Hundertundvierzigstes Capitel.
Von der Gerechtigkeit und Billigkeit, die man im gegenwärtigen und zukünftigen Leben oft finden muß.

[266] Einst lebte ein König Heraclius, der unter andern Tugenden, die er besaß, auch sehr gerecht war und weder[266] durch Bitten noch durch Geschenke sich bewegen ließ, die Gerechtigkeit nicht an jedem Ort und jeder Zeit zu üben. Nun begab es sich aber einmal, daß einige Leute bei ihm einen Ritter wegen der Ermordung eines andern Ritters verklagten, und zwar auf folgende Weise: Beide zogen zu einem Kriege aus, und es war nicht zum Kampfe gekommen, gleichwohl ist der eine Ritter ohne den andern zurückgekommen und deshalb sagen wir, daß er den andern unterwegs erschlagen hat. Wie das der König hörte, fällte er das Urtheil, der Ritter solle zum Tode geführt werden. Wie man ihn aber fortschleppte, sah man den andern Ritter kommen, wegen welchem jener zum Tode verurtheilt worden war, und zwar durchaus nicht verletzt, weshalb sie Beide wieder vor den Richter führten. Der Richter aber sprach zornig zu dem ersten Ritter: ich befehle, daß Du getödtet wirst, weil Du bereits verurtheilt warst: und zu dem zweiten sagte er dasselbe, weil er die Ursache des Todes von jenem sey, und zu dem dritten sprach er: auch Du mußt sterben, weil Du geschickt wurdest den Ritter zu tödten und es nicht gethan hast.[267]

Quelle:
Gesta Romanorum, das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. 3. Auflage, Unveränderter Neudruck Leipzig: Löffler, Alicke 1905.
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