Der schlaue Guyon

[207] Es waren einmal zwei Brüder, von denen der ältere einfältig und dumm, der jüngere hingegen schlau und aufgeweckt war. Der erstere hieß Job, der andere Guyon. Job wollte reisen, um sein Glück zu suchen. Er zog fort, diente einige Zeit in einem Schlosse und kehrte dann gerupft und krank zurück: ein Hautstreifen war ihm vom Nacken bis zur Ferse ausgeschnitten. Guyon zog nun ebenfalls in die Welt, entschlossen, für seinen Bruder Rache zu nehmen. Er trug seine Dienste im nämlichen Schlosse an wie jener. Man fragte ihn nach seinem Namen und er sagte dem Schloßherrn, er heiße »Mein Hinterer«, der Köchin, er heiße »Kater«, der Schloßherrin, er heiße »Decke«, ihrer Tochter, er heiße »Fettbrühe« und dem Torwächter, er heiße »Ich selbst«.

Zunächst schickte man ihn aus, um die Schweine in dem Walde, der das Schloß umgab, zu hüten. Aber bald wurde er, da er ein intelligenter, gewandter und recht hübscher Bursch war, der Kammerdiener des Herrn. Er machte dem Fräulein den Hof, doch dieses wies ihn barsch ab. Eines Abends versteckte er sich unter ihrem Bett. Die Köchin gewahrte es und sagte ganz heimlich zum Herrn: »Gnädiger Herr, der ›Kater‹ hat sich unter dem Bett Eurer Tochter versteckt.« »Was geht mich das an?« erwiderte er. »Ich sage Euch«, wiederholte sie, »daß der ›Kater‹ unter dem Bett Eurer Tochter liegt.« »Ich verstehe schon. Und was für einen Schaden soll er da anrichten? Laßt ihn doch!« Sie schien sehr erstaunt und ging murrend davon.

Man hatte zu Abend eine fette Brühe gegessen, in welcher[207] sich gekochter Speck befand, und die Mutter hatte zu ihrer Tochter gesagt: »Ich fürchte, daß du heute Nacht noch die Kolik bekommst, liebe Tochter!« Das Fräulein legte sich zur gewohnten Stunde schlafen, ohne an etwas Böses zu denken. Guyon kam nun aus seinem Schlupfwinkel hervor und legte sich an ihre Seite ins Bett. Sie schrie: »Zu Hilfe! Zu Hilfe!« »Warum schreist du denn so, mein Kind?« fragte die Mutter, welche in einem angrenzenden Raume schlief. »Die ›Fettbrühe!‹ Es ist die ›Fettbrühe‹!« schrie sie. »Ich hatte dir doch gesagt, daß du heute nacht irgendwelches Unwohlsein verspüren würdest; du hast zuviel fette Brühe und zuviel Speck gegessen!« »Kommt und befreit mich, kommt schnell!« schrie sie immerfort. »Steh doch auf und schau, was sie hat!« sagte die Dame zu ihrem Gatten. »Fällt mir nicht ein! Es ist zu kalt! Ihr ist übel, mein Gott, das wird schon wieder vergehen.« Aber als die Tochter fortwährend schrie, erhob sich die Dame, zündete eine Kerze an und begab sich ins Nebenzimmer. Und nun begann sie ihrerseits zu schreien: »Die ›Decke!‹ Die ›Decke‹ liegt auf meiner Tochter, in ihrem Bett! Kommt rasch, kommt!« »Nun, wenn sie die Decke stört, so nimm sie weg, zum Teufel, und laß mich in Ruhe schlafen!« rief der Herr ungeduldig. Indessen, da Mutter und Tochter aus Leibeskräften weiter schrien, erhob er sich gleichfalls; und als er gesehen hatte, was da vorging, öffnete er das Fenster und rief: »Holla! He! Diener und Mägde! Lauft geschwind mit Stöcken herbei! Schnell, schnell!« Und Diener und Mägde stürzten mit Stöcken und Besen bewaffnet ins Zimmer. »›Meinen Hintern‹!« rief er ihnen zu, »schlagt auf ›Meinen Hintern‹!« Und sie begannen auf denjenigen Körperteil ihres Herrn loszudreschen, den ihnen dieser angegeben hatte. »Was tut ihr denn, ihr Dummköpfe?« heulte er, »ich sage euch ›Meinen Hintern‹, schlagt auf ›Meinen Hintern‹, und das tüchtig!« Und sie fuhren fort, ihn auf den nämlichen Ort zu prügeln. Guyon benutzte diesen Wirrwarr und diesen Lärm, um sich aus dem Staube zu machen. Der Torwächter versuchte ihm den Weg zu versperren, aber durch[208] einen Stoß mit der Schulter warf er ihn in den Schloßgraben, wo er im Schlamm versank, ohne sich heraushelfen zu können. Die Knechte liefen auf seine verzweifelten Rufe hin herbei. »Wer hat Euch da hineingeworfen?« fragte man ihn. »Ich selbst!« erwiderte er. »Ihr selbst, alter Esel? Nun, dann helft Euch auch selber wieder heraus!« Und sie ließen ihn im Schlamme herumpatschen und machten sich an die Verfolgung Guyons. Aber Guyon war schon weit weg; er kam ungehindert heim und erzählte seinem Bruder, wie er ihn gerächt habe.

Quelle:
FR-Märchen Bd.2, S. CCVII207-CCIX209.
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