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Boquena
oder der Magier mit dem Buckel

[211] Boquena und sein Bruder wurden von allen benachbarten Indianern für große Magier gehalten, die nur zu ihrem Vergnügen menschliche Gestalt angenommen hätten. Boquena war der stärkere, doch auch der häßlichere, da er durch einen fürchterlichen Buckel verunstaltet war. Er ging nie vor die Tür, sondern ließ seinen schöneren Bruder allein in den Wäldern jagen und verrichtete während dieser Zeit die häuslichen Arbeiten.

Seinem Bruder schien jedoch dieses einsame Leben nicht besonders zu behagen, denn er äußerte eines Tages, daß er fortgehen und die menschlichen Wohnungen aufsuchen wolle, um sich eine Frau zu holen. Boquena machte zwar ein saures Gesicht dazu, gab sich aber bald zufrieden und ließ ihn ruhig gehen.

Es war Winter, und es lag tiefer Schnee, in dem er zahlreiche Fußstapfen erblickte, die zu einem nahen Totengerüst führten, auf dem eine schöne Jungfrau lag.

»Sie muß mein Weib werden«, sagte der schöne Magier, packte sie kurzerhand auf seine Schultern, trug sie nach Hause und bat Boquena, sie wieder lebendig zu machen.[212]

Dieser wandte seine besten Medizinkräfte an, und die junge Squaw atmete auch wirklich bald wieder.

Als sich kurz darauf der verheiratete Bruder einmal auf der Jagd befand, kam ein junger, schöner Mann ins Zelt und schleppte die Frau weg. Boquena wollte ihr schnell zu Hilfe eilen, aber er stieß dabei mit seinem Buckel so sehr gegen einen im Weg liegenden Stein, daß er vor Schmerzen niederfiel.

Der Bruder Boquenas war vor Wut ganz außer sich, als er nach Hause kam und diese Geschichte erfuhr. Der Störer seines Glücks mußte bestraft werden, und wenn er ihn am Ende der Welt aufsuchen sollte.

»Ich glaube«, sagte Boquena darauf, »es wird unnütz sein, dir von deinem Vorhaben abzuraten; drum höre auf meine Worte. Du hast einen weiten Weg vor dir, der mit allerlei Fallstricken, Genüssen und Lustbarkeiten verknüpft ist, so daß ich glaube, du wirst unterwegs den eigentlichen Zweck deiner Reise gänzlich vergessen und bei jenen lachenden Menschen bleiben, die ihren Lebenszweck in ewiger Scherzerei erblicken. Du wirst erstens auf deinem Weg eine große saftige Weintraube liegen sehen, die du um Himmels willen nicht anrühren darfst, denn sie ist eine verzauberte Klapperschlange; dann wirst du zu einer flackernden, durchsichtigen Masse kommen, die wie Bärenfett aussieht, aber eigentlich nur aus faulen Froscheiern besteht, weshalb du ebenfalls nichts davon essen darfst!«

Darauf reiste der Bruder ab. Bald sah er die einladende Weintraube vor sich liegen, und da er den Rat seines[213] Bruders längst vergessen hatte, setzte er sich gemütlich dazu und aß sich dick und satt. Dann kam er zum vermeintlichen Bärenfett und ließ es sich ebenfalls recht gut schmecken.

Gegen Sonnenuntergang führte ihn sein Weg auf eine große Ebene, auf der das freundlichste Dorf stand, das er je in seinem Leben gesehen hatte. Es war stark bevölkert, und die Bewohner schienen alle in sehr glücklichen Verhältnissen zu leben. Die Weiber saßen vor den Häusern und stampften Korn in silbernen Mörsern.

Als sie den Fremden kommen sahen, riefen sie: »Seht, dort kommt Boquenas Bruder, um uns einen Besuch abzustatten.« Sie gingen ihm nun alle entgegen und sagten ihm Schmeicheleien tausenderlei Art, was ihm so sehr gefiel, daß er an ein Weitergehen gar nicht mehr dachte.

Der alte Boquena hatte bereits verschiedene Jahre auf seinen Bruder gewartet und sich endlich, da dieser gar nicht mehr zurückzukommen schien, entschlossen, ihn zu suchen. Er begegnete denselben Süßigkeiten, ließ sie aber unangetastet und war bald bei seinem Bruder, der das Jagdhandwerk vollständig an die Zeltstange gehängt hatte und seine Zeit mit liebenswürdigen Weibern verscherzte. Auch fand Boquena gleich dessen Frau und machte die Stelle am Fluß ausfindig, wo sie gewöhnlich Wasser holte.

Nun verwandelte er sich in eine kleine Wasserschlange und ließ sich in ihrem Topf mit nach Hause tragen. Ihr Mann schien einen gewaltigen Durst zu[214] haben, denn er trank den großen Topf auf einmal leer und verschluckte auch die Schlange. Bald darauf starb er.

Nun kroch Boquena aus dem toten Körper heraus, nahm seine natürliche Gestalt wieder an und ging zu seinem Bruder, der aber von der süßen Unterhaltung mit jenen liebenswürdigen Weibern noch so sehr in Anspruch genommen war, daß ihn seine Erzählung nicht im geringsten interessierte und daß es schien, als wisse er überhaupt nicht, daß er verheiratet gewesen war.

Mit den Augen voller Tränen entfernte sich Boquena darauf und ließ nie wieder etwas von sich hören.

Quelle:
Knortz, Karl: Märchen und Sagen der Indianer Nordamerikas. München: Verlag Lothar Borowsky, 1979, S. 211-215.
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