Der Gesang des Kindes

Der Gesang des Kindes.
Eine Naosage.

[125] Es war einmal eine Frau, die hatte zwei gesunde, kräftige Kinder. Darauf bekam sie noch ein drittes; das aber war ein unansehnliches, krankes Knäblein ohne Kopf, ohne Nase, ohne Zähne und ohne Augen. Als die Mutter das Kind voller Entsetzen betrachtet hatte, sprach sie zu ihrem Manne: »Laß uns fortziehen von hier und dies armselige Ding zurücklassen!« So zogen die Eltern mit ihren beiden gesunden Kindern von dannen. Kaum aber hatten sie ihre Hütte verlassen, als dem armen Kinde Kopf, Hände und Füße wuchsen. Es hatte aber nicht genug Kraft, um denen, die fortgezogen waren, zu folgen. In der Hütte fand es einen Stock, den nahm es und erschlug damit eine Ratte, zog ihr die Haut ab, spannte diese über die Schale einer Affenbrotbaumfrucht und trommelte darauf, indem es sang:


Ich saß ohne Vater, – ich saß!

Ich saß ohne Mutter, – ich saß!

Ich saß ohne Kopf, – ich saß!

Ich saß ohne Glieder, – ich saß!


Während es so sang, kam eine Hyäne vorbei, die lauschte den lieblichen Tönen, trat an die Schwelle und[126] sprach: »Lehre mich dein Lied, damit auch ich es singen kann!«

Das Kind antwortete: »Gern! Gib du mir aber zuerst Kleid, Hemd, Mütze, Gewehr und Bogen, hernach will ich dich's lehren.«

Die Hyäne gab, was der Knabe von ihr verlangt hatte. Dieser zog alles an und sprach dann zu dem Tiere: »Tritt ein in die Hütte!« Darauf schloß er die Hyäne ein und ging seines Weges; denn jetzt war er kräftig geworden. Als er wanderte, sang er fortwährend:


Ich saß ohne Vater, – ich saß!

Ich saß ohne Mutter, – ich saß!

Ich saß ohne Kopf, – ich saß!

Ich saß ohne Glieder, – ich saß!


So singend schritt der Knabe richtig den Weg entlang, den seine Mutter gegangen war, weit, weit, weit fort, bis er die fand, die ihn krank und elend verlassen hatten. Weder seine Mutter, noch sein Vater, noch seine Geschwister erkannten ihn. Der Knabe trat zu ihnen in ihre Hütte und setzte sich auf ihre Barese. Dann sang er wiederum sein altes Lied.

Die Leute, die vorbeigingen und ihn hörten, sagten: »Wie schön er singen kann!«

Dann fragten sie ihn:

»Woher kommst du?«

Er aber antwortete ihnen nicht, sondern fuhr fort zu singen:


Ich saß ohne Vater, – ich saß!

Ich saß ohne Mutter, – ich saß!

Ich saß ohne Kopf, – ich saß!

Ich saß ohne Glieder, – ich saß![127]


Und die Leute, die ihn sahen, sprachen weiter untereinander:

»Er ist ein sehr schöner Mann.«

Auch seine Schwester, die ihn nicht kannte, fand ihn sehr schön und sagte: »Er sollte mich heiraten!«

Sein Schwager, der Mann seiner Schwester, nahm ein Huhn, schlachtete es, kochte Ugali und stellte das Essen ins Haus. Darauf ging der Knabe von der Barese ins Haus, setzte sich und begann wieder sein Lied zu singen.

Da schüttelten die Leute draußen den Kopf und sagten:

»Warum singt er diesen Gesang?« Er rief:

»So höret! Meine Mutter hatte zwei Kinder, die gesund waren. Als drittes wurde ich geboren: klein und armselig, ohne Kopf und ohne Glieder. Darauf zog meine Mutter fort und ließ mich zurück.«

Als die Leute diese Erzählung gehört hatten, sprachen sie untereinander:

»Wir wollen den Hausherrn fragen, vielleicht weiß er, was diese Rede bedeutet.«

Darauf gingen sie aus dem Hause hinaus, und bald folgte ihnen auch der, welcher seinen Eltern bis hierher gefolgt war.

Als die Leute sahen, daß er das Essen, welches man ihm vorgesetzt hatte, nicht anrührte, fragten sie ihn, warum er es nicht äße. Er aber antwortete nur: »Nein!«

Da sprachen jene weiter:

»Weshalb singst du von deiner Mutter, daß sie dich zurückgelassen habe und von dir fortgegangen sei?«

Auch seine Mutter sprach zu ihm und sagte:

»Ich kann den Gesang nicht recht verstehen.«

Ihr Mann aber wurde zornig und sprach:

»Du Törin, glaubst du etwa, dies Kind sei das deine?[128] Ich sage dir, der Mann hier ist ein Lügner, – aber laß uns seinen Gesang noch einmal hören, – vielleicht können wir ihn dann besser verstehen.«

Darauf sang der Fremde wieder die sonderbaren Worte:


Ich saß ohne Vater, – ich faß!

Ich saß ohne Mutter, – ich faß!

Ich saß ohne Kopf, – ich saß!

Ich saß ohne Glieder, – ich saß!


»Was du gesungen hast, haben wir nun wohl gehört,« sagten die Leute darauf zu ihm, »nun sprich zu uns, singe nicht mehr!«

Und jener sprach:

»Diese ist meine Mutter!«

Du, o Mutter, hattest zwei Kindern das Leben gegeben, dann kam ich als drittes. Ihr aber spracht zueinander: »Das ist ein armseliges Geschöpf!« Denn ich hatte keinen Kopf und keine Glieder. Deshalb zogt ihr fort und ließt mich zurück. Als ihr fort wart, wuchsen mir die Glieder, und ich wurde ein Mann. Ich tötete eine Ratte und machte mir aus ihrem Fell eine Trommel. Da kam an die Tür eine Hyäne und hörte mich singen. Sie kam herein und sagte:

»Unterrichte mich!«

»Gib mir erst alles, was man zum Anzug braucht,« sprach ich, und als sie das getan hatte, schloß ich sie ein und ging meines Weges. Viele, viele Stunden bin ich gewandert, bis ich hierher kam! »Ja, ich bin euer Kind, das ihr verlassen habt!«

Da weinten die Eltern gar sehr vor Freude, und die anderen Leute, welche die Worte mit angehört hatten, lachten und freuten sich mit ihnen.

Quelle:
Held, T. von: Märchen und Sagen der afrikanischen Neger. Jena: K.W. Schmidts Verlagsbuchhandlung, 1904, S. 125-129.
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