13. Der Zwerghirsch und der Riese Gergasi

[51] Einst gab es sieben Tierarten: den Wasserbüffel, den Ochsen, den Hund, den Hirsch, den Zwerghirsch und das Reh. Diese Tiere wollten Fische fangen. Sie warfen ein Netz aus, holten es wieder ein und hatten viele Fische bekommen. Sie schütteten die Beute am Strande aus, und irgendwer sagte: »Wer will die Fische hüten, während wir einen neuen Fischzug tun? denn der Gergasi kann kommen.« Sprach der Wasserbüffel: »Ich will sie schon bewachen. Ich bin vor ihm nicht bange und werde ihn mit den Hörnern stoßen, wenn er kommt.«

Als die andern Tiere fort waren, erschien der Gergasi und sagte: »Ha ha, ha! Was habt ihr für viele Fische gefangen! Die werde ich sogleich verspeisen, und eigentlich dich noch dazu!« Der Wasserbüffel entgegnete: »Schön! Komm nur 'ran, ich werde dich aufspießen!« – »Das wird geschehen,« versetzte Gergasi, »wenn ich nicht eure Fische essen darf.« Als der Gergasi ganz nahe war, tat der Wasserbüffel so, als ob er ihn auf die Hörner nehmen wollte; da griff der Gergasi darnach und hielt sie so fest, daß der Büffel sich nicht rühren konnte, denn der Gergasi war sehr groß und stark. Darauf brüllte der Büffel: »Laß los! Du darfst auch die Fische essen.« Da ließ der Gergasi ihn frei, und der Wasserbüffel schwamm zu seinen Gefährten, die in der See Fische fingen.

Als er bei ihnen ankam, sagte er zu ihnen: »Der Gergasi hat die Fische aufgefressen; er hielt meine Hörner fest, und ich konnte nichts machen.« Da wurden die anderen Tiere auf den Büffel böse und sagten: »Wir können uns zu Tode fischen, und der Gergasi frißt alle unsere Fische.« Und das Pferd sagte: »Fisch' du nun mit den andern; ich will die Fische bewachen, und wenn es mir nicht gelingt, ihn zu beißen, will ich ihn doch mit den Hufen treten.« Darauf brachten die Tiere den Fang an denselben Platz, gaben ihn in die Obhut des Pferdes und zogen auf neue Beute aus.

Als sie ein Weilchen weg waren, kam der Gergasi wieder und [52] sagte: »Ha, ha, ha! Wenn du nicht machst, daß du fortkommst, fresse ich dich samt den Fischen auf.« – »Wohlan,« erwiderte das Pferd, »versuch's einmal, ich werde sie verteidigen, und wenn ich sterben müßte.« Als der Gergasi sich näherte, wollte das Pferd ihn beißen; der Gergasi hielt ihm aber den Kopf fest, und es war machtlos. Darauf bäumte sich das Pferd hoch empor; der Gergasi mußte den Kopf loslassen. Als es von ihm frei war, sprang es ihn mit den Hufen an. Gergasi hielt aber die Hinterhufe fest. Nun bat das Pferd, losgelassen zu werden. Der Gergasi tat es, und während das Pferd zu seinen Gefährten schwamm, fraß er die Fische auf.

Als das Pferd bei seinen Genossen anlangte, sagte es: »Ich habe mein Bestes versucht, aber der Gergasi hat die Fische doch gefressen. Erst wollte ich ihn beißen, da kriegte er meinen Kopf zu fassen. Dann bäumte ich mich hoch empor, schüttelte ihn ab, versuchte ihn zu treten, aber er hielt mir die Hufe fest, und ich mußte klein beigeben.« Darauf erwiderten seine Gefährten: »Was hat es nur für einen Zweck, Fische zu fangen! Wir werden bloß müde, und der Gergasi frißt sie doch. Das Beste ist, wir gehen nach Hause.« Und der Ochs, der Hirsch, der Hund und das Reh sagten: »Was sollen wir auch versuchen, wider den Gergasi zu streiten; die starken Tiere haben es versucht und nichts erreicht. Gehen wir also heim.«

