Die Waldfrau.

[123] Bei einem Birkenwald weidete ein Mädchen ihre Ziegen und spann dabei den Flachs, den ihr die Mutter mitgegeben hatte. Sobald es aber Mittag war, legte sie den Flachs bei Seite und machte ein Tänzchen und nach dem Tanze spann sie wieder. Einst als sie wiederum in der Mittagsstunde sich zum Tanze anschickte, stand plötzlich eine wunderschöne Frau vor ihr; es war die Waldfrau. Sie hatte ein weißes Gewand, dünn wie ein Spinngewebe; von dem Haupte bis zum Gürtel flossen ihr goldene Haare herab und auf dem Haupte trug sie einen Kranz von Waldblumen. Die Frau fragte das Mädchen, ob es gern tanze. Diese antwortete: O ich möchte den ganzen Tag tanzen. Da erfaßte die Frau das Mädchen und tanzte so schön und leicht, daß sich das Gras unter ihren zarten Füßen gar nicht beugte. Dazu sangen die Vögel in den Zweigen und machten eine liebliche Musik, auf deren Klang ihre Füße von selbst sprangen. So tanzten sie bis Sonnenuntergang. Da verschwand die Waldfrau. Nun erschrack das Mädchen, daß ihre Spindel nicht voll war und gieng traurig nach Hause. Aber sie dachte, ich werd's morgen einbringen und doppelt fleißig spinnen. Aber am andern Tage kam die schöne Jungfrau wieder und als das Mädchen sagte, sie könne heute nicht tanzen, sie müsse spinnen, beruhigte es die Frau und sagte: Ich werde dir spinnen helfen. Das Mädchen ließ sich bereden und tanzte mit ihr bis Sonnenuntergang. Dann nahm die Frau des Mädchens Spindel und spann in kurzer Zeit allen Flachs[124] auf. Als sie aber dem Mädchen die volle Spindel reichte, sagte sie: Weif auf und murre nicht! Hierauf verschwand sie. Das Mädchen übergab der Mutter die volle Spindel und sagte nichts von der schönen Frau. Am dritten Tage kam die Waldfrau wieder und tanzte wieder mit dem Mädchen und als das Mädchen am Abende wiederum jammerte, daß ihre Spindel nicht voll sei, sprach die Waldfrau: Ich will dir ersetzen, was du versäumt hast. Hierauf füllte sie ihm die Tasche mit Birkenlaub und war verschwunden. Daheim hatte unterdessen die Mutter das Garn geweift, das die Waldfrau gesponnen hatte, aber so lange sie auch weifte, so wollte es doch kein Ende nehmen. Da rief sie erschrocken: Welcher böse Geist hat das gesponnen! Und in demselben Augenblicke war das Garn von der Spindel geschwunden. Als das Mädchen heimkam, und von der Mutter hörte, was geschehen sei, gestand es ihr Alles und begann von der schönen Frau zu erzählen. Das war eine Waldfrau, rief die Mutter entsetzt. Um Mittag und Mitternacht treiben sie ihr Wesen. Ein Glück, daß du kein Knabe bist, sonst hätte sie dich zu Tode getanzt und zu Tode gekitzelt. Mit Mädchen haben sie Erbarmen und beschenken sie oft reichlich. Hättest du mir das früher gesagt, so hätte ich nicht gemurrt, und wir hätten jetzt die Stube voll Garn. Da öffnete das Mädchen ihre Tasche und zeigte das Birkenlaub, das ihr die Waldfrau geschenkt hatte und siehe, es hatte sich in Gold verwandelt. – (Nach Erben's Čítanka S. 29. Wenzig Westsl. Märchenschatz S. 198.)

Quelle:
Grohmann, Josef Virgil: Sagen-Buch von Böhmen und Mähren. 1: Sagen aus Böhmen, Prag: Calve, 1863, S. 123-125.
Lizenz:
Kategorien: