Das Kind und der Regen

Das Kind und der Regen.
Ein Nyassamärchen.

[78] Es waren einmal einmal ein Mann und eine Frau, die starben und ließen zwei Kinder zurück.

In dem Lande, in welchem die Kinder lebten, herrschte große Trockenheit. Man hatte schließlich keinen Tropfen Wasser mehr; trotzdem gab es noch viel zu essen. Eines Tages spielten die Kinder, welche keine Eltern mehr hatten, mit anderen Kindern und taten sich Mehl in ihre Kochtöpfe und wollten kochen; aber es fehlte ihnen an Wasser. »Wenn ihr niemandem etwas sagen wollt,« sagte ein Kind zu den Gespielen, »so werde ich euch etwas zeigen.«

»Wir sagen nichts,« versprachen die Kinder.

Darauf ließ das Mädchen, welches zuerst gesprochen hatte, alle Wasserkrüge auf einen Fleck nebeneinandersetzen, stellte sich in ihre Mitte und blickte auf zum Himmel. Dort waren einige kleine Wolken, die fingen alsbald an sich zusammenzuziehen, und es fiel ein wenig Regen gerade in die Kochtöpfe hinein. Da kochten die Kinder ihre Speise, aßen davon und brachten das übrige hinein.

»Woher habt ihr das Wasser bekommen?« fragten die Väter der Kinder.

Aber diese schwiegen still und verrieten nichts.

Am nächsten Tage gingen sie wieder zu ihrem Spielplatz.[79] Da fragte das Mädchen, welches den Regen gemacht hatte:

»Hat einer von euch mein Geheimnis verraten?«

»Niemand,« antworteten sie.

Ein Mädchen unter ihnen aber hatte sich eine List ausgesonnen und zwei Wassertöpfe mitgebracht. Den einen versteckte es im Gebüsch.

Wieder blickte das andere Kind auf zum Himmel und hieß ihre Gespielen schnell ihre Wasserkrüge um sie herumzusetzen.

Da kam eine große Wolke, die gab vielen Regen, aber der Regen fiel nur in die aufgestellten Krüge.

Als es aufgehört hatte zu regnen, goß das Kind, welches zwei Krüge hatte, einen Teil des Wassers heimlich in den Krug, den es im Busche versteckt hatte. Bald darauf, als sie fertig gekocht und gegessen hatten, gingen sie heim. Da es Nacht war und alles schlief, ging das Kind zu seiner Mutter, weckte sie und sprach:

»Ich habe dir etwas zu erzählen; erst aber versprich, daß du es niemandem weiter sagst.«

Sie antwortete:

»Erzähle, mein Kind!«

Darauf faßte das Kind seine Mutter bei der Hand und führte sie dahin, wo sie den Topf mit dem Wasser versteckt hatte.

Die Frau erzählte die Geschichte von dem wunderbaren Regen einer anderen und diese wieder einer anderen, bis schließlich der Sultan davon hörte.

Der Sultan schickte sofort zu seinem Vezier und befragte ihn in der Angelegenheit.

»Laß uns Brunnen graben,« sprach der Vezier, und alsbald wurden viele und tiefe Brunnen gegraben.

Als die Brunnen fertig waren, ließ der Sultan das[80] Kind, welches den Regen gemacht hatte, holen, gab ihm vielen Schmuck und sprach: »Laß Regen für mein Land herniederfallen.«

Das Kind sprach zu dem Sultan und den Leuten, welche sich um ihn versammelt hatten:

»Geht weiter fort von mir!«

Sie alle aber weigerten sich, diesen Worten zu gehorchen.

Endlich blickte das Kind auf zu den Wolken, deren eine Menge am Himmel standen. Sofort ergoß sich unendlicher Regen auf das Land, und es blitzte und donnerte, so daß alle Menschen erschraken. Dabei sahen sie, wie inmitten von Blitz und Donner das Kind vor ihren Blicken von der Erde fortgenommen wurde und in den Wolken verschwand.

Quelle:
Held, T. von: Märchen und Sagen der afrikanischen Neger. Jena: K.W. Schmidts Verlagsbuchhandlung, 1904, S. 78-81.
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