Achte Erzählung.
([230] Cap. LXVIII. fehlt † p. XCXVII. sq. nach Û T. II. p. 391. sq.)

Es nahm einst ein Kaiser, der bereits hoch bejahrt war, aus thörigtem Unverstände ein junges Weib, welches einen heimlichen Liebeshandel mit einem jungen Ritter unterhielt. Nun beschloß er einen Zug in's gelobte Land zu thun, reiste zur Stunde dahin ab und ließ sein Königreich in der Obhut der Kaiserin und seiner Edeln. Es hatte aber der Schiffscapitain, bei welchem er sich eingeschifft hatte, bereits eine reichliche Belohnung in der Absicht erhalten, daß er den unglücklichen Kaiser[230] in das Meer werfen sollte, und kehrte nach vollbrachter That mit der Nachricht von dessen Tode nach Hause zurück, worüber die gottlose Kaiserin nicht geringe Freude empfand. Allein der alte Monarch, der noch von seinen jungen Jahren her ein guter Schwimmer war, hatte glücklich ein Eiland erreicht, welches er aber nur von wilden Bestien bewohnt fand. Am dritten Tage nach seiner Ankunft sah er in einem Gehölze einen jungen Löwen mit einem starken und fürchterlichen Leoparden kämpfen, und aus Mitleid für den Löwen, der beinahe schon überwältigt war, zog er sein Schwert und tödtete den Leoparden. Der dankbare Löwe blieb von Stund an bei ihm und brachte ihm jeden Tag einige Thiere zur Speise, welche er gejagt hatte, die sich der Kaiser vermittelst eines Feuers, welches anzumachen ihm geglückt war, zurichtete. Darüber war einige Zeit hingegangen, als er eines Tages am Gestade des Meeres spatzieren ging und ein Schiff gewahr wurde, welchem er alsbald ein Nothzeichen machte, die man auch an Bord bemerkte und ihn daselbst aufnahm. Alsbald tauchte der getreue Löwe hinter ihm in das Meer, schwamm an der Seite des Schiffes nebenher, bis ihn einige Matrosen, welche bemerkten, wie er von Müdigkeit erschöpft und dem Sinken nahe war, ins Schiff hinaufzogen. Bei des Kaisers Ankunft in seinem Königreiche belohnte er den Schiffscapitain reichlich und begab sich in Begleitung des Löwen in seinen Palast. Als er aber da ankam, vernahm er den Schall von musikalischen Instrumenten und wurde auch andere Freudenbezeugungen gewahr. Auf sein Befragen erfuhr er, daß sich die Kaiserin eben vermählt habe und seine Unterthanen nicht anders meinten, als daß er auf einer Reise nach dem heiligen Grabe umgekommen sey. Er wendete sich also an einen der Palastdiener[231] und bat ihn dem Kaiser zu melden, es sey ein Minstrel angekommen und lasse ihn ersuchen, er möge es ihm gestatten, ihm durch die Künste seines Löwen eine Unterhaltung zu bereiten. Alsbald erhielt er den Befehl vor dem neuen Monarchen zu erscheinen, allein kaum hatte ihn der Löwe erblickt, als er ihn auch schon in Stücken riß und gleich darauf auch die Kaiserin. Alle die Edeln aber erstaunten über dieses Schauspiel und wollten sich schon auf die Flucht begeben, als sich der Kaiser entdeckte und sie bat, ihre Furcht abzulegen, da die göttliche Rache erfüllt sey. Hierauf erzählte er ihnen seine Schicksale und faßte die Zügel der Herrschaft wieder.

Quelle:
Gesta Romanorum, das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. 3. Auflage, Unveränderter Neudruck Leipzig: Löffler, Alicke 1905, S. 230-232.
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