[66] 21. Die Jaguarfrau

[66] Es war einmal ein Mann, der war berühmt als Wildschweinjäger. Bei anderem Wild mochten es ihm viele seiner Freunde gleich tun, aber auf der Wildschweinjagd war ihm sicherlich keiner über. Es gelang ihm stets, fünf oder sechs Wildschweine zu erlegen, während der Jaguar, der stets der Rotte auf der Fährte folgte, nur eins oder zwei erlegte.

Der Jaguar mußte seinen Erfolg bemerken, und das nächste Mal, als unser Freund in den Wald ging, verwandelte er sich in eine Frau und sprach ihn an. Die Frau fragte ihn, wie er es anstelle, so viele Wildschweine zu erlegen, aber er konnte ihr nur sagen, daß er sich darin geübt hätte seit seiner Knabenzeit. Darauf sprach sie den Wunsch aus, ihn zum Manne zu haben. Er kannte aber ihren Ursprung und hatte es daher nicht eilig, eine entscheidende Antwort zu geben. Sie überwand jedoch seine Zweifel, indem sie ihm klar machte, daß sie zusammen noch viel mehr Wildschweine töten könnten, als es jedem allein möglich sei. Da willigte er ein.

Er lebte mit ihr lange, lange Zeit, und sie erwies sich als eine vortreffliche Frau, denn sie verstand sich auf das Kochen und den Brastrost und war außerdem eine hervorragende Jägerin. Eines Tages fragte sie ihn, ob er noch Vater und Mutter habe, und als sie erfuhr, daß seine Eltern und andere Verwandte noch lebten, sagte sie, ob er sie nicht besuchen wolle. Sie würden ihn sicher für tot halten, da sie ihn so lange nicht gesehen hätten. Und als er sagte: »Nun wohl, ich werde gern nach Hause gehen,« erbot sie sich, ihm den Weg zu zeigen und ihn zu begleiten, aber nur unter der Bedingung, daß er seinen Leuten niemals[67] verriete, von welchem Volke sie stammte. Bevor sie aufbrächen, sagte sie, müßten sie für einige Tage auf die Jagd gehen, um recht viele Wildschweine mitzubringen.


21. Die Jaguarfrau

Dies taten sie und kamen endlich zu dem Hause der Eltern, die in der Tat froh waren, ihn nach so vielen Jahren wiederzusehen. Die erste Frage, die seine alte Mutter stellte, war: »Woher hast du die wunderschöne Frau?« Er sagte ihr, daß er sie, eines Tages beim Jagen im Walde gefunden hätte, hütete sich aber, etwas davon zu erwähnen, daß sie eigentlich eine Jaguarin sei.


21. Die Jaguarfrau

Während sie in seiner Heimat waren, ging das Paar wiederholt auf die Jagd und kam regelmäßig mit einer außerordentlich großen Beute heim. Dies wurde ihr Unheil. Seine Freunde und Verwandten wurden mißtrauisch und beschlossen herauszufinden, welchem Stamme die schöne Frau angehöre. Er wurde oft gefragt, weigerte sich aber stets, das Geheimnis preiszugeben. Seine Mutter grämte sich und regte sich darüber so auf, daß er ihr schließlich ein volles Geständnis ablegte, sie aber ausdrücklich warnte, es jemand zu verraten, da seine Frau ihn sonst womöglich ganz verließe.

Nun kam das Unglück schnell: Eines Tages machten die Verwandten des Mannes viel Kaschiri, um die alte Frau betrunken zu machen. Aber als sie sie nach ihrer Schwiegertochter fragten, wollte sie nichts sagen. Sie gaben ihr mehr zu trinken, und noch immer blieb sie standhaft. Endlich, gaben sie ihr so viel zu trinken, daß sie das Geheimnis ausplauderte, und nun wußten alle, daß das schöne Geschöpf, das sie so beneidet hatten, nichts weiter war als eine Jaguarin.

Die Frau, die gehört hatte, daß ihre Schwiegermutter ihre Abstammung verriet, floh vor Scham knurrend in den Wald, und das war das letzte, was man je von ihr gehört oder[68] gesehen hat. Der Mann machte seiner Mutter natürlich heftige Vorwürfe, aber sie sagte, sie könne wirklich nichts dafür, sie hätten sie betrunken gemacht. Der arme Mann ging oft in den Wald und rief nach seiner Frau, aber niemals kam eine Antwort.

Quelle:
Koch-Grünberg, Theodor (Hg.): Indianermärchen aus Südamerika. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 66-69.
Lizenz:
Kategorien: