Dieses Märchen ist wegen seiner deutlichen Bezüge zur Theseussage vielleicht das interessanteste Stück der ganzen Sammlung. Merkwürdige Anklänge an dieselbe Sage findet man auch bei Schott Walachische Mährchen Nr. 12, S. 152 f.
Der redende warnende See im Garten der siebenköpfigen Schlange erinnert an die der Psyche Warnungsworte zurufende Quelle bei Apuleius VI, 14: iamque et ipsae metum iniciebant vocales aquae. nam et ›discede‹ et ›quid facis? vide‹ et ›quid agis? cave‹ et ›fuge‹ et ›peribis‹ subinde clamant.
Was den jährlichen Tribut von zwölf Mädchen und zwölf Jünglingen betrifft, welchen das Ungeheuer fordert, so ist zu bemerken, dass schon die hellenische Sage nicht nur einen alle neun Jahre (Plut. Thes. 15. Diodor. IV, 61), sondern auch einen alljährlich sich wiederholenden Tribut von sieben athenischen Jünglingen und Jungfrauen für den Minotauros kennt: Apollodor. III, 15 a.E. und darnach Vergil. Aen. VI, 21 u. andere.
Wenn es in unsrem Märchen heisst, dass das Ungeheuer den fremden Eindringlingen nach Auferlegung der Strafe eines seiner Thiere zugetheilt habe, um ihnen den Weg aus dem Garten zu zeigen, so haben wir hier offenbar einen Nachklang des Labyrinths, welches in der angezogenen walachischen Erzählung in voller Deutlichkeit hervortritt. Dort bewohnt nämlich das zu bekämpfende Ungeheuer eine Höhle, welche unter der Erde hundert und aber hundert Winkel und Gänge hat, die kreuz und quer laufen, so dass der Ausgang nicht zu finden ist. Daher gibt der alte Vater dem ausziehenden Sohne den Rath mit: ›Nimm unsere schwarze Stute, die mit einem Füllen auf der Weide geht, und führe sie beide mit dir vor die Höhle. Dort schlachte und begrabe das Füllen, die Mutter aber nimm in die Höhle mit, sie wird euch, wenn ihr den Kampf glücklich bestanden habt, wohlbehalten wieder ans Tageslicht bringen.‹ Und so geschieht es, denn die Stute beginnt nach ihrem Füllen zu wiehern und zu suchen und ist bald auf dem rechten Wege zum Ausgang der Höhle. Vgl. Schott's Bemerkungen hierzu S. 342.
Interessant ist die Erhaltung des alten Zugs von dem Schiff mit den schwarzen Segeln (Plut. Thes. 17); wogegen von der nachmals zwischen Aegeus und Theseus verabredeten Vertauschung derselben mit weissen im Fall glücklicher Erlegung des Ungeheuers unser Märchen[236] nichts weiss1 und sogar den Vater vor dem Auszuge des Sohnes sterben lässt. Ja es scheint überhaupt im weiteren Verlauf der Erzählung die Eingangs wiederholt erwähnte Seefahrt ganz vergessen, wenigstens ist von einer solchen nirgends mehr die Rede, und einiges steht eigentlich geradezu in Widerstreit mit der Vorstellung, dass das Meer die beiden Länder von einander trenne. – Dagegen tritt andrerseits in dem alten kinderlosen König, welcher schliesslich doch noch wie durch ein Wunder einen Sohn erhält, der der Befreier seines Landes wird, König Aegeus sehr deutlich hervor (vgl. Preller Griech. Mythol. II, S. 287).
