Sultan Harun Alraschid und sein Vezier.

[198] Harun Alraschid und sein Vezier Jaafari Baramak brachen eines Tages auf, um ihre Städte zu besuchen. Sie machten eine grosse Reise, so dass sie sich hätten verirren können.

Sie langten an einem Orte an, wo ein Garten war, und vor sich sahen sie ein Haus. Sie gingen darauf zu und als sie die, Vorhalle erreichten, trafen sie einen gottesfürchtigen Mann, den Eigentümer des Gartens. Er sah die Fremden, jedoch wusste er nicht, dass es der Fürst der Gläubigen Harun Alraschid war. Sie begrüssten ihn und er erwiderte ihren Gruss. Dann hiess er sie nähertreten und begab sich in seinen Garten und schnitt zwei Zuckerrohre ab. Er schälte dieselben, nahm zwei Schalen und presste das Zuckerrohr aus; jedes Rohr füllte eine Schale. Er brachte ihnen den Saft des Zuckerrohrs heran, sie tranken und labten sich. Dann dankten sie Gott dem Allmächtigen und verabschiedeten sich. Der Eigentümer des Gartens begleitete[198] sie ein Stück Wegs, dann kehrte er nach seiner Wohnung zurück und der Sultan und der Vezier langten wieder an ihrem Wohnorte an.

Nach einiger Zeit sprach der Sultan zu seinem Vezier: »Wir wollen spazieren gehen!« Sie gingen, und als sie wieder an den Garten kamen, trafen sie ihren Freund und begrüssten ihn. Er erwiderte den Gruss, hiess sie näherkommen und bewirtete sie wie das erste Mal. Alsdann bat er um die Erlaubnis, sie ein Stück Wegs begleiten zu dürfen. In seinem Innern aber war Sultan Harun jetzt entschlossen, jenem Armen den Garten wegzunehmen. So zogen sie ihres Weges, bis sie in ihrer Stadt anlangten.

Ein drittes Mal sagte der Sultan zu seinem Vezier: »Lass uns etwas umherstreifen.« Sie gingen und kamen wieder an denselben Garten ihres Freundes und trafen ihn in seiner Vorhalle. Sie entboten ihm ihren Gruss, er erwiderte denselben und hiess sie willkommen. Er begab sich in seinen Garten, schnitt zwei Zuckerrohrstangen ab und schälte dieselben. Als er das Zuckerrohr auspresste, kam nichts heraus, höchstens ein kleines Tässchen voll. Der Eigentümer erstaunte sehr und die Fremden gleichfalls. Da fragte der Sultan Harun den Besitzer des Gartens: »Von welchem Orte stammt dieses Zuckerrohr? Und das erstere, das so viel Saft enthielt, stammte woher?« Der Eigentümer des Gartens erwiderte: »Jenes frühere und dieses sind von derselben Stelle, ihre Wurzel ist dieselbe.« Sie fragten ihn: »Was soll das heissen?« Er antwortete: »Der Sultan hat seine Absicht geändert, er will sich das Eigentum der Armen aneignen.« Der Besitzer des Zuckerrohrs wusste jedoch nicht, dass dies der Sultan war, noch kannte er den andern als dessen Vezier. Dann nahmen[199] die beiden Abschied und sagten: »Gott möge Dir Glück angedeihen lassen.« Alsdann brachen sie auf.

Als der Sultan zu Hause ankam, empfand er Reue vor Gott dem Allmächtigen und der Herr verzieh ihm jene Gedanken, die er im Verborgenen gehegt hatte.

Nach einiger Zeit sprach er zu seinem Vezier: »Gehen wir, um uns etwas umzusehen.« Sie gingen und kamen wieder zu ihrem Freunde. Als sie ankamen, war er beschäftigt, denn seine Frau lag in den Wehen. Sie begrüssten ihn und er erwiderte ihren Gruss. Er bat sie näherzutreten und erwies ihnen dieselben Ehren wie früher.

Sobald sie im Hofe waren, kam jemand und teilte ihm mit, dass die Stunde der Geburt gekommen sei, und sprach zu ihm: »Komm zurück, hole Reismehl1 und bete zu Gott« Er antwortete: »Sie wird noch nicht gebären.« Der Sultan und der Vezier waren darob sehr erstaunt. Als aber die Stunde der Geburt herangekommen war, kam glücklich ein Knabe zur Welt.

Der Sultan fragte ihn nun: »Warum sagtest Du, als das erste Mal jemand kam, um Dich zu benachrichtigen, dass Deine Frau gebären wolle – ›sie wird noch nicht gebären‹? Das zweite Mal war es ebenso; die Stunde der Geburt kam wie Du es wünschtest, wie ist das zu erklären?« Er antwortete: »Ich habe mir die Stunde der Geburt Harun Alraschids erbeten, das ist es, was ich gewünscht habe Und wenn einmal dieses Kind, dies Geschöpf der Erde, Sultan werden sollte,[200] falls Gott der Allmächtige es zur Herrschaft gelangen lässt, so werden seine Thaten kühne sein.« Dies gab dem Sultan zu denken und er brach auf.

