Der Häuptling und der Vogel

Der Häuptling und der Vogel.
Eine Naosage.

[129] Es war einmal ein großer Häuptling, der war sehr mächtig und sehr stolz; denn er vermeinte, alles zu können. Er war auch ein sehr guter und geschickter Vogelfänger und glaubte, in der Kunst des Vogelfangens komme keiner ihm gleich. Eines Tages erschien in seinem Feld ein sehr schöner Vogel; der fraß alle Früchte und sang fortwährend:

»Tsche, Tsche, Tsche, Tsche, Tsche.«

Der Häuptling sprach zu seinen Leuten:

»Diesen Vogel müssen wir fangen; denn er frißt mir alle Früchte meines Feldes auf.«

Darauf machte er sich mit einer Schar von Männern auf, den Vogel zu jagen.

»Seht den Vogel an,« rief der Häuptling, »er ist sehr diebisch und muß durchaus gefangen werden.«

Das Tier flog nun vor ihnen her, immer eine kleine Strecke; dann ließ er sich nieder und ruhte, bis seine Verfolger ihm ganz nahe waren.

»Tsche, Tsche, Tsche, Tsche,« sang es von neuem und flog weiter.

Weiter und immer weiter verfolgten die Leute das hübsche Tier, bis sie müde waren, und sich ausruhen[130] mußten; nur einige wenige jagten ihn noch und verloren sich in ein Bambusdickicht. Als der Vogel aus dem Gebüsch wieder herauskam, jagten die anderen Leute ihn auch wieder und gingen verloren wie die ersten. Der Vogel kam wieder: zum dritten, sechsten und zehnten Male, und jedesmal fanden sich Männer, ihn zu verfolgen; aber sie gingen alle verloren, bis zuletzt nur der Häuptling allein noch übrig war. Da kamen die Weiber der verloren gegangenen Männer, klagten den Häuptling an und verlangten, daß er ihnen ihre Männer wiedergebe. So blieb ihm nichts übrig, als sich allein auf die Wanderung zu begeben und nach den Jägern zu suchen. Vor ihm her flog wieder der Vogel, aber er ließ sich nicht fangen. Als der Häuptling in den Bambuswald kam, öffnete der Vogel einen großen Termitenhügel. In diesen ging der Häuptling hinein und fand darin seine Leute.

Der Vogel flog nun hinein und befreite die Männer des Häuptlings; ihn selbst aber behielt er zurück und sprach:

»Du hast gesagt: Ich erliege bei keinem Ding, und alles vermag ich!«

Nun war der gefangen von einem Vogel, der sich einst gebrüstet und für allmächtig gehalten hatte.

Quelle:
Held, T. von: Märchen und Sagen der afrikanischen Neger. Jena: K.W. Schmidts Verlagsbuchhandlung, 1904, S. 129-131.
Lizenz:
Kategorien: