Hundertundachtundsiebzigstes Capitel.
Von der Vorsehung, die die Mutter alles Reichthums ist.

[125] Ein gewisser König wünschte zu wissen, wie er sich und sein Reich regieren solle, er berief also einen Mann zu sich, der Andere an Weisheit übertraf und sprach: mein Lieber, gieb mir doch ein Bild an, nach welchem ich mich und mein Land regieren kann. Jener aber entgegnete: Herr, sehr gern. Er ließ hierauf sogleich an der Wand einen König mit einer Krone auf dem Haupte in folgender Gestalt abmalen. Ein König, in Purpur gekleidet, saß auf einem Throne, hielt in seiner linken Hand einen Ball, in der Rechten trug er einen Scepter und über seinem Kopfe hatte er eine brennende Leuchte. Links von ihm saß die Königin, eine sehr schöne Dame mit einer Krone und einem goldbestickten bunten Gewande bekleidet. Auf der andern Seite waren Räthe, die auf Sesseln saßen und vor sich ein offenes Buch hatten. Ganz vorn unter dem Könige war ein Ritter zu Pferde, mit Waffen geschmückt, einen Helm auf dem Haupte, einen Speer in der Rechten, an der Linken durch einen Schild geschützt, ein Schwert an seiner rechten Seite, seinen Leib geharnischt, Spangen auf der Brust, eiserne Beinschienen an seinen Lenden, Sporen an seinen Füßen, eiserne Handschuhe an seinen Fäusten und ein zum Kampfe abgerichtetes Roß mit seinem Geschirre. Unter dem König waren[125] auch seine Stellvertreter abgebildet, der eine saß wie ein Ritter zu Rosse, mit einem Mantel und einer Kappe, mit verschiedenen Pelzen angethan, und in der rechten Hand eine Ruthe ausgestreckt haltend. Auf gleiche Weise standen auch unter den Stellvertretern gemeine Leute, deren Gestalt folgende war: ein Mann, ganz wie ein anderer Mensch anzusehen, hielt in seiner rechten Hand eine Hacke, mit der man die Erde aufgräbt, mit der linken einen Stab, mit welchem eine Heerde Rindvieh getrieben wird, in seinem Gürtel stack eine Sichel, mit welcher man Korn mäht und die unnützen Ranken der Weinstöcke und Bäume beschneidet. Auf der rechten Seite des Königs vor dem Ritter war ein Handwerksmann dargestellt, dessen Abbildung so war, daß er in Menschengestalt in seiner Rechten einen Hammer führte, in seiner Linken eine Axt und in seinem Gürtel einen Topf mit Kitt hängen hatte. Ebenso stand vor den Landleuten ein Mann, der in seiner Rechten eine Zange hielt, in seiner Linken ein großes und hohes Schwert, an seinem Gürtel eine Schreibtafel und ein Tintenfaß mit Encaustum, hinter seinem rechten Ohre stack aber eine Schreibfeder. Ebenso stand vor dem Bauer auch ein Mann, der abgebildet war, wie er eine Wage mit Gewichten in der Rechten hielt, in der Linken eine Elle, am Gürtel einen Beutel mit mancherlei Münzsorten hatte. Ebenso standen vor der Königin Aerzte und Specereihändler in folgender Gestalt: ein Mann stand auf einer Lehrkanzel, ein Buch in der Rechten und einen Topf samt einer Büchse in der Linken, am Gürtel hatte er eiserne Instrumente, um Geschwüre und Wunden zu sondiren. Ebenso stand neben ihm ein Mann, der so abgebildet war: er hielt seine rechte Hand erhoben, um die Vorübergehenden in seine Herberge einzuladen, seine[126] Linke aber war ganz voll gestopft durch ein schönes Brod, und über sich hatte er ein Weinfaß, an seinem Gürtel aber hingen Schlüssel. Auf der linken Seite aber vor dem Ritter befand sich ebenfalls ein Mann, der folgender Maßen aussah: in der rechten Hand hielt er ein großes Schlüsselbund, in seiner linken eine Elle, und an seinem Gürtel hing ein Beutel mit Hellern. Endlich stand vor dem Könige noch ein Mann mit struppigen und verworrenen Haaren, in der Rechten hielt derselbe etwas Geld, in der Linken drei Würfel, an seinem Gürtel hing eine Büchse mit Schriften angefüllt. Wie nun der König das Gemälde betrachtet hatte, gab er sich so viel Mühe, daß er endlich weise ward.

Quelle:
Gesta Romanorum, das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. 3. Auflage, Unveränderter Neudruck Leipzig: Löffler, Alicke 1905, S. 125-127.
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