Nur der Zwerghirsch schwieg; und als alle andern ihre Sprüchlein hergesagt hatten, meinte er: »Geht nur und fischt weiter; diesmal will ich aufpassen.« – »Na, du kannst gerade was rechtes,« antwortete das Pferd, »du bist doch so klein. Wie willst du gegen den Gergasi aufkommen?« – »Das laßt meine Sorge sein,« erwiderte der Zwerghirsch, »gewiß, ich kann nicht gegen ihn kämpfen oder ihn gar töten, aber ich werde die Fische bewachen.« Die andern Tiere wollten aber nach Hause; schließlich überredete sie der Zwerghirsch. Sie fingen wieder Fische und schütteten sie an derselben Stelle auf den Strand. Darauf sagte der Hirsch: »Wer will sie bewachen?« Der Büffel antwortete: »Nun, der Zwerghirsch sagte [53] doch, er würde es tun.« – »Jawohl,« erwiderte der Zwerghirsch, »ich will sie schon bewachen; aber vielleicht möchte jemand anders es lieber, ich bin ja so klein.« Es war jedoch niemand bereit. Und so sagte der Zwerghirsch: »Schön, dann werde ich also aufpassen. Schüttet die Fische nur auf einen Haufen und deckt den mit Blättern zu, daß niemand sie sehen kann.« Die Gefährten häuften die Fische darauf in einen Hümpel zusammen, deckten den mit Blättern zu, und als sie damit fertig waren, gingen sie wieder zum Fischen.

Als die andern fort waren, suchte sich der Zwerghirsch etlichen Rotang und schnitt ihn in Streifen, als ob er damit etwas binden oder flechten wollte. Kaum war er damit fertig, da erschien auch der Gergasi und sagte: »Ha, ha, ha! Paßt etwa der Zwerghirsch jetzt auf? Na? Büffel und Pferd haben mir die Fische überlassen müssen, Kleiner, was willst du denn machen? Gib die Fische man gleich heraus, oder ich fresse dich auch mit.« Der Zwerghirsch entgegnete: »Ich passe hier auf keine Fische auf, ich schneide Rotang.« Der Gergasi war inzwischen näher gekommen – die Fische hatte er noch nicht bemerkt – und fragte weiter: »Na, was machst du denn mit dem Rotang?« – »Die binde ich mir um die Knie,« erwiderte der Zwerghirsch. »Warum tust du das?« erkundigte sich der Gergasi. »Schau dir mal den Himmel an,« versetzte der Zwerghirsch, »der sieht aus, als ob er jeden Augenblick herabfallen wollte, sieh doch, wie niedrig er schon hängt. Darum binde ich mir etwas um die Knie.« – »Aber weshalb bindest du dir denn Rotang um die Knie, wenn du meinst, daß der Himmel herabfällt?« fragte der Gergasi. »Das tue ich, um mich nicht zu verletzen, wenn ich in den Brunnen steige; denn wenn der Himmel einfällt, mache ich, daß ich da hineinkomme, um nichts abzukriegen.«

Der Gergasi schaute zum Himmel empor. Der schien tatsächlich ziemlich niedrig zu hängen. »Binde erst einmal etwas um meine Knie,« sagte er, »dann können deine dran kommen.« – »Gern,« erwiderte der Zwerghirsch, »du mußt dich nur über den Brunnen setzen.« Sie gingen beide nach dem Brunnen; [54] der Zwerghirsch trug den Rotang. Nun sagte der Gergasi: »Na, kannst auch zuerst deine Knie umwickeln.« Doch der Zwerghirsch entgegnete: »Wenn ich mich zuerst einwickle, dann kann ich es hernach doch nicht mehr bei dir tun.« – »Auch gut,« sagte der Gergasi, »dann binde den Rotang man erst mal um mich, aber du mußt zuerst in den Brunnen steigen.« – »Na, hör mal,« sprach der Zwerghirsch, »wenn ich das tue, dann komme ich nicht um, wenn der Himmel einfallen sollte, sondern du bringst mich um, wenn du mir auf den Kopf steigst.« Der Gergasi war damit einverstanden, die Richtigkeit von dem, was der Zwerghirsch ihm sagte, leuchtete ihm ein. Der Zwerghirsch machte seine Sache gründlich; er band dem Gergasi die Hände an den Knien fest. »Weshalb hast du mich denn so furchtbar fest gebunden?« fragte der Gergasi; doch der Zwerghirsch gab ihm zur Antwort einen Stoß, und der Gergasi stürzte in den Brunnen. »Und nun kannst du da bleiben, bis du verreckst,« sagte der Zwerghirsch, »du hattest dich in meiner Klugheit getäuscht.« – »Und so muß ich hier sterben?« sprach der Gergasi. »Ja,« erwiderte der Zwerghirsch, »du hast uns ja immer unsere Fische gestohlen.«