Als sie unterwegs waren, sprach er zum Vezier: »Gieb mir Deinen Rat, was sollen wir mit jenem Kinde machen?« Dieser erwiderte: »Die Antwort steht bei Dir.« Sie langten in ihrer Wohnung an; der Sultan aber war sehr besorgt.

Nach einigen Tagen sprach der Sultan zum Vezier: »Wir wollen spazieren gehen!« Sie gingen und langten wieder bei ihrem Freunde an und trafen ihn in der Vorhalle mit seinem Kinde. Sie begrüssten ihn und er erwiderte ihren Gruss. Er bat sie hereinzukommen und schnitt Zuckerrohr ab wie früher. Dann begab er sich in's Haus, um seiner Frau zu sagen, das Essen zu beschleunigen. Sein Kind aber hatte er in der Vorhalle gelassen. Der Sultan befahl dem Vezier: »Nimm das Kind mit.« Sie trugen es fort, schlugen jedoch nicht den Hauptweg ein, sondern traten in's Dickicht ein.

Als sein Vater herauskam, war das Kind verschwunden; auch die Fremden waren nicht mehr da. Sein Vater und seine Mutter suchten es überall, fanden es aber nicht, und sie beteten zu Gott Das ist die Geschichte jener Eltern.

Kehren wir nun zum Sultan und dem Vezier und ihrem Kinde zurück. Als sie im Walde waren, befahl der Sultan dem Vezier, das Kind zu töten. Der Vezier antwortete dem Sultan: »Sich mit dem Blute eines Unschuldigen zu beflecken, ist nicht erlaubt.« Sie blickten um sich und entdeckten einen alten Brunnen. Der Vezier sagte: »Werfen wir das Kind in den Brunnen, da giebt es keine Rettung mehr.« Sie warfen es in den Brunnen[201] und hatten so ihr Werk vollbracht. Aber Gott der Allmächtige beschützte das Kind und die Engel hielten Wache, so dass es über Wasser blieb.

Nach Verlauf von sieben Tagen kam ein Mann mit seiner Frau vorbei. Die Frau war bemüht, ihre Scheidung zu erlangen; der Mann hatte sie jedoch gern und hatte ihr bereits eine Menge Reichtümer zukommen lassen, aber niemals war sie zufrieden; daher war es ihre feste Absicht, zu Harun, dem Fürst der Gläubigen, zu gehen. Sie hatten sich verirrt und kamen dorthin, wo der Brunnen lag. Da die Frau plötzlich Durst verspürte, sprach sie zu ihrem Manne: »Ich möchte Wasser haben.« Der Mann holte einen Strick hervor und befestigte ihn an einen Eimer, der noch von früher da lag. Als er ihn in den Brunnen herabliess, kroch das Kind in den Eimer hinein; er zog denselben in die Höhe, sah das Kind und zeigte es seiner Frau. Dieselbe dankte Gott und sprach zu ihrem Manne: »Ich bitte um die Zufriedenheit Gottes und die Deinige, mein Mann, verzeih mir die Kränkungen, die ich Dir zugefügt habe, ich möchte das Kind haben, um es grosszuziehen; ich habe keine Klage mehr gegen Dich, mein Mann, und zwar wegen dieses Kindes, das uns Gott der Allmächtige hier zugeführt hat.« Sie gaben beide ihre Zustimmung, die Frau und ihr Mann, und nahmen das Kind mit sich, um nach Hause zurückzukehren und es zu erziehen.

Als sie in ihrer Stadt ankamen, war jenes Kind die Weisheit selbst. Alle kleinen Kinder der Stadt, selbst die, welche anfingen zu gehen und welche sich beim Gehen noch festhalten mussten, alle wie sie in der Stadt waren, zog es nach dem Hause jenes Kindes hin; es war ein Wunder. Wenn jemand sein Kind daran hindern wollte, war es nicht zurückzuhalten, sondern[202] weinte. Hundertundfünfzig kleine Kinder strebten so nach dem einen Hause hin zu ihrem Gefährten; sogar die Eltern, welche anfänglich dagegen waren, gaben allmälig ihre Einwilligung. Die Eltern jenes Kindes waren weder reich noch arm, sie hatten nur das Nötige zum Lebensunterhalt. So kam es, dass das Essen für alle diese Kinder zuweilen Sache der Eltern jenes Kindes war, andere versorgten wieder selbst ihre Kinder mit Essen.

Als das Kind soweit war, dass es mit seinen Freunden herumlaufen konnte, wurde es mit denselben zur Schule geschickt und mit jenen hundertundfünfzig zusammen zur Reinheit beschnitten. Ihr Beschluss war stets einmütig. War einer da, der sich gegen seinen Spielkameraden vergangen hatte, so gingen sie hin zu ihm und brachten ihre Klage vor; er pflegte dann über seine Gefährten zu entscheiden; ihre Väter und Mütter waren damit einverstanden. Das waren so Vorkommnisse, die sich zwischen jenem Kinde und seinen Spielgenossen zutrugen.

