[9] Ein frommer Mann im Lande der Väter hatte einen Sohn, namens Chanina. Dem gab er kurz vor seinem Tode den Auftrag, sobald die erste Trauer vorbei sei, auf den Markt2 zu gehen und um jeden Preis das erste, was ihm angeboten werde, zu kaufen und in Ehren zu halten.
Der Sohn that, wie ihm der Vater hefohlen hatte. Er kaufte eine silberne Dose, die er weit über den Wert bezahlen musste. Als er sie aber zu Hause öffnete, da fand er darin eine zweite Dose und in dieser einen Frosch3, der ganz vergnügt umhersprang. Chanina pflegte, wie er dem Vater versprochen hatte, den Frosch mit aller Sorgfalt. Doch der Frosch wurde immer grösser und grösser4, brauchte bald gar eine ganze Kammer für sich allein und kostete den braven Sohn das ganze Vermögen. Endlich entschloss er sich, dem unheimlichen Gast in aller Freundschaft die Wohnung zu kündigen.
Da sprach der Frosch: »Mein lieber Wirt! Nun soll dir[9] erst zum Lohn für deine Güte in Erfüllung gehen, was nur immer dein Herz begehrt.« Chanina bat, in der heiligen Lehre unterrichtet zu werden. Und kaum hatte ihm der Frosch einen Zettel eingegeben5, auf welchem einige Worte geschrieben standen, da kannte sein Schüler auch schon die ganze heilige Lehre und all' die siebzig Sprachen, ja sogar die Sprache der Tiere und Vögel.
Aber auch seine Wirtin wollte der dankbare Frosch belohnen. Er bat das Paar, ihm bis zum Walde das Geleit zu geben, und hier angelangt, rief der Frosch auf ein Zeichen alle Tiere und Vögel des Waldes zusammen und befahl ihnen, Edelsteine, soviel sie nur tragen könnten, seiner Wirtin in's Haus zu bringen und heilsame Kräuter, deren Wunderkraft er zugleich der Frau erklärte.
Alsdann sprach der Frosch: »Gott lohne euch die Mühe, die ihr mit mir gehabt! Und ihr habt mich nicht gefragt, wer ich bin6. Aber ich will es euch doch sagen. Ich bin des ersten Menschen Sohn, den ihm Lilit7 geboren hat in den hundert und dreissig Jahren, die er von Eva geschieden war. Gott hat mir die Macht gegeben mich in jede Form oder Gestalt zu kleiden, die mir behagt.« Damit nahm er Abschied.
Nicht lange darauf geschah es, dass der König des Landes auf den Rat seiner Freunde sich entschloss, ein Weib zu nehmen. Da liess eines Tages ein Vogel, der gerade vorüberflog, aus seinem Schnabel ein wunderschönes, goldblondes Frauenhaar auf die Schulter des Königs hinabfallen8, und nur das Weib, dem dieses Haar gehörte, wollte der König zur Gemahlin haben. Die Wahl, wer diese Schöne suchen sollte, fiel auf unseren Chanina, der inzwischen vermöge seines Wissens und seines Reichtums zu grossen Ehren gelangt war. Er machte sich sogleich auf die Reise.
Unterwegs, als er ermattet unter einem Baume rastete, hörte er einen Raben9, der auf dem Baume sass, gar wehmütig über Hunger klagen. Sogleich reichte ihm Chanina von seiner Wegzehrung. Ebenso rettete er bald darauf einen Hund vom Hungertode, und als er an einem grossen Wasser vorüberkam, aus welchem die Fischer gerade einen grossen Fisch heraufzogen, da kaufte er ihnen den Fisch ab und liess ihn wieder in's Wasser.
Endlich fand er die Besitzerin jenes Haares, eine mächtige Königin, und unverzagt teilte er ihr seinen Auftrag mit. Sie versprach auch, ihm zu folgen, doch müsse er ihr zuvor zwei Bitten erfüllen. Zunächst wünschte sie zwei Krüglein10, das eine mit Wasser aus der Hölle, das andere mit Wasser aus dem Paradies gefüllt.[10]
Als nun Chanina einst darüber nachdachte, wie er diese Bitte erfüllen könne, da flog jener Rabe herzu, dem er das Leben gerettet hatte, nahm die Krüglein und brachte sie gefüllt zurück. Die Königin prüfte sogleich die beiden Wassersorten. Zuerst goss sie von dem Höllenwasser auf ihre Hand, da wurde diese ganz verbrannt. Doch kaum netzte sie sie mit dem Wasser aus dem anderen Krüglein, da war sie wieder so heil, wie zuvor.
Nun stellte die Königin die zweite Bedingung Chanina sollte ihr einen Ring zur Stelle schaffen, den sie einst auf einer Seefahrt hatte in's Wasser fallen lassen. Wo sollte man den Ring suchen? Traurig und ratlos ging Chanina am Ufer des Meeres auf und ab. Da kam mit einem Mal jener Fisch geschwommen, dem er einst die Freiheit wiedergegeben hatte Kaum hatte ihm Chanina sein Leid geklagt, so schwamm er eiligst zu Liwjatan, dem gewaltigen Könige der Fische, und trug ihm vor, wie er Chanina nun so gern sich dankbar zeigen möchte. Liwjatan gebietet nun bei Strafe seiner allerhöchsten Ungnade11 dem Fische, der jenen Ring verschlungen, ihn sogleich herauszugeben. Ein Fischlein brachte ihn auch herbei und Chaninas Freund trug ihn seinem Retter zu. Doch wie er den Ring eben an's Land gespien hatte, da kam ein Eber und verschlang ihn. In demselben Augenblicke kam aber der Hund gelaufen, dem Chanina das Leben gerettet hatte, und im Nu war der Eber zerrissen und der Ring in Chaninas Händen. Nun musste die Königin ihr Versprechen halten und mit Chanina ziehen.
Schon sollte ihre Hochzeit mit dem Könige gefeiert werden, da fand man den getreuen Chanina eines Tages ermordet. Die Höflinge, die ihn von jeher beneidet hatten, die auch die Wahl für die gefahrvolle Botschaft auf ihn gelenkt und ihm gerade dadurch nun wider Willen zu den höchsten Ehrenstellen verholfen hatten, glaubten ihn bereits auf diese Weise aus dem Wege geräumt zu haben. Doch die Königin benetzte ihren treuen Diener nur mit einigen Tropfen ihres Paradieswassers und Chanina war wieder lebendig.
Der König, der dies gesehen hatte, wollte nun dieses Wunder durchaus auch an sich erproben. So sehr ihn seine Braut, die Königin, auch warnte, er liess sich totschlagen. Aber die Königin begoss ihn nun absichtlich nicht mit dem Paradies-, sondern mit dem Höllenwasser. Da wurde sein Leib ganz und gar zu Staub und Asche. Und nun wählte sich seine Braut, die schon längst statt des Wüterichs den braven Chanina12, nachdem inzwischen seine Frau gestorben war, liebgewonnen[11] hatte, diesen zum Ehegemahl. So wurde er sogar der Nachfolger, seines Königs und herrschte an der Seite seiner Gemahlin über viele Völker.
| 1 | Maa. 132. Von der Danbarkeit der Tiere spricht auch das Märchen (bei Gri. III, 191): Die treuen Tiere. Dass die Tiere den Menschen durch ihre Treue beschämen, ist eine buddhistische Anschauung (B P I, 208). Maa. 159 erzählt von Samuel dem Frommen: Er fuhr einst zu Wasser. Da hörte er ein furchtbares Gebrüll. Als er diesem nachging, fand er einen Löwen, den ein »Fandel« verfolgte. »Das schiesst mit eitel feuer aus seinem maul, damit verbrennt es die anderen Tier', wo es sie antrefft.« Doch vor dem Frommen flieht das Untier, und der Löwe wurde so zutraulich, dass er Samuel auf seinem Rücken zum Schiff zurücktrug und am liebsten mit ihm gefahren wäre. Ganz ähnlich berichtet die Sage von Heinrich dem Löwen (Gr. II, 243), von Andronikos u.a. |
| 2 | o. Mark. |
| 3 | Vgl. »Der Froschkönig« bei Gri. |
| 4 | In der Ragnar Lodbroksage sowie in ihrem persischen Gegenstück (Benf. I, 565) wird ein Lindwurm in einem Ei bezw. einem Apfel gefunden, aufbewahrt und immer grösser, sodass er sein Lager verlassen muss und eine geräumigere Stätte einnimmt. Vgl. die Fütterung des verwunschenen Prinzen bei B P II, 144. – Ungeheure Frösche auch: H. I, 3. Der weissagende Frosch: Maass, d. deutsche Märchen S. 10. |
| 5 | Vgl. Ez. 3, 1 f. Daher das früher beliebte Verfahren, den Abeschützen das hebräische Alphabet auf Zucker einzugeben (Roqeach n. 296 bei Grätz VII, 93). |
| 6 | Erinnert an die Lohengrinsage. |
| 7 | o. 'Alilat. Doch wohl ohne Beziehung auf das Arabische. Ueber Lilith und ihre Kinder vgl. Al. Kohuts »Angelologie« 87. |
| 8 | Ueber die Beziehungen zum Haar der Berenice vgl. Immermanns »Tristan und Isolde« (Die Schwalben). Bei Gri. III, 58 sind es drei goldene Haare vom Kopfe des Teufels, welche die Königstochter von ihrem Freier fordert. |
| 9 | Raben als redende, besonders als Schicksalsvögel oft in deutschen Sagen: Gri. III, 19. Vgl. 117. |
| 10 | Diesem Wasser des Lebens oder Paradieses- oder Himmelswasser begegnen wir bereits in der Alexandersage (vgl. Wünsches »Alexanders Zug nach dem Lebensquell« im Jahrb. f. jüd. Gesch. u. Lit. 1898 S. 112, 117, 123), im deutschen Märchen (bei Gri. III, 19, 114, n. 17 und 126) und in Konrads von Würzburg trojan. Krieg 10651 (vgl. Gri. III, 185). |
| 11 | o. des Bannes. S. oben S. 26: »König Liwjatan.« |
| 12 | Chanina, der (oben S. 26 »Der Wasserkönig«) als Schwiegersohn Jehudas des Frommen bezeichnet wird, scheint, nach seinen Abenteuern zu schliessen, mit Chanina ben Chakhinaj ('Abot III, 4), mit Chanunja dem Frommen (s. Schem hag.) oder mit dem Wundermann Choni [Onias] (Ta'anit 19,23) oder seinem Enkel identisch zu sein, der auch mĕ'aggel (Kreisemacher, mathematicus, Hexenmeister) genannt wird (Vgl. Ehrmann S. 19, Löw 337 f.) I. Chanina auch (s. S. 26 »Der Wasserkönig) Name einer Frau (so auch Genendel). |
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