[154] 52. Der Kurupira und die Frau

[154] Man erzählt, daß ein Mann von seiner Frau einen kleinen Sohn hatte. Eines Tages ging der Mann jagen und begegnete dem Kurupira. Dieser tötete ihn, öffnete ihm den Leib und nahm die Leber heraus! Dann zog er ihm Hose und Hemd aus und bekleidete sich damit. So verkleidet, ging er zu der Frau des Toten und rief:

»Alte! Alte! Wo bist du?«

»Hier bin ich,« antwortete diese.

Er trat in das Haus, und da sie ihn nicht anschaute, dachte sie, es sei ihr Gatte.

»Hier bin ich. Ich bringe gutes Fleisch. Bereite es mir zu!«

Mit diesen Worten zog er die Leber ihres Gatten hervor und gab sie ihr. Sie briet sie und, nachdem sie Maniokmehl geholt hatte, setzte sie sich mit dem Kind zum Mahle nieder. Auch der Kurupira setzte sich auf die Matte und sprach:

»Wir wollen essen!«

Sie aßen zusammen. Dann sagte der Kurupira:

»Jetzt will ich schlafen. Bring mir den Sohn, daß er bei mir schläft!«

Der Kurupira legte sich sogleich in die Hängematte. Die Frau brachte ihm den Sohn. Während jener schlief, betrachtete sie ihn aufmerksam. Dann sagte sie:

»Das ist nicht mein Mann! Das ist nicht mein Mann! Das ist der Kurupira!«

Sofort packte sie ihre Sachen in einen Tragkorb, nahm ihren Sohn und legte jenem an seiner Stelle einen Mörser an die Brust. Dann lud sie den Korb auf den Rücken, nahm das Kind in eine Tragbinde an die Brust und machte sich davon. Gleich darauf erwachte der Kurupira. Er erhob sich, ging hinaus und sagte:[155]

»Ah, dieses Weib hat mich betrogen!«

Sofort machte er sich auf die Suche, indem er schrie:

»Alte! Alte! Wo bist du?«

Die Frau sah den Kurupira auf ihrer Spur gehen und floh vor ihm. Sie lief und stieg auf den hohen Ast eines Mambui-Baumes. Dort blieb sie, ohne einen Laut von sich zu geben. Sie sah den Kurupira unten kommen und hörte ihn rufen:

»Alte! Alte! Wo bist du?«

Ein Uakurau, der auf einem Ast des Baumes saß, sang:

»Mambui! Mambui!«

Der Kurupira dachte, er sänge nur, und da er die Frau nicht sah, kehrte er um. Als die Frau den Kurupira umkehren sah, stieg sie sofort herab und lief in den Wald hinein. Man erzählt, daß der Kurupira sagte:

»Dieses Weib hat mich betrogen!«

Er kehrte wieder um und lief hinter ihr her, indem er rief:

»Alte! Alte! Wo bist du?«

Da eilte die Frau zu einem großen Baumstamm, der ein großes Loch hatte, aus dem die Kröte Kunauaru hervorsprang.

»Ach, Kunauaru,« sagte sie, »befreie mich, bitte, von dem Kurupira!«

Man erzählt, daß die Kröte von dem Harz ihres Körpers ein Seil machte, an dem die Frau durch das Loch des Baumes emporstieg. Der Kurupira kam und rief:

»Alte! Alte! Wo bist du?«

Der Kunauaru sagte:

»Hier ist sie.«

Man sagt, daß die Frau die Kröte bat, den Kurupira nicht hinaufsteigen zu lassen.

»Fürchte dich nicht! Ich will ihn töten,« antwortete darauf der Kunauaru. Er strich sofort sein Harz auf den Stamm des Baumes, und als der Kurupira sich gegen den Baum lehnte, blieb er daran kleben, so daß er starb.

Darauf stieg die Frau mit ihrem Sohn herab und lief nach Hause.

Quelle:
Koch-Grünberg, Theodor (Hg.): Indianermärchen aus Südamerika. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 154-156.
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