Hundertunddreiundsechzigstes Capitel.
Von ungebührlicher Furchtsamkeit.

[79] Einst war ein König, Alexander genannt, der nur einen einzigen Sohn, Namens Celestinus, besaß,[79] welchen er sehr lieb hatte: nun dachte er aber in seinem Herzen: es ist gut meinen Sohn durch Jemanden unterrichten zu lassen, berief also einen Philosophen zu sich und sprach: Meister, nimm meinen Sohn in die Lehre, und ich will Dir reichlichen Lohn geben. Jener aber erwiderte: Herr, ich bin bereit Deinen Willen in allen Stücken zu erfüllen. Er nahm also den Knaben mit sich und bekümmerte sich fleißig um denselben. Es begab sich aber, daß er eines Tages mit seinem Schüler Celestinus auf eine Wiese kam, wo Beide ein räudiges Pferd liegen sahen. Es waren aber neben dem Pferde zwei Schaafe einander gegenüber angebunden, welche graseten. Nun begab es sich aber, daß die Schaafe so neben dem Pferde weideten, daß eins auf der rechten und das andere auf der linken Seite des Pferdes stand, so daß sie dem Pferde immer näher kamen, und das Seil, mit welchem sie verbunden waren, über dessen Rücken gezogen wurde, bis es auf die räudige Stelle in der Mitte desselben kam. Wie aber das Pferd das Seil auf seinem wunden Rücken fühlte, sprang es auf, empfand aber immer mehr Beschwerde, und so fing es denn vor großem Schmerz an gewaltiger zu rennen, und schleppte so die beiden Schaafe mit fort. Je schwerer ihm aber das Gewicht der Schaafe ward, desto tiefer schnitt das Seil in die Wunde ein und vermehrte die Schmerzen derselben. Nun stand aber an der Wiese das Haus eines Müllers, und das Pferd lief, durch seine Schmerzen rasend gemacht, mit den beiden Schaafen in das Haus hinein, in welchem jedoch nichts als Feuer war. Nun streute aber das Pferd das Feuer hier und dorthin auseinander, so daß das ganze Haus anfing in Feuer zu stehen und das Pferd sich samt den Schaafen gänzlich verbrannte. Da sprach der Meister[80] zu Celestino, seinem Schüler: mein Lieber, Du hast nunmehr den Beginn, den Verlauf und das Ende der ganzen Geschichte ganz erfüllt gesehen, mache mir über diesen Stoff ein fehlerloses Gedicht, und zwar bevor das Haus durch den Brand ganz zerstört ist. So Du das aber nicht thun wirst, sage ich Dir, wirst Du eine große Strafe leiden müssen. Celestinus ging nun, als sich sein Meister entfernt hatte, für sich allein herum und gab sich unendliche Mühe, wußte aber durchaus nicht, wie er die Sache in Verse bringen sollte. Wie nun Celestinus hierüber sehr traurig war, erschien ihm alsbald der Teufel in menschlicher Gestalt und sprach zu ihm: mein Sohn, warum bist Du so traurig? Jener aber er widerte: es nützt mir nichts, es Dir zu sagen. Und Jener versetzte: rede ohne Sorgen, ich will Deiner Noth schon abhelfen. Gleich sagte Celestinus: ich soll bei schwerer Strafe Verse über ein räudiges Pferd und zwei Schaafe machen, und kann es doch gar nicht. Jener aber sprach: ich bin der Teufel in Menschengestalt und ein trefflicher Versemacher, fürchte also Deinen Meister fürder nicht mehr, sondern versprich mir, daß Du mein getreuer Knecht seyn willst, und ich will Dir Verse machen, die besser sind, als die Dein Meister selbst macht. Celestinus aber willigte ein und versprach ihm auf sein Wort, er wolle ihm treulich dienen, wenn er sein Versprechen erfüllen würde. Jener aber sagte ihm sogleich folgende Verse:


Es zog'n ein Seil zwei Schäfelein

Ueber eines Rosses Rücken fein,

Verletzet sprang das Roß hervor,

Riß beide Schaaf' mit sich empor,

Zu einer Mühle schleppt es sie,

Springt durch ein Feuer mit dem Vieh,[81]

Verbrennt die Schäflein, sich und sie,

Zu zahlen macht dem Wächter Müh.


Wie nun der Knabe diese Verse erhielt, freuete er sich sehr und begab sich nach Hause, der Meister aber sprach zu ihm: mein Sohn, hast Du die Verse irgendwo gelesen, oder selbst gemacht? Jener antwortete jedoch: ei ja, Meister. Hierauf sagte ihm derselbe die Verse her, wie wir sie eben hergesetzt haben. Als sie nun der Meister vernommen hatte, verwunderte er sich und sprach: sage mir, mein Sohn, wer sie Dir verfertigt hat. Jener aber entgegnete: Niemand. Worauf Jener sprach: so Du mir nicht gleich die Wahrheit sagst, wirst Du bis aufs Blut gepeitscht werden. Der Knabe, welcher Furcht hatte, erzählte ihm Alles von Anfang bis zu Ende, wie er sich dem Teufel verpfändet hätte. Der Meister aber ward sehr betrübt, ließ den Knaben kommen und ihn mit großer Zerknirschung seine Beichte hersagen und den Teufel abschwören. Nach diesem ward aus ihm ein heiliger Mann, der nach einem tugendhaften Leben an Gott seine Seele zurückgab.

Quelle:
Gesta Romanorum, das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. 3. Auflage, Unveränderter Neudruck Leipzig: Löffler, Alicke 1905, S. 79-82.
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