Die Nadel

[109] Ein junges Mädchen fordert einen jungen Burschen vor den Kadi, der ihr Gewalt angetan hat, während sie in einem Weinberg Arbeit verrichtete. Das Mädchen ist groß und kräftig. Der Bube klein und mager.

»Hat er dich geschlagen?« forscht der Richter.

»O nein; aber das hindert nicht, daß ich kein Mädchen mehr bin, und ich war's noch, ehe ich in den Weinberg hineinging!«

»Gut,« sagt der Richter.

Und geht um ein kleines hinaus und kommt mit einer Nadel und einem Endchen Faden zurück.

»Tritt herein,« befiehlt er der Klägerin. »Nimm dies Fädchen und fädle es in das Nadelöhr ein!«

Das Mädchen denkt: das ist leicht geschehn.

Doch jedesmal, wenn der Zwirnsfaden in das Nadelöhr eingehn will, macht der Kadi eine Bewegung.

»Nimmer werde ichs zustandebringen,« erklärt sie, »wenn Ihr Euch so unaufhörlich bewegt!«

»Nun denn, warum tatest du nicht ebenso in deinem Falle? Dann wäre es dem Burschen nie gelungen, dir die Jungfernschaft zu rauben!«

Quelle:
[Hansmann, Paul] (Hg.): Schwänke vom Bosporus. Berlin: Hyperionverlag, [1918], S. 109-110.
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