Nach einiger Zeit kamen die Gefährten des Zwerghirsches und schleppten neue Fische herbei. »Seht mal, wie klug ich war,« sagte der Zwerghirsch, »ich habe den Gergasi gefesselt! Ihr sagtet, er wäre so stark. Wie hätte ich ihn dann überwältigen können?« – »Du lügst,« schrien Büffel und Pferd, »wie hast du ihn bloß binden können!« – »Nun, wenn ihr mir nicht glaubt,« erwiderte der Zwerghirsch, »dann seht einmal selber nach. Im Brunnen ist er.« – Da gingen alle Tiere nach dem Brunnen und sahen dort den Gergasi. Darauf sagten der Büffel und das Pferd: »Wie ist dir das nur gelungen?« – »Ach, was fragt ihr lange,« versetzte der Zwerghirsch, »ihr versteht ja nichts von meinen Listen. Jedenfalls tut ihr gut, ihr nehmt jetzt einen Speer und macht ihm den Garaus, denn er hat euch so oft eure Fische gestohlen.« Darauf töteten sie den Gergasi mit einem Speer.

[55] Als der Gergasi tot war, beschlossen sie, am Strande ihr Mahl zu halten. Und wie sie nun die Fische und den Reis kochen wollten, bemerkten sie, daß ihnen der Pfeffer fehlte. Da sie keine roten Pfefferschoten hatten, mußten sie sich ohne diese behelfen; infolgedessen mundete ihnen das Essen nur halb so gut. Während sie so saßen und aßen, sah der Zwerghirsch, daß das Ende des Zumptes vom Hunde rot war. »Na,« sagte er, »nun suchen wir nach rotem Pfeffer – da ist ja welcher!« Und damit zeigte er auf den Zumpt des Hundes. Der Hund begriff nicht recht, und Hirsch und Reh fragten nochmals: »Wo ist der Pfeffer?« – »Da!« erwiderte der Zwerghirsch und zeigte wieder auf den Hund. D'rauf wurde der Hund böse, denn er schämte sich sehr, und der Hirsch und das Reh lachten ihn aus. Doch bekamen die drei es mit der Angst; sie liefen fort, und der Hund immer hinter ihnen her.

Daher verfolgt sie der Hund noch bis auf den heutigen Tag, denn sie hatten sein Schamgefühl gar zu grob verletzt.

Der Hund war dem Zwerghirsch hart auf der Spur, als sie die Dschungeln erreichten. Es gelang dem Zwerghirsch aber, mittels seiner Zähne und Füße einen Baum zu erklimmen. Und als der Hund unterm Baum ankam, konnte er keine Fährte mehr vom Zwerghirsch entdecken, auch war von seinem Geruche nichts mehr zu spüren. Da gab der Hund die Verfolgung des Zwerghirsches auf und jagte hinter Hirsch und Reh her. Als er wieder an die Stätte kam, wo sie hatten essen wollen, waren alle fort, nur Reis und Fisch standen noch da. Er jagte weiter hinter Hirsch und Reh her, aber er konnte sie nicht kriegen. Schließlich sagte er: »Schön, wenn mir jemals ein Hirsch, Reh oder Zwerghirsch vors Gesicht kommt, werde ich sie töten, und meine Kinder und Kindeskinder sollen es ebenso machen.« Und so ist es bis heute geblieben.

Nach einer Weile traf der Hund wieder mit Pferd, Büffel und Ochse zusammen, und die vier Tiere teilten sich nun in das Essen, denn der Hund war ihnen nicht böse. Sie hatten ja – nicht über ihn gelacht.

Quelle:
Hambruch, Paul: Malaiische Märchen aus Madagaskar und Insulinde. Jena: Eugen Diederich, 1922, S. 51-56.
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