Siebzehnte Erzählung.
† (50).
Von einem Kinde, einem Hirten und einem Wolfe.

[199] Es herrschte einst ein Kaiser zu Rom, der hieß Lucius, der setzte ein Gesetz ein, daß wer ein Kind für Geld oder Lohn aufzöge, wenn dann das Kind in seiner Gewalt zu Schaden käme, der solle dafür sein Leben verlieren. Nun geschah es, daß die Kaiserin ein Kind gebar; das vernahm ein Ritter, der bat die Kaiserin gar fleißig, baß sie ihm vergönnte das Kind zu erziehen. Da sprach die Kaiserin zu ihm: ich empfehle Dir das Kind, allein Du mußt Dich wohl hüten, denn wird das Kind bei Dir beschädigt, so verlierst Du Dein Leben. Da sprach er zu der Frau: so ist es mir recht. Der Ritter aber nahm das Kind und führte es mit sich und überantwortete es seiner Frau zum Aufziehen, und die Frau nahm sich des Kindes an und zog es mit aller Zärtlichkeit auf, und das Kind ward Allen männiglich lieb und genehm. Nun geschah es zu einer Zeit, daß ein Jahrmarkt war und die Frau mit ihrem Herrn auf den Jahrmarkt ritt, und sie ließen das Kind daheim in der Wiege liegen und empfahlen es dem Hausgesinde. Wie nun der Herr und die Frau aus dem Hause waren, da gingen die Dirnen und das andere Gesinde auch aus dem Hause und vergaßen des Kindes in der Wiege und ließen es ohne Obhut in dem Hause bei offener Thüre. Nun war aber bei dem Dorfe ein böser Wolf, der demselben schon vielen Schaden gethan hatte: wie der sah, daß Niemand da war und die Thür offen stand, da ging er hinein und zog das Kindlein[200] aus der Wiege und eilte mit ihm dahin in den Wald. Das ersah ein Hirt, der da in der Nähe auf dem Felde hielt, der eilte dem Wolfe nach und stieg auf einen Baum und schaute dem Wolfe nach, wo er hinlief. Dann aber stieß er in sein Horn, da kamen Leute und eilten ihm nach, einige zu Fuß und etliche zu Pferde, und wie der Wolf die Verfolgung sah und merkte, und auch das Laden der Läufe und das Bellen der Hunde hörte, da fürchtete er sich sehr und ließ das Kindlein fallen, und wie die Leute das Kindlein fanden, waren sie des gar froh, doch am meisten der Ritter und die Frau, allein das Kindlein war doch an der Stirne beschädigt, so daß es blutete. Nachdem aber ward es ganz und gar wieder heil. Nun geschah es aber, daß der Kaiser nach seinem jungen Sohne sandte, den er gern sehen wollte, und der Ritter bereitete sich nach des Kaisers Gebot und machte sich auf zu ihm, fürchtete sich aber sehr und nahm das Kindlein mit sich. Wie aber der Kaiser das Kindlein erblickte, da sah er eine Narbe an des Kindes Stirn, und er sprach zu dem Ritter: mein Lieber, was ist das, das ich an des Kindes Stirn sehe. Da antwortete er: Herr, es begab sich einmal, daß ich mit meiner Frau auf dem Markt ritt und das Kind meinem Hausgesinde befahl, und also sagte er Alles zusammen dem Kaiser, wie es verwahrloset worden wäre und es ein Wolf fortgeschleppt hätte, und wie es von den Leuten wäre erlöset worden, die der Hirt mit seinem Blasen aufgebracht hätte, und davon rühre der Schaden her. Da sprach der Kaiser: Dir empfahl ich mein Kind und nicht Deinem Hausgesinde, darum hast Du wider mein Gebot gethan. Der antwortete aber: Herr, ich sehe ein, daß ich wider Euer Gebot gethan habe, und darum bitte ich Euch um Gnade. Da antwortet der Kaiser: weil Du denn bekennst, daß Du wider mein Gebot[201] gethan, und um Gnade bittest, darum so vergebe ich Dir, befleißige Dich aber fürder solches zu vermeiden. Das verhieß ihm der Ritter und that auch also, der Kaiser aber bewirthete ihn auch darnach wohl und brachte ihn zu hohen Würden und Ehren.

Quelle:
Gesta Romanorum, das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. 3. Auflage, Unveränderter Neudruck Leipzig: Löffler, Alicke 1905, S. 199-202.
Lizenz:
Kategorien: