Hundertundsechsundsiebzigstes Capitel.
Von der Seelen Arznei.

[122] Es gab einst einen Knaben, der vom Nabel aufwärts in zwei Hälften gespalten war, so daß er zwei Köpfe und eine doppelte Brust besaß, und ebenso ein jeder seine eigenen Sinnwerkzeuge, so daß, wenn der eine aß oder schlief, der andere dieses nicht that. Nachdem sie so zwei Jahre mit einander gelebt hatten, starb der eine, indem ihn der andere noch drei Tage überlebte. So erzählt Plinius, daß in Indien ein Baum war, dessen Blüthen einen süßen Geruch und dessen Früchte einen lieblichen Geschmack hatten. Neben diesem Baume lag aber eine Schlange, welche Jacorlus hieß und den Geruch dieses Baumes haßte. Darum begab sie sich, um Blüthen und Früchte zu vernichten, an die Wurzel des Baumes und spritzte ihr Gift auf sie; wie das der Gärtner sah, nahm er Theriak aus diesem Lande und träufelte ihn durch die Spitze eines Rüthchens auf das Ende der Aeste. Dieser aber warf bald das Gift aus der verpesteten Wurzel und machte den unfruchtbaren Baum wieder Früchte tragend.

Quelle:
Gesta Romanorum, das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. 3. Auflage, Unveränderter Neudruck Leipzig: Löffler, Alicke 1905, S. 122-123.
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