Das gleichzeitige Schwangerwerden und Gebären der Königin und der Stute, welche die Schalen des fruchtbar machenden Apfels gefressen hat, und die gegenseitige Zuneigung des Knabens und des Fohlens, die ihre Geburt der gleichen Ursache verdanken, finden wir auch bei Hahn Nr. 6, und ähnliche Züge in dem dritten Märchen bei Buchon S. 275 und bei Hahn Nr. 22. – Ueber die klugen Pferde als Hauptmerkmal der Helden vgl. Grimm D. Mythol. S. 364 f. (der 3. Ausg.). Wie in unsrem Märchen das treue Ross des Heldenjünglings mit Sprache begabt erscheint, so auch bei Hahn Nr. 6, wo es zudem Thränen vergiesst. Sehr häufig kommen redende und weinende Rosse in den Volksgesängen der Neugriechen vor, besonders in den Klephtenliedern. Vgl. z.B. Passow's Popul. Carmina Nr. 85. 87. 158. 159. 439, wo überall Zwiegespräche zwischen Rossen und ihren Reitern erwähnt werden. Ebendas. Nr. 269, V. 59 f. ahnt Chatsis Michalis durch das Weinen seines Rosses seinen nahen Tod. In der griechischen Alexandersage heisst es bei Zacher Pseudocallisth. S. 174 (Pseudocall. III, 33) nach der Hs. C (vgl. auch Stephan Kapp Mittheilungen aus zwei griech. Handschriften, als Beitrag zur Geschichte der Alexandersage im Mittelalter, im Progr. des k.k. Real- und Obergymnasiums im IX. Gemeindebezirke in Wien für d. Schuljahr 1871/2, S. 73): ›Als Alexander solches gesprochen hatte, kam das Pferd Bucephalus herein und benetzte Alexanders Bett mit seinen Thränen.‹ Bekanntlich weinen schon in der Ilias (XVII, 427. 437 f.) Achill's Rosse über den Tod des Patroklos.
Merkwürdig ist das unterirdische Nonnenkloster, dessen Name Gnothi bedeutsam an Knosos anklingt und allem Anschein nach wirklich daraus entstanden ist. Denn dass das Märchen selbst den Namen von γνέθω, spinnen, herleitet, spricht nicht dagegen, da das Volk es liebt, ihm unverständliche Ortsnamen durch Annäherung an ein ihm geläufiges Wort sich mundgerecht zu machen und demgemäss auch zu erklären; Beispiele solcher ›Volksetymologie‹, wie man die Sache passend genannt hat, sind Ἀδελφοῦ oder Ἀδελφοί für Δελφοί (s. oben Vorrede S. 29), Ἀνθῆνα für Ἀθῆναι (mit der Erklärung: διότι ἔχει τ᾽[237] ἄνθη), Χρυcό für Κρῖcα (Ulrichs Reis. u. Forsch. in Griechenl. I, S. 18 und 29, an welcher letztern Stelle die Verse angeführt werden: τὸ Χρυcό, τὸ Χρυcωμένο, | τὸ καcτρί, τὸ ᾽γγαcτρωμένο), Ἀcτροπαλῃά für Ἀcτυπάλαια (Ross Inselreisen II, S. 57, Anm. 3) u.s.w. Es kommt hinzu, dass von γνέθω, d.i. νήθω, ein Wort Γνώθη regelrecht gar nicht gebildet werden kann, und dass überhaupt nur ein einziges vom Stamme νε- abgeleitetes Nomen im Neugriechischen vorkommt, nämlich γνέμα = νῆμα. – Ist aber die Vermuthung eines Zusammenhangs zwischen Gnothi und Knosos richtig, so hat man in der alten Aebtissin, die den Königssohn so liebevoll aufnimmt, ihm einen heimlichen Weg zur Behausung des zu bekämpfenden Ungeheuers angibt und durch ihren weiteren guten Rath, dem sie zuletzt noch ihren Segen hinzufügt, den glücklichen Ausgang des gefährlichen Unternehmens herbeiführt, doch wohl keine andere als Ariadne zu erkennen, so seltsam auch deren Umwandlung in eine Nonne auf den ersten Blick erscheinen mag: dieselbe erklärt sich aber um so leichter bei Annahme einer Vermischung des Abenteuers gegen Minotauros mit demjenigen gegen den marathonischen Stier, welcher übrigens bekanntlich schon im Alterthum zu den kretischen Sagen in Beziehung gesetzt erscheint (vgl. Preller Gr. Mythol. II, S. 120 f. 123. 200. 292). Denn auf dem Zuge gegen diesen letzteren kehrt der junge Theseus bei der alten guten Hekale ein, die ihn auf das liebevollste aufnimmt und für seine glückliche Rückkehr dem Zeus Soter ein Opfer gelobt (Plut. Thes 14. Vgl. O. Schneider Callimachea II, S. 171 ff.). – Zugleich erinnert nun aber die nähere Beschreibung des Höhlenklosters mit dem in seiner Mitte brennenden Lichte, das die Nonnen abwechselnd hüten müssen, und auf dessen Vernachlässigung der Tod steht, auch wiederum an das delphische Heiligthum mit dem ewigen, von einer Wittwe unterhaltenen Feuer auf dem Opferherde (s. die Stellen bei Bursian Geographie von Griechenl. I, S. 176, Anm. 1), und an den römischen Vestadienst, wo das Erlöschenlassen des Tag und Nacht von den Vestalinnen gehüteten Feuers an der Schuldigen durch blutige Streiche geahndet wurde (s. die Stellen bei Preller Röm. Mythol. S. 540, Anm. 1). Des delphischen Heiligthums geschieht bekanntlich in der alten Theseussage wiederholt Erwähnung: der kinderlose Aegeus befragt das dortige Orakel wegen Nachkommenschaft, der zum Jüngling herangewachsene Theseus begibt sich nach Delphi, um Apollon die Erstlinge seines Haupthaars zu weihen, auch sollte ihm vor seiner Abfahrt nach Kreta der delphische Gott gerathen haben, Aphrodite zu seiner Führerin über das Meer zu machen (Plut. Thes. 3. 5. 18). Unter diesen Umständen verdient in der modernen Erzählung auch das Beachtung, dass der die lange ersehnte Geburt eines Sohnes herbeiführende Apfel eben aus dem Nonnenkloster gesandt wird.
Jedenfalls gewährt dieses ganze Stück überhaupt einen sehr belehrenden Einblick in die Art, wie in den neugriechischen Märchen verschiedene antike Elemente mit einander verschmolzen werden, und zeigt, wie eigenthümlich zuweilen ihre Ummodelung und wie bunt ihre Mischung ist. Denn auch daran muss zum Schlusse noch erinnert werden,[238] dass in der näheren Beschreibung des Ungeheuers und der Art seiner Bekämpfung die Sage vom Minotauros verlassen und an ihre Stelle, wie es scheint, ein Zug aus der Heraklessage getreten ist: denn die Schlange mit den sieben Köpfen, die nach einander, sobald der eine abgeschlagen ist, entstehen, so dass das Ungethüm nur mit einem Zauberschwert getödtet werden kann, ist höchst wahrscheinlich unter Umwandlung mancher Einzelheiten aus der vielköpfigen lernaeischen Hydra hervorgegangen, welcher an Stelle eines abgehauenen Kopfes sofort zwei neue aufschiessen, und die Herakles nur durch Ausbrennen der Stellen, wo die Häupter sich erneuern, zu erlegen im Stande ist. Die grosse Aehnlichkeit der beiden Helden kann die Vermischung ihrer Sagen verursacht haben. In der Zahl der Häupter des Ungeheuers weicht unser Märchen von dem alten Mythos ab, übrigens ist sie dort keine feste, sondern schwankt zwischen neun, drei, funfzig, hundert und einer unbestimmten Menge (vgl. Heyne zu Apollodor. II, 5, 2. Jacobi Handw. u.d.A. Herakles. Preller Gr. Mythol. II, S. 192, Anm. 4). In dem griechischen Märchen bei Hahn Nr. 70 (II, S. 55) kommt eine zwölfköpfige Schlange vor, deren Köpfe im Kampfe mit einem Jüngling gleichfalls erst nach und nach hervorwachsen, denn es heisst daselbst: ›Da zog der Jüngling sein Schwert und schlug der Schlange das Haupt ab; diese aber rief: »hoho, du Schandbube! für dich habe ich auch noch andere Köpfe,« und diese Schlange hatte wirklich zwölf Köpfe, und der Jüngling musste mit ihr vom Morgen bis zum Abend kämpfen, bis er sie endlich alle abgeschlagen hatte.‹ Vgl. auch die Vorrede zu meiner Sammlung S. 6 u. 10.
Zu dem Zauberschwerte unsres Märchens, mit dem es allein möglich ist, die Schlange zu erlegen, vgl. L. Gonzenbach Sicil. Märchen Nr. 44, wo erst ein Riese, dann ein siebenköpfiger Lindwurm mit einem Zauberschwerte getödtet wird.
Ueber das rings mit Glocken behangene Bett des Ungeheuers vgl. oben die Anmerkungen zur Nr. 12, und zu dem Verstopfen der Glocken mit Baumwolle den ähnlichen Zug bei Hahn Märchen II, S. 183.
1 | Dagegen wird bekanntlich in der Tristansage eine ganz ähnliche Verabredung getroffen zwischen dem auf den Tod verwundeten Tristan und dem Schiffer, der ihm seine Isot bringen soll: ein weisses Segel soll aufgezogen werden, wenn sie kommt, ein schwarzes, wenn sie nicht kommt (vgl. R. Bechstein in seiner Ausgabe von Gottfried's Tristan, 2. Theil, S. 310 u. 321). Offenbar ist auch hier die Theseussage Grundlage. |
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