[75] 27. Epetembo

[75] Ein Mann sprach zu seiner Frau: »Es regnet; ich will angenehm träumen!« Die Frau faßte seine Worte falsch auf und sagte zu ihren Brüdern: »Hört, was euer Schwager gesagt hat: ›Ich will angenehm im Regen träumen!‹« Die bösen Schwäger banden darauf den Mann fest in seine Hängematte und hingen ihn vor das Haus in den Regen. Der Mann konnte sich ihrer nicht erwehren. Zitternd vor Kälte lag er die ganze Nacht im Regen. Aber er ertrug alles schweigend und verwünschte weder seine Frau noch seine Schwäger.

Nach drei Tagen forderte er seine Frau auf, mit ihm auf die Jagd zu gehen. Im Walde angekommen, ließ er sie Holz holen und einen Bratrost machen, um das Wildbret zu rösten. Er selbst flocht derweil einen Tragkorb, um den Rostbraten mit nach Hause zu nehmen. Der Korb sollte so groß werden wie die Frau. Als diese zurückkehrte, befahl ihr der Mann, Feuer unter den Bratrost zu machen und dann in den Korb zu kriechen, damit er sehen könne, ob der Korb groß genug sei. Die Frau tat es. Darauf sagte der Mann: »Was du mir getan hast, das tue ich dir wieder. Ich will dich leiden lassen, wie du mich hast leiden lassen!« Er schürte das Feuer und legte den Korb auf den Bratrost und röstete seine Frau bei lebendigem Leibe. Als sie tot war, schnitt er ihren Leichnam in Stücke und steckte diese in einen kleineren Tragkorb. Dann trat er den Heimweg an.

In der Nähe des Dorfes stellte er den Korb nieder, nahm die Leber seiner Frau heraus und brachte sie seiner Schwiegermutter. Diese fragte ihn: »Wo ist mein Kind?« Er antwortete: »Sie kommt hinterdrein. Ich bin vorausgegangen. Sie konnte mir mit der schweren Last der Wildschweine, die ich geschossen habe, nicht so rasch folgen.« Die Alte aß die Leber ihrer Tochter, da sie glaubte, es sei die Leber eines[76] Wildschweins. Dann ging sie, ihre Tochter zu suchen, und fand endlich den Korb mit dem zerstückelten Leichnam. Sie klagte laut um ihre Tochter. Dann trug sie die Überreste nach Hause und erzählte alles ihren Söhnen. Der Mann war entflohen.

Sie folgten lange Zeit den Spuren, die er in Wald und Strom zurückgelassen hatte. Der Flüchtling verfertigte unterwegs aus zwei Maishalmen den schwarzen Karakara, auf daß dieser ihn durch seinen Ruf warnte. Dann machte er die Kornvögel. Aber nichts half. Ganz erschöpft sank er endlich auf eine Sandbank nieder. Dort fanden ihn die Verfolger. Sie waren mit Keulen bewaffnet. Die alte Frau näherte sich ihm und sprach: »Ich will dich nicht töten, wie sehr ich dich auch verachte, aber ich will dich zum Spott und Hohn von anderen machen, damit du nachdenkst über die Missetat, die du begangen hast.« Dann schlugen sie ihn mit ihren Keulen und hackten ihm ein Bein an dem Knie ab, auf daß er nicht mehr herumlaufen konnte, um Schlechtes zu tun, sondern an einem Platz bleiben mußte, um zu leiden. Und die Männer sprachen zu dem Verstümmelten: »Schwager, deine Frau hast du getötet!« Dann verließen alle den Platz und ließen den Mann auf der Sandbank zurück in Pein und Elend.

Er litt fürchterlich und dachte: »Mensch, was soll ich tun? Soll ich Siebengestirn (Plejaden) werden? Nein! Wenn ich als Siebengestirn aufsteige, werden sie sagen: ›Da ist das Siebengestirn wieder am Himmel erschienen!‹ Soll ich Morgenstern werden? Nein! Denn wenn ich als Morgenstern aufgehe, werden sie sagen: ›Siehe, da erhebt er sich wieder aus der Dunkelheit an den Himmel!‹ Wo wirst du mich hinbringen? Soll ich der Orion werden? Nein! Denn wenn ich als Orion aufgehe, werden sie sagen: ›Siehe da den himmlischen Streiter ohne Bein!‹« Und der Mann dachte nach und litt. Dann rief er: »Großvater, Geierkönig, komm!« Und der Geierkönig schwebte hernieder und sprach: »Ich bin gekommen, um dich zu holen. Du sollst werden[77] das Schenkelgestirn, der Orion, der himmlische Streiter mit einem Bein!« Dann trug der Geierkönig den einbeinigen Mann empor und setzte ihn in die zwölf Sterne des Orion, von wo er die Sonne ruft. Er ist zugleich der Träger der Sonne.

Quelle:
Koch-Grünberg, Theodor (Hg.): Indianermärchen aus Südamerika. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 75-78.
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