Als die Kinder gross geworden und die Waffen führen konnten, hatte ein Land sich gegen den Fürsten der Gläubigen aufgelehnt. Dieser rüstete ein Heer zum Kriege aus, konnte jedoch nicht in die Stadt eindringen. Er zog zum zweiten Male zum Kriege aus, konnte aber wieder nichts ausrichten. Beim dritten Male liess der Fürst der Gläubigen bekannt geben, dass er Leute wünsche, die gegen jene Stadt, welche sich aufgelehnt hatte, zu Felde zögen. Jener Jüngling sprach zu seinem Vater: »Sage dem Fürsten der Gläubigen, er solle nicht zum Kampfe ausziehen wider diese Stadt, ich werde mit meinen hundertundfünfzig Gefährten losziehen und wir werden genügen.«[203]

Er zog mit seinen Freunden zum Kampfe gegen jene Stadt aus und eroberte dieselbe. Dann schrieb er einen Brief an den Sultan: »Die Stadt Soundso haben wir genommen.« Der Sultan freute sich sehr; zugleich war er sehr erstaunt, denn er hatte den Ort viele Tage belagert und ihn nicht nehmen können, und jener Jüngling war ausgezogen und hatte mit einem Schlage die Sache beendet.

Der Sultan fragte den jungen Mann: »Wer ist Dein Vater?« Er antwortete: »Mein Vater ist der und der.« Der Sultan schickte Soldaten hin und sagte ihnen: »Rufet seinen Vater, er soll herkommen.« Sie gingen hin und holten ihn; er brachte zugleich seine Frau mit. Der Sultan fragte sie: »Ist dieser Euer Sohn?« Sie erwiderten: »Es ist unser Kind.« Der Sultan sprach: »Sagt die Wahrheit.« Sie antworteten: »Es ist unser Sohn.« Da sagte er zum zweiten Male: »Sprecht die Wahrheit, wenn Ihr die Wahrheit nicht sagt, werde ich Euch töten.« Sie antworteten dem Sultan: »Wir haben ihn als Kind in einem Brunnen gefunden.« Nun wusste der Sultan, dass es derselbe war, den er in den Brunnen geworfen hatte.

Er schickte alsdann Leute aus nach seinem Freunde, dem Eigentümer des Gartens, dem Vater jenes Kindes; er liess ihn und seine Frau rufen. Als sie kamen, fragte er sie: »Habt Ihr nichts verloren?« Sie verneinten und sagten: »Es ist uns nichts verloren gegangen.« Er sprach weiter: »Denket recht nach.« Da antworteten sie: »Unser Kind haben wir vor Zeiten verloren, es kamen zwei Männer zu uns und nahmen unsern Sohn mit.« Der Sultan erwiderte: »Ich war es, der zu Euch kam mit meinem Vezier auf allen drei Reisen, ich nahm ihn mit, da es meine Absicht war, ihn zu töten, denn[204] Du sagtest: ›Dieses Kind ist zur selben Stunde geboren wie Harun Alraschid‹, und ich erschrak in meinem Innern und dachte, vielleicht wird dieses Kind, wenn es einmal gross ist, Dir Verderben bringen. So nahm ich es mit und warf es in den Brunnen. Diese beiden Leute hier, die Frau und ihr Mann, kamen jedoch vorbei und fanden es. Hier hast Du Deinen Sohn wieder, Du bist sein Vater, der ihn gezeugt hat und dieser hier sein Vater, der ihn erzogen hat, nehmt beide Euer Kind mit Euch.«

Jenem jungen Manne aber gab er ein Land zur Verwaltung und er herrschte gut, und Harun Alraschid liebte ihn sehr.

1

Die Suaheli – Kinder werden nach der Geburt mit Reis oder Hirse-Mehl abgerieben, cf. des Verf. Abhandlg. über Sitten und Gebräuche der Suaheli, pag. 53 der »Mittheilungen des Seminars für oriental. Sprachen«, Jahrg. I, Abtlg. III.

Quelle:
Velten, C[arl]: Märchen und Erzählungen der Suaheli. Stuttgart/Berlin: W. Spemann, 1898, S. 198-205.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Traumnovelle

Traumnovelle

Die vordergründig glückliche Ehe von Albertine und Fridolin verbirgt die ungestillten erotischen Begierden der beiden Partner, die sich in nächtlichen Eskapaden entladen. Schnitzlers Ergriffenheit von der Triebnatur des Menschen begleitet ihn seit seiner frühen Bekanntschaft mit Sigmund Freud, dessen Lehre er in seinem Werk literarisch spiegelt. Die Traumnovelle wurde 1999 unter dem Titel »Eyes Wide Shut« von Stanley Kubrick verfilmt.

64 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon