Achtundneunzigste Geschichte

[89] geschah: Auf eine Zeit da gingen ganz Iisroel auf zum Regel (Wallfahrt) gen Jeruscholajim, wie sie alle Jahr dreimal pflegten auf zu gehn. Da hatten ganz Iisroel kein Wasser zu trinken, denn es hat lang nit geregnet. Da war ein reicher Mann zu Jeruscholajim, der hieß Nakdimen ben Gorjen, der ging zu einem Hegmon (Bischof, Statthalter) von Jeruscholajim un bat ihn, er sollt ihm zwölf Brunnen Wasser leihen, die ich bedarf für die Leut Iisroel, die aufgegangen zum Regel, die haben kein Wasser zum Trinken. Un ich will sie dir mit der Zeit wieder bezahlen. Un wenn ich sie nit in der Zeit wieder bezahl, die ich dir gesetzt hab, so will ich dir zwölf Zentner mit Silber derfür geben. So ließ ihm der Hegmon das Wasser. Un wie nun schier die Zeit vorhanden war, daß er sollt ihm das Wasser wieder bezahlen, un es hat noch nit geregnet, des Morgens schickt der Hegmon nach dem Nakdimen, daß er ihm sollt die Brunnen wieder derfüllen oder er sollt ihm das Geld derfür schicken, wie er verheißen hat. Da antwortet ihm Nakdimen wider, es wär noch nit Nacht. Da spottet der Hegmon seiner un sprach: »Bis allher hat es noch nit geregnet un nun wird es regnen in der kleinen Zeit.« Sobald ging der Hegmon in das Bethhamerchez (Badehaus) vor großer Simche un Freude wegen, denn er meint ja gewiß er hätt das Geld gewonnen. Un derweil der Hegmon in das Bad war gegangen derweil ging der Nakdimen in das Bethhamikdosch (Bethaus) un tät seinen Tallis (Gebetmantel) auf un tät Tefille (betete) un sagt: »Herr all der Welt, es is ja zu wissen vor deinem heiligen Namen, daß ich das nit hab von meinem Kowaud (Ehre) wegen getan oder von wegen Ehrung meines Vaters, neiert von deiner Ehre wegen, daß die Iisroel sollen zu trinken haben, derweil sie sind aufgegangen zum Regel.« Sobald er seine Tefille (Gebet) getan hat, da empfangt der Heilige, gelobt sei er, seine Tefille un alsobald überzug sich der Himmel mit eitel Wolken un hebt an gar sehr zu[89] regnen, daß all die Brunnen wieder voller Wasser waren un war noch viel Wasser übrig. Als nun der Hegmon aus dem Bad ging, so ging eben der Nakdimen aus dem Bethhamikdosch un sie begegneten sich mit einander. Da sprach der Hegmon wider den Nakdimen: »Wolan es regnet.« Da sprach der Nakdimen zu dem Hegmon: »Du mußt mir Geld wieder heraus geben, denn die Brunnen sind voller als sie zum ersten sein gewesen.« Da sprach der Hegmon wider den Nakdimen: »Ich weiß wol, daß der Heilige, gelobt sei er, den starken Regen von deinetwegen hat lassen kommen. Aber noch gleichwol bist du mir mein Geld schuldig, denn die Sonn is schier nun unter gegangen. Un ob es schon geregnet hat, so hat es mir in mein Zeit geregnet, denn es is schon Nacht.« Da ging der Nakdimen wieder in das Bethhamikdosch (Bethaus) un tät seinen Tallis (Gebetmantel) wieder um, un tät wieder Tefille un sagt: »Herr all der Welt, laß wissen, daß du Freund hast in der Welt. Un sowol als du mir hast zum ersten ein Neß (Wunder) getan mit dem regnen, so tu mir wieder zum andernmal auch ein Neß mit der Sonn un laß die Sonn wieder scheinen.« Alsobald kam ein Wind un war die Wolken verspreiten un da hebt die Sonn wieder an zu scheinen. Da sagt der Hegmon: »Wär nit gewesen, daß die Sonn hätt wieder geschienen, so hätt ich doch ein Anspruch an dir gehabt, daß du mir das Silber hättest müssen geben.« Wir haben gelernt, der Mann hieß nit Nakdimen neiert er hieß Bune. Un warum heißt man ihn denn Nakdimen? Von dessentwegen, derweil die Sonn von Kedem (Osten) von seinetwegen hat geschienen. Wir haben auch gelernt: Drei sind gewesen, daß die Sonn von ihretwegen hat geschienen. Der eine hieß Nakdimen, der andere is Jehauschue gewesen, da er die Malochim (Könige) vor ließ derschlagen, da stund die Sonn auch still. Der dritte is Mojsche Rabbenu gewesen, dem is die Sonn auch still gestanden, da er ließ den Amolek erschlagen. Un sie waren die drei frummen Leut. Derhalben, liebe Leut, vertraut dem Heiligen, gelobt sei er, er verlaßt seine Frummen nit, die sich auf ihn versichern un auf ihn hoffen.

Quelle:
Allerlei Geschichten. Maasse-Buch, Buch der Sagen und Legenden aus Talmud und Midrasch nebst Volkserzählungen in jüdisch-deutscher Sprache, Nach der Ausgabe des Maasse-Buches, Amsterdam 1723, bearbeitet von Bertha Pappenheim, Frankfurt am Main: J. Kauffmann Verlag, 1929, S. 89-90.
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