[177] 63. Die Falken und die Sintflut

[177] Ein Mann fand auf einem Baume das Nest eines Falken und holte seinen jüngeren Bruder, damit er ihm helfe, es auszunehmen. Sie machten eine Leiter, und der ältere stieg hinauf, während ihm der jüngere die Stangen hinaufbrachte. Während dieser Arbeit fiel dem jüngeren irgend etwas von dem Baum auf den Kopf, und er bat die Frau seines Bruders, es ihm aus dem Haar herauszusuchen. Als der ältere Bruder auf der Leiter diese Szene sah, wurde er eifersüchtig. Als nur noch wenige Sprossen bis zu dem Nest fehlten, stieg er herab und hieß seinen Bruder den Rest machen. Als dann der jüngere die Leiter fertiggestellt hatte, stieg er ihm nach und hieb unter ihm die sämtlichen Schlingpflanzen durch, mit denen die Stangen befestigt waren. Dann ging er mit seiner Frau heim und ließ seinen Bruder auf dem Baum bei dem Nest zurück, von wo er ohne Leiter nicht mehr heruntersteigen konnte.

In dem Nest war nur ein Junges. Nach einiger Zeit kam das Falkenweibchen geflogen und fragte den Mann, was er da oben wolle. Er erzählte, wie er wegen des jungen Falken auf den Baum gestiegen und von seinem Bruder in dieser Lage verlassen worden sei. »Willst du meine Tochter aufziehen?« fragte das Falkenweibchen. Der Mann bejahte es, und die Mutter gab ihm einen Affen, den sie getötet hatte; den solle er für das Junge rupfen. Nach einer Weile kam auch der Falke selbst mit einem großen Brüllaffen geflogen. Der Mann erzählte auch ihm seine Geschichte, und der Vogel lehrte ihn nun zuerst, wie er den Brüllaffen zu rupfen habe, denn das ging bei dem Manne noch viel zu langsam. Dann fragte er ihn, ob er nicht auch ein Falke werden wolle, und der Mann stimmte zu. Der Falke flog nun fort und kam bald darauf mit einigen Genossen zurück. Zu zweien[178] und dreien kamen dann viele Falken von allen Arten geflogen, bis ein großer Schwarm versammelt war. Sie setzten sich um den Mann herum und begannen ihre Gesänge. Da wuchsen dem Manne Federn und Klauen, und er wurde zum Falken. Dann versuchte er zu fliegen. Anfangs glückte es ihm nicht; dann aber halfen ihm die Falken, und er lernte es.

Die Vögel beschlossen nun, seinen Bruder zu töten, und teilten ihren Beschluß dem Manne mit. Im Dorfe der Brüder war gerade ein Fest, und der ältere saß vor seiner Hütte und bemalte sich zum Tanz. Da erschien der jüngere in der Gestalt eines kleinen Falken und setzte sich in seiner Nähe nieder. Die Leute des Dorfes riefen seinem Bruder zu, er solle doch den Vogel schießen, denn er war als ihr bester Pfeilschütze bekannt. Da holte er seine Waffen aus der Hütte und entsandte einen Pfeil nach dem Falken, aber dieser flog auf, und das Geschoß ging unter ihm durch. Ebenso ging es mit einem zweiten Pfeil, und der kleine Falke setzte sich nun ganz dicht vor dem Manne nieder. Wütend schoß dieser zum dritten Male, und als auch dieser Pfeil vorbeigegangen war, flog der Vogel herzu und faßte ihn mit seinen Krallen am Schopf. In demselben Augenblick verwandelte er sich in einen riesigen Falken und trug seinen Bruder in den Fängen in die Luft empor. Sogleich fiel ein großer Schwarm von Raubvögeln über ihn her und fraß ihn auf, daß nur die Knochen zur Erde fielen.

Der jüngere Bruder konnte sich nun beliebig in einen Menschen oder Falken verwandeln. Die Falken schickten ihn aus, um auch seine Eltern zu holen. Er kam in Menschengestalt in sein Dorf, und als ihn die Leute nach so langer Zeit wieder erscheinen sahen, erschraken sie und sagten, er sei wohl auf dem Wege des Azang (Dämon) gekommen. Er forderte darauf seine Eltern auf, mit ihm zusammen in ein Haus zu gehen und zu tanzen. Auch andere Dorfbewohner lud er ein; sie wollten aber nicht kommen. Während sie in dem Hause tanzten, löste es sich vom Boden los und stieg mit ihnen in[179] die Luft empor. Nun liefen die Dorfbewohner zusammen und wollten die Davonziehenden zurückhalten. Die Medizinmänner rauchten ihre Zigarren und bliesen den Rauch in die Höhe, aber es nützte nichts.

Die ganze folgende Nacht hindurch regnete es, und das Wasser stieg so hoch, daß viele Leute ertranken. Eine Anzahl Personen rettete sich auf Uassaï-Palmen. Da sie in der Dunkelheit nichts unter sich sehen konnten, so warfen sie von Zeit zu Zeit Palmfrüchte herunter, um am Aufschlagen zu erkennen, ob der Boden trocken sei oder unter Wasser stände. Es klang aber nur immer pluk – pluk, wenn die Früchte ins Wasser fielen. Da begannen sie, sich in der Dunkelheit gegenseitig wie Kröten anzurufen, und das taten sie so lange, bis sie selbst zu Kröten wurden.

Quelle:
Koch-Grünberg, Theodor (Hg.): Indianermärchen aus Südamerika. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 177-180.
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