[196] 71. Kaboi

[196] Kaboi, der Ahnherr der Karaja, lebte mit seinem Volke in der Unterwelt. Es schien dort die Sonne, wenn auf Erden Nacht war, und umgekehrt. Einst drang der Schrei des Steppenvogels Seriema bis dahin, und Kaboi beschloß, von einigen Leuten begleitet, dem Ton zu folgen. So gelangte er an ein Loch, das auf die Oberfläche der Erde führte. Aber nur seine Leute konnten hindurch, während er selbst wegen seines zu großen Körperumfangs darin stecken blieb und nur mit dem Kopf aus der Öffnung hervorschaute. Die Karaja durchstreiften die Gegend und fanden viele Früchte, ferner Bienen und wilden Honig, sahen aber auch manchen abgestorbenen Baum und dürres Holz. Alles dieses brachten sie zur Stelle, wo Kaboi ihrer harrte, und zeigten ihm, was sie gefunden hatten. – »Wohl ist das Land schön und fruchtbar,« sagte dieser, »aber das morsche Holz beweist, daß das, was hier lebt, bald dem Tode verfallen muß. Darum ist es besser, wir bleiben, wo wir sind.«

Im Reiche Kabois wurden die Menschen nämlich sehr alt; sie starben erst, wenn sie vor Alter keine Bewegung mehr machen konnten.

Als Kaboi zu seinem Volke zurückkehrte und die Früchte zeigte, wollten die meisten hinauf auf die Oberwelt. Vergeblich warnte er: »Ihr findet alles, dessen ihr bedürft, aber ihr werdet schnell dahinsterben!« – Dennoch zog ein Teil des Volkes fort und bevölkerte die Erde. Die übrigen blieben mit Kaboi in der Unterwelt zurück. Sie leben noch heute in voller Kraft, während das Volk auf der Erde mehr und mehr dem Untergange entgegengeht.

Quelle:
Koch-Grünberg, Theodor (Hg.): Indianermärchen aus Südamerika. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 196-197.
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