[283] 105. Weltuntergang und Raub des Feuers
I

[283] Es war einmal in alten Tagen ein sehr armer Mann, der in den Wäldern umherirrte und keinen festen Wohnsitz hatte. Wenn er in die Dörfer kam, jagte man ihn fort und hetzte die Hunde auf ihn. Als der Mann sah, daß man ihn in keinem Dorfe wohnen lassen wollte, machte er sich eine Jagdhütte. Dort kamen allerlei schöne Vögel zur Hütte, und die meisten wurden bald so zahm, daß er sie fangen konnte. Der Mann dachte: »Gehe ich mit diesen prächtigen Vögeln in ein Dorf, so nimmt man mich vielleicht auf.« – Er nahm nun die Vögel und ging in die Dörfer. Alle fanden die Vögel schön, nirgends wollte man ihn aber wohnen lassen. Der Mann ging nach seiner Hütte zurück. Eines Tages kam Anyatunpa in Gestalt eines schönen Vogels zu ihm. Was ist das für ein merkwürdiger Vogel, dachte der Mann. Anyatunpa sagte, er sei gekommen, um ihm zu helfen, und gab ihm ein Paar Flügel.

»Wenn du in ein Dorf kommst, sollst du die Flügel bewegen, und dann donnert es,« sagte Anyatunpa. »Wollen sie dich trotzdem nicht wohnen lassen, so erhebe die Flügel!«

Der Mann ging in ein Dorf, wo ein großes Trinkgelage stattfand. Man wollte ihn nicht aufnehmen. Er bewegte die Flügel, und es donnerte. Man glaubte, die Medizinmänner seien es, die donnerten, und kümmerte sich nicht um ihn. Wieder bewegte er die Flügel, und es donnerte. Man glaubte immer noch, es seien die Medizinmänner, die donnerten, und kümmerte sich nicht um ihn. Als er endlich sah, daß man ihn nicht wohnen lassen wollte, sondern ihn fortjagte, erhob er die Flügel, die er verborgen hatte. Da kam ein Sturm, der riß alle fort, außer zwei Knaben und einem Mädchen.

Diese, die nun allein waren, wollten kochen, aber sie hatten kein Feuer. Sie hatten Kürbis und Mais, konnten sie aber[284] nicht rösten. Da kam ein alter Mann, die Sonne, mit einem Feuerbrand zu ihnen. Er röstete einen Kürbis und aß ihn; als er aber fortging, nahm er das Feuer wieder mit. Er wollte ihnen nichts davon abgeben. Als der Alte das nächste Mal kam, beschlossen sie, ihm das Feuer zu stehlen. Als er an dem mitgebrachten Feuerbrand einen Kürbis röstete, schlug einer der Knaben mit einem Knüttel darauf, so daß die Glut umhersprühte. Der Alte sammelte sie schnell auf. Einen ganz kleinen Funken fanden sie gleichwohl unter einem halben Kürbis, der auf der Erde gelegen hatte. Sie machten nun Feuer an. Huapi (der Webervogel?) sagte zu ihnen, sie sollten das Feuer gut aufbewahren, so daß es niemals ausgehe. Er sagte ihnen auch, sie sollten, wenn das Feuer erlösche, mit dem Tatay, dem Quirlfeuerzeug, Feuer reiben.

Der jüngere Bruder nahm nun seine Schwester zur Frau. Der ältere hatte keine Frau. Sie legten einen Kürbis in eine kleine Hängematte und wiegten sie. Der Kürbis wurde zu einem Mädchen, das bald zu einer Frau emporwuchs. Diese nahm der ältere Bruder zur Frau. Von diesen beiden Frauen stammen alle Chane.


II

Ein Jüngling hatte sich in den Wald begeben und in einer Lache das Bild eines schönen Mädchens gesehen, dem er folgte. Er blieb eine lange Zeit bei ihr, einen Monat, und seine Mutter glaubte schon, er sei tot, und schnitt sich die Haare ab. Sie glaubte, er wäre von einer Schlange gebissen worden oder dergleichen. Eines Tages kam der Sohn jedoch nach Hause und erzählte, daß er ein hübsches Mädchen gefunden und sich mit ihr verheiratet habe. Da sagte ihm die Mutter, er solle sie holen, und braute eine Masse Maisbier, um ihre Ankunft zu feiern.

Der Jüngling kam mit seiner Frau, und sie war hübsch und wohlgekleidet. Während des Festes verwandelte sie sich und wurde sehr häßlich. Hierüber machte die Schwägerin eine Bemerkung, und sie wurde böse und verließ sie und ging[285] dahin zurück, woher sie gekommen war, indem sie erklärte, sie werde sich rächen. Sie sagte jedoch, man solle erst einen Knaben und ein Mädchen in ein großes Tongefäß setzen. Ein Bruder und eine Schwester wurden zusammen mit den Samen von Mais, Kürbis und Bohnen in ein Tongefäß gesetzt und der Krug gut zugedeckt. Als dies geschehen war, begann es fürchterlich zu regnen, und Häuser und alles wurden mit Wasser bedeckt. Der Krug schwamm jedoch oben. Alle Menschen und Tiere ertranken in dem steigenden Wasser. Lange schwamm das Tongefäß umher, und der Knabe und das Mädchen begannen schon groß zu werden. Dann sank das Wasser. Als sie aber aussteigen wollten, war der Boden noch sumpfig, und sie mußten warten, bis er getrocknet war.

Als sie aus dem Tongefäß kamen, säten sie von den mitgenommenen Samen Mais, Kürbis und Bohnen. Diese reiften in einem halben Monat. Sie hatten kein Feuer. In einiger Entfernung sahen sie Feuer. Es war Toste, ein Watvogel, der an den Flußufern schreitet, der Feuer hatte. Als sie sich dem Feuer näherten, verschwand es jedoch weiterhin.

Der Frosch versprach, ihnen Feuer zu rauben. Er hüpfte zu Tostes Lagerfeuer und setzte sich, vor Kälte bebend, daran, um sich zu wärmen. Von Zeit zu Zeit scharrte er die Glut näher zu sich hin, angeblich, um sich besser zu wärmen, und als niemand es sah, stopfte er einen kleinen Feuerbrand in den Mund und hüpfte davon.

Zu dem Knaben und dem Mädchen hingekommen, machte er Feuer an, und seitdem haben die Chane-Indianer Feuer. Die Schwester und der Bruder, die nun groß geworden waren, verheirateten sich. Sie bauten sich eine Hütte. Das Mädchen bekam Kinder. Als diese Kinder groß waren, verheirateten sie sich miteinander. Von ihren Kindern stammen alle Chane. Von den Kindern des ältesten Knaben stammen die Häuptlinge her.

Quelle:
Koch-Grünberg, Theodor (Hg.): Indianermärchen aus Südamerika. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 283-286.
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