Eine Geschichte der Neger von Damaraland

Eine Geschichte der Neger von Damaraland.

[172] Es war einmal ein Kind, welches eine Eingui (Art Frucht) hatte. Es zeigte dieselbe seiner Mutter und sprach:

»Mutter, warum sagst du mir nicht, daß ich dir diese Frucht geben soll? Glaubst du, ich würde sie dir nicht lassen?«

Die Frau sprach:

»Mein Kind, gib mir die Frucht,« worauf ihr das Kind die Eingui gab und davonlief, indessen die Mutter sie verzehrte. Als das Kind aber wiederkam, sprach es:

»Mutter, gib mir meine Frucht.«

Die Frau entgegnete:

»Die Eingui habe ich mir wohl schmecken lassen.«

Da weinte das Kind und sprach:

»Warum hast du die Eingui gegessen, die ich von unserem Baume gepflückt habe? Es war meine Eingui!«

Um es zu trösten, gab die Mutter ihm eine Nadel; mit der lief das Mädchen zu seinem Vater. Der war gerade bei der Arbeit, aus Gras und Binsen Streifen zu flechten, wie die Damaramänner sie um ihre Hüften sich schlingen, und zum Flechten brauchte er spitze Dornen Das Kind sprach:[173]

»Vater, warum läßt du dir nicht vor mir diese Nadel geben, statt mit Dornen zu flechten?«

»Mein Kind, gib mir doch die Nadel,« sprach darauf der Vater. Das Mädchen gab sie ihm und lief davon. Als der Mann mit der Nadel nähte, brach sie entzwei. Als nun das Kind zurückkam, um sie wiederzufordern, sprach er:

»Sie ist zerbrochen!«

Da weinte das Kind und sagte:

»Vater, warum hast du die Nadel zerbrochen, die meine Mutter mir gab, die meine Eingui gegessen hat, die ich mir von unserem Baum gepflückt habe?«

Zum Trost für die zerbrochene Nadel gab der Mann seinem Kinde eine Axt, mit der lief es auf das Feld und traf dort Buben an, die das Vieh hüteten. Die Knaben waren dabei, Honig aus den Bäumen zu nehmen, und da sie nicht hoch genug reichen konnten, sägten sie den Baum um mit einem Steine. Da sprach das Kind:

»Warum bittet ihr mich nicht um meine Axt? Glaubt ihr etwa, ich würde sie euch nicht geben?«

»Gib uns deine Axt!« baten da die Knaben.

Das Mädchen gab sie ihnen und lief fort. Als es aber zurückkam und die Axt forderte, fand es, daß sie in Stücken war.

Da fing das Mädchen an bitterlich zu weinen und klagte:

»Warum habt ihr meine Axt zerbrochen, die mein Vater mir gab, der meine Nadel zerbrach, die ich von meiner Mutter hatte, die meine Eingui gegessen hat, die ich von unserem Baume für mich gepflückt hatte.«

Um das Mädchen zu trösten, gaben die Knaben ihm von ihrem Honig, mit dem lief es eilends weiter und traf[174] bald ein kleines, altes Weib, das saß auf einem Stein und aß Insekten:

»Warum bittest du mich nicht um meinen Honig?« fragte das Kind. »Glaubst du, ich würde ihn dir nicht geben?«

»So gib ihn mir!« sprach das Weib.

Das Kind tat es und lief davon; bald aber kam es wieder und wollte den Honig zurückhaben; jedoch hatte die alte Frau ihn verzehrt. Da fing das Mädchen wieder an zu klagen und sprach:

»Warum hast du meinen Honig gegessen, den die Knaben mir gegeben haben, die meine Axt zerbrachen, die ich von meinem Vater hatte, der meine Nadel zerbrach, die meine Mutter mir gab, die meine Eingui gegessen hat, die ich von unserem Baume für mich pflückte?« Das alte Weib gab dem Kinde etwas Negerkorn, das nahm es und lief hin zu den Pfauen, die den Boden scharrten und nach Nahrung suchten. Die Pfauen aßen alles auf, und als das Kind wiederkam und das Korn zurückhaben wollte, war nichts übrig geblieben. Da klagte das Kind:

»Ihr Pfauen, warum habt ihr mein Negerkorn gegessen, das mir das alte Weib gab, welches meinen Honig verzehrt hat, den ich von den Knaben bekommen habe, die meine Axt zerbrochen haben, die mein Vater mir gab, der meine Nadel zerbrach, die ich von meiner Mutter hatte, die meine Eingui gegessen hat, die ich von unserem Baume für mich gepflückt hatte?«

Als die Pfauen das Mädchen so klagen hörten, flogen sie in die Luft und warfen ihm schöne, bunte Federn zu; die nahm es und zeigte sie den Schafhirten, welche gerade ihren Schafen Wolle ausrupften, um sie für ihre Bogen und Pfeile zu brauchen.[175]

»Warum bittet ihr mich nicht um diese Federn?« fragte das Kind dann, »sie sind besser für eure Bogen als die Wolle. Oder glaubt ihr, ich würde sie euch nicht geben?«

»Gib sie uns denn doch!« baten die Hirten.

Das Mädchen gab sie ihnen und lief davon. Als es kam, um die Federn zurückzufordern, waren sie alle zerbrochen.

»Warum,« schluchzte da das Kind, »habt ihr meine Federn zerbrochen, die ich von den Pfauen bekommen hatte, die mein Negerkorn verzehrt hatten, das ich von dem alten Weibe erhalten hatte, das meinen Honig aß, den mir die Knaben gegeben hatten, die meine Axt zerbrachen, die ein Geschenk war von meinem Vater, der meine Nadel zerbrochen hat, die mir meine Mutter gegeben hat, die meine Eingui gegessen hat, die ich für mich von unserem Baume gepflückt habe?«

Da gaben die Schafhirten dem Kinde süße Milch. Weiter lief es seines Weges und traf einen Hund, der an einem Knochen nagte; dem stellte es die Milch hin und ging fort. Als es wiederkam, hatte der Hund jedes Tröpfchen der Milch getrunken. Da wurde das Kind sehr böse, schalt den Hund und wollte ihn schlagen. Doch der kletterte eilends auf einen Baum, und das Mädchen folgte ihm. Als es oben war, sprang der Hund hinab; doch das Kind wagte nicht zu springen, denn der Baum war sehr hoch. Da rief das Mädchen:

»Mein Hund, so hilf mir doch!« Doch der Hund antwortete:

»Was verfolgst du mich?« und lief davon.

Quelle:
Held, T. von: Märchen und Sagen der afrikanischen Neger. Jena: K.W. Schmidts Verlagsbuchhandlung, 1904, S. 172-176.
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