Vierzigste Geschichte

[35] geschah: Rabbi Jojsse ben Owin, der war gewöhntlich, daß er lernt bei Rabbi Jojsse aus Jokeress. Auf eine Zeit verließ er Rabbi Jojsse aus Jokeress un er ging lernen auf die Jeschiwe (Lehrhaus) von Reb Asche. Da sagt Reb Asche wider den Rabbi Jojsse ben Owin: »Wie kommst du auf meine Jeschiwe lernen? Du pflegst doch zu lernen auf der Jeschiwe von Rabbi Jojsse aus Jokeress. Warum kommst du nun von ihm weg un kommst auf meine Jeschiwe?« Da sprach Rabbi Jojsse ben Owin wider: »Einer, der nit Rachmones (Erbarmen) hat über seinen Sohn un über seine eigene Tochter, wie soll ich denn Rachmones über einen Fremden haben.« Was war das Maasse (die Geschichte) mit seinem Sohn un mit seiner Tochter? Es war auf eine Zeit, da hat Rabbi Jojsse aus Jokeress viel Arbeitsleut im Feld, die da arbeiten. Un es war sein Seder (Regel), daß er sie alle Tag zu essen bracht auf das Feld, allemal auf den Mittag. Un er bracht ihnen allemal selbert zu essen. Es geschah einmal auf einen Tag, daß er sich säumt gar lang, daß er seine Arbeitsleut nit konnt um Mittagzeit zu essen bringen. Un die Arbeitsleut die hätten gern gessen un sagten wider seinen Sohn: »Wir wollten gern essen, denn es is schon Mittag. Un dein Vater kommt noch nit um uns Essen zu bringen.« Un sie saßen beieinander unter einem Feigenbaum. Aber der Baum war noch nit fruchtbar. Da sprach der Sohn wider den Feigenbaum: »Feigenbaum, zieh aus deine Feigen un laß deine Feigen wachsen, um daß mein Vaters Arbeitsleut zu essen haben.« Da gewinnt der Baum seine Feigen, daß sich die Arbeitsleut wol satt anessen von die Feigen, die der Baum ließ[35] wachsen. Nit lang dernach kam der Vater un bracht seinen Arbeitsleut zu essen, wie sein Seder war. Un sprach wider seine Leut: »Ihr sollt nit über mich zörnen, daß ich so lang bin außen geblieben. Denn es is mir eine große Mizwe (Guttat) zuhanden gekommen. Da hab ich mich zu lang gesäumt.« Da sprachen die Arbeitsleut wider ihn: »Gott soll dich so satt machen, wie wir auf diesesmal sind.« Da sprach der Rabbi Jojsse wieder zu ihnen: »Woher seit ihr denn satt geworden, ihr habt doch niks zu essen gehabt?« Da haben sie ihm die ganze Schmue (Geschichte) verzählt, wie sie Feigen hätten gegessen. Da derschrak Rabbi Jojsse gar sehr un sagt wider seinen Sohn: »Mein lieber Sohn, du hast den obersten Herrn gemüht, daß er hat machen ausziehen Feigen von dem Feigenbaum eh seine Zeit is gekommen. Du sollst auch sterben eh deine Zeit wird sein zu sterben.« Un er verflucht seinen Sohn, daß er müßt sterben vor seiner Zeit. Was war nun das Maasse (die Geschichte) mit seiner Tochter? Das will ich euch schreiben: Der Rabbi Jojsse, der hatt eine schöne Tochter als ihresgleichen zu derselbigen Zeit von Schönheit nit zu finden war. Eines Tages sah Rabbi Jojsse einen Bocher (jungen Mann), der macht ein Loch in seinen Zaun, derwartend, daß er seine Tochter könnt wol ansehen. Un der Rabbi Jojsse kam eben derzu. Un sprach zu dem Bocher: »Was hast du da im Sinn, daß du da ein Loch machst?« Da sprach der Bocher: »Lieber Rabbi, wenn ich schon nit würdig bin, daß ich euere Tochter soll zu einem Weib nehmen, da laßt mich sie doch genügend ansehen von ihrer Schönheit wegen.« Da sprach er: »Liebe Tochter, du machst, daß die Leut um deiner Hübschkeit halben sich mezaar sind (sich kränken). Du sollst wiederkehren zu der Erden, derwartend, daß sich die Leut nit sollen versündigen an dir.« Un verflucht die Tochter, daß sie wieder sturb un hat kein Rachmones über seine eigene Tochter. Warum soll ich denn Rachmones über ihn haben? Derhalben hab ich nit gewollt länger bei ihm lernen.

Quelle:
Allerlei Geschichten. Maasse-Buch, Buch der Sagen und Legenden aus Talmud und Midrasch nebst Volkserzählungen in jüdisch-deutscher Sprache, Nach der Ausgabe des Maasse-Buches, Amsterdam 1723, bearbeitet von Bertha Pappenheim, Frankfurt am Main: J. Kauffmann Verlag, 1929, S. 35-36.
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