Hundertundfünfunddreißigstes Capitel.
Von unserem Gewissen.

[260] Augustinus erzählt in seinem Buche vom Gottesreiche, daß Lucretia eine römische Edeldame war, welche den Calatinus zum Gemahl hatte. Als nun einmal jener Calatinus den Sohn des Kaisers Tarquinius mit Namen Sextus auf sein Schloß geladen hatte, ward Sextus sogleich von Liebe zu der reizenden Lucretia ergriffen. Er sah sich also eine passende Zeit ab, wo der Kaiser und Calatinus einmal sich aus Rom entfernt hatten, kehrte nach dem genannten Schlosse zurück und übernachtete da: in selbiger Nacht aber drang er wie ein Feind, nicht wie ein Gastfreund, heimlich in das Schlafzimmer der Lucretia, faßte mit der Linken ihre Brust, mit der Rechten aber hielt er ein Schwert, gab sich so zu erkennen und sprach: ich bin Sextus, sey mir zu Willen oder stirb. Sie aber wollte durchaus nicht einwilligen, also sprach Sextus: wenn Du mir nicht zu Willen bist, werde ich einen getödteten Sclaven nackt an Deinen zuvor ermordeten nackten Leib binden, damit das Gerücht in der ganzen Welt herumläuft, wie Lucretia mit einem Sclaven in ihrem Schlafzimmer umgebracht worden ist. Sie aber, welche einen solchen Schimpf fürchtete, gab ihre Einwilligung, und Sextus entfernte sich, als er seine Lust gebüßt hatte. Sie aber war sehr betrübt, berief durch Briefe ihren Vater und ihren Mann und ihre Brüder, den Kaiser und seinen Enkel und die Proconsuln zu sich, und als sie alle versammelt waren, sprach sie also zu ihnen: Sextus ist statt als Gastfreund als Feind[261] in mein Haus gekommen: erfahre hiermit, o Calatinus, daß die Kleidung eines fremden Mannes in Deinem Bette gewesen ist: obgleich aber mein Leib beschimpft wurde, so ist meine Seele unschuldig, sprich mich frei von dem Verbrechen, von der Strafe aber will ich nicht frei seyn. Alsbald durchbohrte sie sich mit eigener Hand mit einem unter ihrem Gewande verborgenen Schwerte, worauf ihre Freunde das Schwert nahmen und bei dem Blute der Lucretia schworen, das ganze Geschlecht des Tarquinius aus Rom zu vertreiben und auszurotten, was sie auch thaten. Den Sextus aber, den Urheber des Verbrechens, tödteten sie auf eine erbärmliche Weise.

Quelle:
Gesta Romanorum, das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. 3. Auflage, Unveränderter Neudruck Leipzig: Löffler, Alicke 1905, S. 260-262.
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