Die Geschichte vom schlechten Menschen.

[228] Es war einmal ein reicher Mann, der sehr viel Vermögen besass. Er hatte ein Kind, einen Sohn, den er gross zog. Als dieser zum Jüngling herangereift war, sprach er zu seinem Vater: »Ich möchte Dich um die Erlaubnis bitten, im Lande umherzureisen, und auf meiner Reise will ich von keinem andern Menschen begleitet sein, wer es auch sei, nur ich allein und mein Pferd.« Sein Vater antwortete ihm und sprach: »Ich gebe Dir die Erlaubnis.«

Danach gab ihm sein Vater viel Geld mit, das schönste Sattelzeug und einen Dolch und ein gutes Schwert. Er reiste ab und war schon viele Tage entfernt, als er eine grosse Wüste erreichte. Dieselbe sah ganz dunkel aus; es stand nur ein einziger Baum in der Mitte, sonst kein anderer.

Der Durst hatte den jungen Mann unterwegs schon sehr gequält, und als er den Baum sah, schritt er darauf zu, um sein Pferd anzubinden und sich auszuruhen. Dort angekommen, stieg er vom Pferde, band es an, gürtete seine Waffen ab und legte sie beim Baume nieder. Dann schaute er gen Sonnenuntergang und entdeckte einen sehr grossen Brunnen mit Wasser; auch ein Eimer, um Wasser zu schöpfen, war dabei: den ergriff er, führte ihn zum Brunnen, um Wasser zu schöpfen und zu trinken. Als er ihn hochzog, merkte er, dass der Eimer sehr schwer war, er zog daher mit aller Kraft und sah plötzlich eine Schlange in dem Eimer. Sobald die Schlange herauskam, dankte sie ihm sehr.

Ein zweites Mal brachte er den Eimer zum Brunnen, und als er ihn hochzog fand er ihn noch schwerer als[229] das erste Mal. Er zog und bemerkte einen Löwen; auch dieser dankte ihm sehr.

Zum dritten Male fand er den Eimer gleichfalls schwer; er zog und sah einen Menschen darin. Der Jüngling war ganz verwirrt und jener, welcher sich am Eimer hielt, sprach: »Wovor schreckst Du denn zurück? Zuerst hast Du ohne weiteres die Schlange herausgezogen, dann den Löwen ebenso, aber jetzt, wo Du mich siehst, sträubst Du Dich, mich herauszuziehen!« Nun zog er ihn heraus. Sobald der Mensch draussen war, schlug er plötzlich auf jenen los, welcher ihn aus dem Brunnen gezogen hatte, so dass dieser hinfiel. Dann nahm er einen Strick, fesselte ihn tüchtig und liess ihn dort liegen. Sein Pferd und sein Geld sowie alle Waffen nahm er mit, er liess ihm nichts übrig. Dann ging er weg.

Die Schlange kam nun heran und sprach: »Ich würde Dich losbinden, mein Freund, aber ich habe zu viel Angst.« Sie ging fort; aber bald nachher kam der Löwe, den er aus dem Brunnen gezogen hatte, und band ihn los und sprach zu ihm: »Komm mit mir nach Hause!« Er folgte dem Löwen bis zu seiner Wohnung.

Als die Jungen des Löwen den Menschen sahen, fletschten sie ihre Zähne. Ihr Vater wehrte sie jedoch ab und sprach zu ihnen: »Seid ruhig, dies ist Euer Vater.« Die Jungen des Löwen waren darauf still.

Bald darauf brach der Löwe auf und begab sich nach der grossen Landstrasse, welche von den Leuten benutzt wurde, um ihre Felderzeugnisse zur Stadt zu bringen; dort versteckte er sich am Wege. Sobald jemand mit einer Esslast vorbeikam, liess er sein Brüllen ertönen, worauf dieser seine Last wegwarf und entfloh.[230] Der Löwe nahm alsdann die Last auf und brachte sie seinem Freunde.

Eines Tages sprach der Löwe zu seinem Freunde: »Ich werde jetzt zur Stadt gehen und eine Frau ergreifen, um sie Dir zuzuführen, denn Du sehnst Dich sehr nach einer Frau.« Er begab sich zur Stadt, drang in des Sultans Garten ein, ergriff die Tochter desselben und nahm sie mit. Und an ihrem Finger trug diese einen Ring von Perlen. Das gab ein grosses Wehklagen im Lande; den Löwen bekamen sie jedoch nicht. Er brachte sie bis nach Hause und gab sie seinem Freunde. Dieser machte sie zu seiner Frau und zeugte mit ihr zwei Knaben, welche sie grosszogen. Für das Essen sorgte der Löwe jeden Tag.

Es kam nun eine Hungersnot in's Land, die Felder lieferten kaum einige Nahrung. Auch der Löwe wusste keinen Rat mehr, er konnte seinem Freunde nichts zum Essen liefern. Da sprach die Frau zu ihrem Manne: »Nimm diesen Perlenring, gieb ihn den Kindern, damit sie ihn in der Stadt verkaufen und Nahrungsmittel einkaufen und herbringen.« Sie holten den Löwen herbei und befragten ihn und er antwortete ihnen: »Gut, sie sollen hingehen.« Sie gingen nun zur Stadt, um den Ring feilzubieten.

