[137] 31. Die sieben Rehe.

Es war einmal ein Graf, der besaß viele Wälder und hatte eine zahlreiche Dienerschaft. Er war sehr gottesfürchtig und hatte schon manchen Sieg erfochten. In den Tagen des Friedens war es sein größtes Vergnügen, dem Wilde nachzujagen, wobei er sich von seinem Gefolge oft ganz weit entfernte. Eines Tages, als er wieder auf einer Jagd war, sah er in der Ferne ein weißes Reh mit Blitzesschnelle über eine Wiese laufen. Eiligst rannte er auf seinem Pferde ihm nach und verfolgte es bis tief in den Wald. Von seiner Dienerschaft war ihm niemand gefolgt, denn er war jedem zu schnell und auch bald aus den Augen aller verschwunden. Das machte niemandem Sorge um ihn, denn er war oft schon allein, ja häufig erst des andern Tages von solcher Jagd zurückgekehrt: allein dießmal war ihm selbst bange. Er sah, daß er sich schon tief in den Wald verirrt habe, und trotzdem, daß er sein Jagdhorn ertönen ließ, was weit hörbar war, kam niemand herbei. Dennoch folgte er immer noch dem Rehe. Dieses führte ihn nun auf eine große schöne Wiese, wo er zu seinem Erstaunen noch sechs andere Rehe sah, die ebenfalls weiß waren, worunter jedoch eines etwas größer war und einen goldenen Ring um den Hals hatte. Er feuerte seine Pistole mehrere Male darauf ab; allein so gut er zielen mochte, der Schuß ging immer fehl. Die sieben Rehe sprangen nun weiter, und auch der Graf folgte ihnen nach. Sie kamen abwechselnd durch dichte Wälder, über schöne Wiesen und[137] Berge, bis sie endlich vor einem großen Schlosse anlangten, das niemand zu bewohnen schien. Zu jeder Seite des Thores aber hielten zwei riesige Löwen Wache.

Als die Rehe angelangt waren, öffnete sich das Thor. Die Rehe und auch der Graf sprengten durch, und dann schloß es sich wieder von selbst. Der Graf sah sich nun in einem großen viereckigen Hofe, in welchem ein Thor zu sehen war, das dem ersteren gegenüber lag. Auch dieses öffnete sich, und die sieben Rehe liefen zu demselben hinaus, worauf sich das Thor wieder schloß und der Graf nun zwischen den vier Mauern eingeschlossen war.

Er begab sich in die oberen Stockwerke und besah sich die Zimmer und Säle. Alle hatten goldene Wände, goldene Betten und Tische standen in denselben, und in einem kleineren Gemache hing ein großer Spiegel in einem breiten goldenen Rahmen, und hinter demselben steckte eine Pergamentrolle. Er nahm sie hervor und las: »Wer die verbannte Königstochter befreiet, soll ein ganzes Königreich haben. Doch muß er ein ungeheures Gespenst bezwingen, das jede Nacht um zwölf Uhr unter fürchterlichem Gepolter in das Schloß kommt und wieder verschwindet, nachdem es bis ein Uhr genug herumgetobt und sich von den Speisen, deren eine Menge auf den goldenen Tischen sind, gesättiget hat.«

Als der Graf dieß gelesen hatte, wurde er zwar von Schauer ergriffen, allein er beschloß doch, es mit dem Ungeheuer aufzunehmen, denn er war gut bewaffnet. Er aß etwas und begab sich zur Ruhe, denn es war schon spät. Der Graf legte sich in eines der goldenen Betten, und auf einem nahen Tische befanden sich sein Schwert und zwei geladene Pistolen, damit er alles gleich zur Hand nehmen könne. Er schlief nicht lange, da hörte er mit fürchterlichem Kettengerassel etwas die Stiege heraufkommen, und es zeigte sich bald ein schwarzer Mann, der in der Mitte der Stirne ein großes Auge hatte, welches so stark leuchtete, daß davon das ganze[138] Zimmer erhellt war. Er war ganz mit Haaren bewachsen und hatte Ketten um den Hals geschlungen. Als der Graf ihn sah, sprang er auf ihn zu und war so glücklich, ihm mit seinem Schwert den Kopf entzwei zu hauen. Noch aber konnte er dem Grafen sagen, er möge dem Rehe mit dem goldenen Halsbande einen Kuß geben. Der Graf legte sich nach diesem Kampfe wieder zu Bette und ruhte noch die ganze Nacht.

Als er des Morgens in den Hof ging, sah er wieder die sieben Rehe, die ihn am vorigen Tage hieher geführt hatten. Er näherte sich ihnen und küßte das größte der Rehe und siehe da, es stunden sieben weißgekleidete Mädchen vor ihm, von denen eines besonders schön war und ein goldenes Halsband hatte. Dieses dankte dem Grafen für seine Erlösung und sagte, sie sei die Prinzessin des Reiches und sammt ihrem Gefolge von dem Gespenste in Rehe verwandelt worden. Sie erzählte ferner, daß sie schon viele in das Schloß geführt, aber keiner sei so glücklich gewesen, das Gespenst zu bezwingen.

Sie heiratete dann ihren Retter und beide waren glücklich; und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie heute noch.[139]

Quelle:
Vernaleken, Theodor: Kinder- und Hausmärchen dem Volke treu nacherzählt. 3.Auflage, Wien/Leipzig, 1896 (Nachdruck Hildesheim: Olms, 1980), S. 137-140.
Lizenz:
Kategorien: