Die Frau, die keine Kinder haben wollte

[215] Es war einmal eine reiche jungvermählte Frau, welche keine Kinder haben wollte. Sie suchte einen Arzt auf und bat ihn um ein Mittel zu diesem Zweck. Der Arzt gab ihr das gewünschte Mittel und sie machte davon Gebrauch. Aber bald darauf dachte sie, daß sie eine große Sünde begangen habe, sie empfand Reue darüber und suchte ihren Beichtvater auf, dem sie alles gestand. »Ihr habt Euch einer großen Sünde schuldig gemacht,« sagte der Priester zu ihr, »und wenn Ihr Euch keiner harten Buße unterzieht, so werdet Ihr in Ewigkeit verdammt sein.« Diese Worte setzten die arme Frau in Schrecken. »Gebt mir«, sagte sie, »eine Buße auf, und wie hart sie auch sein mag, ich werde mich ihr unterziehen.« »So hört, was Ihr tun müßt. Um Mitternacht werdet Ihr Euch allein an das Ufer des benachbarten Flusses begeben. Dort angekommen, müßt Ihr Euch entkleiden und ganz nackt bis zum Hals ins Wasser steigen, indem Ihr in beiden Händen einen Eichenzweig haltet. Was sich auch ereignen mag, laßt den Eichenzweig nicht los, sonst seid Ihr auf ewig verloren. So müßt Ihr im Wasser verharren, bis Ihr den Tag dämmern seht, und diese Prüfung müßt Ihr in drei aufeinanderfolgenden Nächten auf Euch nehmen. Fühlt Ihr Mut genug dazu in Euch?« »Ja, mit Gottes Hilfe!«

Die junge Frau begab sich also in der ersten Nacht zum Fluß. Sobald sie auf dem Kirchturm des Dorfes die Mitternachtsstunde schlagen hörte, entkleidete sie sich und stieg bis zum Hals ins Wasser, indem sie in beiden Händen einen belaubten Eichenzweig hielt. Sogleich fühlte sie etwas Unbestimmtes wie Fische oder Kobolde, das rings um ihren Körper[215] spielte und zappelte und ihr den Eichenzweig zu entreißen trachtete. Aber sie hielt ihn fest, und sobald sie sah, daß der Tag am Horizont aufzudämmern begann, verließ sie das Wasser. Ihr Eichenzweig war entblättert und ein wenig geknickt. Eilends kleidete sie sich an und kehrte heim. Auf dem Wege begegnete sie einem Mönch, der sie grüßte, obwohl sie ihn nicht kannte.

In der folgenden Nacht ging sie wieder zum Fluß. Schlag Mitternacht trat sie, wie in der vorhergehenden Nacht, ganz nackt ins Wasser und hielt wieder in beiden Händen einen Eichenzweig. Dieses Mal hatte sie mehr Mühe, den Zweig zu verteidigen, und als sie bei Tagesanbruch das Wasser verließ, war sie sehr ermattet. Auf dem Heimwege begegnete ihr ein Priester, den sie nicht kannte, der sie aber, wie der Mönch in der Nacht zuvor, begrüßte.

In der dritten Nacht schließlich ging sie wieder zum Fluß, und dieses Mal hatte sie noch viel mehr Pein auszustehen als in den beiden vorhergehenden Nächten. Wenig fehlte, so hätte sie sich den Eichenzweig entreißen lassen; als sie bei Morgengrauen das Wasser verließ, blieb ihr nur noch ein Stumpf, und sie war ganz erschöpft von dem Kampf, den sie zu bestehen gehabt hatte. Auf dem Heimwege begegnete ihr eine unbekannte Nonne, die sie aber dennoch grüßte, ebenso wie der Mönch und der Priester in den beiden vorhergehenden Nächten.

Am andern Morgen ging sie zu ihrem Beichtvater. Dieser sprach zu ihr: »Nun, arme Frau, ist es Euch gelungen?« »Ja, Gott sei Dank! Aber nicht ohne Mühe.« »Sagt mir, was habt Ihr in jeder Nacht, wenn Ihr vom Flusse heimkehrtet, auf dem Wege gesehen?« »Die erste Nacht traf ich einen Mönch, die zweite Nacht einen Priester, die dritte Nacht eine Nonne, und sie haben mich alle drei gegrüßt, obwohl ich sie nicht kenne.« »Nun, das waren die drei Kinder, welchen Ihr das Leben geschenkt haben würdet, wenn Ihr Eure Pflicht als gute Christin getan und nicht den Trank genommen hättet, den Euch der Arzt gegeben hat. Sie haben Euch verziehen,[216] da sie Euch gegrüßt haben, denn durch die Buße, die Ihr auf Euch genommen habt, habt Ihr Euch von den Flammen der Hölle losgekauft und seid wieder in den Stand der Gnade Gottes versetzt.«

Die arme Frau hatte soviel gelitten, daß sie einige Tage später starb. Ihre Seele aber ging geradeswegs ins Himmelreich ein.

Quelle:
FR-Märchen Bd.2, S. CCXV215-CCXVII217.
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