Daselbst war ein Mann, der lange Zeit, bis er erwachsen war, im Hause des Sultans in Diensten gestanden hatte. Sobald derselbe den Ring sah, erkannte er ihn und brachte die Kinder mit dem Ringe zum Hause des Sultans. Als sie dort ankamen, erkannte man sofort den Ring und alle Leute im Hause des Sultans weinten, denn sie hatten den Ring wiedererkannt. Der Sultan fragte sie: »Wo habt ihr Kinder diesen Ring herbekommen?« Sie antworteten: »Den hat uns unser[231] Vater gegeben, um ihn zu verkaufen.« Er sprach: »So gehet hin und ruft Euren Vater, er soll herkommen, Euren Ring aber lasst hier.«

Die Kinder kehrten zu ihrem Vater zurück und setzten ihn von dem Geschehenen in Kenntnis und sprachen: »Du wirst gerufen.« Er rief zunächst seinen Freund, den Löwen, herbei und fragte ihn um Rat. Dieser sprach: »Gehe hin.« Er machte sich also auf den Weg, und als er in der Vorhalle des Sultans anlangte, stiess er auf jenen Menschen, welchen er aus dem Brunnen gezogen, ihn dann geschlagen und seines Pferdes und seiner Waffen beraubt hatte. Als der Sultan ihn fragte: »Bist Du der Eigentümer dieses Ringes?« antwortete er: »Ja.« »So erkläre, wie Du dazu gekommen bist!« Er hatte kaum begonnen zu sprechen, als jener schlechte Mensch, den er aus dem Brunnen gezogen hatte, zum Sultan sprach: »Lass das Fragen, denn dieser ist es, welcher sich in einen Löwen verwandelt hat, da nutzt nichts, als dass er gefesselt wird, so dass er es spürt, dann wird er sprechen, ohne das wirst Du nichts aus ihm herausbringen.« Nun wurde er in's Gefängnis geworfen und erduldete grosse Qualen, so dass er nachts nicht schlafen konnte.

Da erschien ihm seine Freundin, die Schlange, und sprach zu ihm: »Ich werde heute das Kind des Sultans, das er sehr gern hat, beissen. Welche Ärzte auch immer ihre Heilkünste versuchen werden, ihre Arznei wird nichts nutzen, ausser wenn Du kommst, dann wird das Kind gesunden. Nimm daher diese Arznei und stecke sie zu Dir.« Sie zeigte ihm zunächst alles, dann ging sie hin und biss des Sultans Kind. Wiederum herrschte grosse Trauer in der ganzen Stadt; aber alle Ärzte konnten nichts ausrichten.[232]

Da sprach der junge Mann, welcher eingekerkert war, zu seinem Wächter: »Ich verstehe mich gut auf Arzneien, aber ich liege ja hier gefesselt.« Plötzlich hörten sie die Ausrufer des Sultans, welche bekannt gaben: »Wenn ein Arzt des Sultans Kind in Behandlung nimmt, so dass es heilt und seine Gesundheit wieder erlangt, der wird ein Handschreiben des Sultans erhalten, das von Bedeutung ist; auch wird er mit Reichtümern bedacht werden.« Als der Ausrufer beendet hatte, begab sich der Wächter zum Sultan und sprach zu ihm: »Jener Mann, welcher eingekerkert worden, sagt, er verstände sich sehr auf Medizin.« Der Sultan gab den Befehl, ihm die Fesseln abzunehmen. Er kam und machte seine Arznei und mit einem Male war das Kind gesund. Darüber herrschte grosse Freude im Lande und der Sultan freute sich am meisten.

Später rief er den jungen Mann zu sich nach oben und sprach zu ihm: »Wo stammst Du ursprünglich her?« Er antwortete: »Ich werde Dir alles von Anfang bis zu Ende erklären.« Er teilte ihm nun alles von Anfang bis zu Ende mit; »und der Ursprung meines ganzen Leidens ist dieser Vezier, den Du hast; mein Pferd, meinen Dolch und mein Schwert sowie all mein Geld hat er mir geraubt.«

Der Sultan gab den Befehl, seinen Vezier, jenen schlechten Menschen, herbeizurufen und er wurde getötet. Der junge Mann aber erhielt den Auftrag, seine Frau, des Sultans Tochter, mit der er Kinder gezeugt hatte, herzuholen. Als sie im Hause ankam und die Leute sie daselbst wiedersahen, freuten sie sich alle und der Sultan gleichfalls. Der junge Mann bekam eine Herrschaft für sich und seine Frau und seine Kinder. Und er war ein Gelehrter in seinem Lande; und seinem[233] Vater gab er Nachricht, so dass auch dieser sich freute.

Das ist die Geschichte von dem schlechten Menschen.

Quelle:
Velten, C[arl]: Märchen und Erzählungen der Suaheli. Stuttgart/Berlin: W. Spemann, 1898, S. 228-234.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Grabbe, Christian Dietrich

Hannibal

Hannibal

Grabbe zeigt Hannibal nicht als großen Helden, der im sinnhaften Verlauf der Geschichte eine höhere Bestimmung erfüllt, sondern als einfachen Menschen, der Gegenstand der Geschehnisse ist und ihnen schließlich zum Opfer fällt. »Der Dichter ist vorzugsweise verpflichtet, den wahren Geist der Geschichte zu enträtseln. Solange er diesen nicht verletzt, kommt es bei ihm auf eine wörtliche historische Treue nicht an.« C.D.G.

68 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon