Zehnte Erzählung.
([232] Cap. LXXVII. bei Û p. 401. sq.)

Es gab einmal auf dem Schlosse eines Kaisers eine Quelle, deren Wasser die Kraft besaß die Trunkenheit spurlos zu verscheuchen. Nun war aber diesem Laster, welches der Kaiser außerordentlich verabscheute, einer seiner Ritter, Namens Ydronicus, besonders ergeben: wenn der aber die Folgen seiner Unmäßigkeit zu spüren begann, begab er sich zu der Quelle, trank einen tüchtigen Schluck und gewann alsbald seine Besinnung in dem Maaße wieder, daß der Kaiser, der ihm sehr zugethan war, noch nie seinen Fehler entdeckt hatte. Nun begab es sich aber, daß der Kaiser einstmals in einem Walde einen Vogel antraf, der so lieblich sang, daß er ganz wie vernarrt in seine Melodieen wurde und täglich wieder an denselben Ort ging, um ihn zu hören. Diese besondere Aufmerksamkeit, welche nun der Kaiser jenen seinen zwei Günstlingen zu Theil werden ließ, erregte aber den Neid seiner Hofleute, und einer von ihnen, der klüger als die übrigen war, unternahm es endlich sie zu stürzen. Zuerst verstopfte er aber jene Quelle, so daß als Ydronicus das nächste Mal wieder berauscht hinkam, er seines gewöhnlichen Heilmittels beraubt war, und der Kaiser, wie er seinen Zustand gewahr wurde, also gleich von Unwillen erfüllt seine Verbannung beschloß. Hierauf kehrte der arglistige Höfling wieder in den Wald zurück, und indem er alle Bewegungen des Vogels aufmerksam bewachte, bemerkte er, daß das Vogelmännchen öfters kam sein Weibchen zu besuchen, dieses aber in seiner Abwesenheit ihm häufig mit fremden Vögeln die Treue brach, sich aber allemal nachher in einer nahen Quelle badete, um ihr Männchen bei seiner Zurückkunft[233] zu hintergehen. Darum schloß er alsbald den Brunnen zu, und der ungetreue Vogel wurde zur Stunde von seinem Männchen entdeckt und in Stücke zerrissen.

Quelle:
Gesta Romanorum, das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. 3. Auflage, Unveränderter Neudruck Leipzig: Löffler, Alicke 1905, S. 232-234.
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