter: breite jetzt diese Leinwand, welche mit Deinen[242] und meinen Händen gewebt ist, auf dem Bette Deines Mannes aus.

Quelle:
Gesta Romanorum, das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. 3. Auflage, Unveränderter Neudruck Leipzig: Löffler, Alicke 1905, S. 241-243.
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