Was sich die Hexen in der Johannisnacht erzählten.

[44] Es waren einmal zwei Brüder, die wollten auf Wanderschaft gehen, um in der weiten Welt ihr Glück zu versuchen. Sie stießen ihre Messer in den Stamm einer mächtigen Tanne und trafen folgende Vereinbarung: wer von ihnen zuerst wieder heimkehren würde, der solle die Messerklinge des andern besehen, ob sie noch blank sei; das würde ein Zeichen sein, daß der andere noch lebe. Dann trennten sie sich und ein jeder ging seines Weges.

Der jüngere Bruder durchwanderte viele fremde Länder, ohne zu irgend etwas zu kommen und kehrte nach einem Jahre traurig wieder in die Heimat zurück. Als er zu der Tanne kam, sah er, daß die Klinge von seines Bruders Messer blank war; also lebte derselbe noch. Weil es aber schon gegen Abend ging, beschloß der Jüngling daselbst unter der Tanne zu übernachten. Es war aber gerade Johannisnacht.[44] Nachdem er ein paar Stunden fest geschlafen hatte, erweckte ihn um Mitternacht ein Rauschen und Schnattern. Er blickt auf und sieht einen Schwarm Elstern, der sich lärmend auf dem Wipfel der Tanne niederläßt. Lange hört der Bursche dem Schnattern zu, bis es ihm allmählich scheint, als verstehe er, was sie reden.

»Wißt ihr, Schwestern, schon meine Neuigkeit?« sagt eine Elster. »Es steht nicht fern von hier gen Westen eine schöne, große Stadt, die an allem Überfluß hat, nur Wasser giebt es dort nicht. Diesem Mangel läßt sich aber leicht abhelfen. Auf dem Felde vor der Stadt steht eine mächtige Linde. Würde man am Fuße dieser Linde nachgraben, so käme ein ganzer Wasserstrom herauf.«

»Ja, ja – aber wißt ihr auch meine Neuigkeit?« sagte die zweite Elster. »Nicht weit von jener Stadt, gen Osten, ist ein hoher Berg, in welchem sich Schätze aller Art befinden. Niemand aber versteht es in den Berg Hineinzugelangen. Und doch ist es so leicht! Man braucht nur am Morgen von Georgi,1 vor Sonnenaufgang, drei Furchen um den Berg zu pflügen, dann thut er sich von selber auf und die Schätze gehören dem Pflüger.«

Und so ging's weiter. Eine jede Elster plauderte ihre Neuigkeit aus. Dann wurden die Vögel unruhig, schlugen mit den Flügeln und flogen davon. Der Bursche unter dem Baum aber merkte sogleich, daß das nicht gewöhnliche Elstern, sondern Hexen gewesen, welche in der Johannisnacht herumfliegen und einander ihre Neuigkeiten erzählen.

Der Tag begann kaum erst zu dämmern, als der Jüngling schon unterwegs nach jener von der Hexe geschilderten Stadt war. Es dauerte auch nicht lange, so befand er sich mitten in den schönen Straßen derselben. Er trat in ein Haus und bat um einen Trunk Wasser. »Du bist wohl fremd hier« – ward ihm zur Antwort – »daß du nichts[45] von unserer Not weißt. Wir haben alles in Fülle, nur an Wasser fehlt es uns ganz; da leiden wir selber brennenden Durst.« Darauf begab sich der Jüngling auf den Marktplatz und sprach also zum Volke: »Was wollt ihr mir geben, wenn ich euch Wasser schaffe?« Die Ratsherren versprachen ihm einen hohen Lohn; man einigte sich schnell – und alle folgten dem Jüngling bis zu der mächtigen Linde außerhalb der Stadt. Am Fuße derselben ließ er eine tiefe Grube graben. Als sie ihm tief genug erschien, horchte er hinein und vernahm deutlich unterirdisches Wasserrauschen. Nun ergriff der Jüngling einen Stein und warf ihn mit aller Kraft in die Grube. Sofort schoß ein gewaltiger Wasserstrahl empor; dann fing es mächtig an zu brausen, ein Strom frischen, klaren Wassers ergoß sich gegen die Stadt und, Mauern und Häuser umreißend, in dieselbe hinein. Arbeiter thaten dem Wüten des entfesselten Elementes bald Einhalt und gaben dem neuen Flusse eine Richtung. Da herrschte große Freude unterm Volke und Gold und Ehren wurden dem Wasserfinder zu teil.

Bis zum Frühjahr blieb derselbe in der Stadt und ließ sich's wohlgehen, dann aber gedachte er dessen, was die zweite Hexe erzählt hatte. Ein Pferd und einen Pflug mitnehmend, machte er sich auf, den Berg zu suchen. Bald hatte er ihn auch erreicht und am Morgen des Georgstages die drei Furchen um seinen Fuß herumgezogen. Da that sich der Berg von selbst auf und eine Unzahl kostbarer Schätze ward sichtbar – Silber, Gold, Edelsteine in Hülle und Fülle. Nun war der arme Jüngling reicher geworden, als die Allerreichsten auf Erden – und konnte ein wahres Schlaraffenleben führen.

Einst in seiner sechsspännigen Prunkkarosse auf der Landstraße spazierenfahrend, begegnete ihm ein armer Wanderer, der ein Füllen am Zaume führte. Dieser Wanderer war sein älterer Bruder; welcher in der Fremde nichts gewonnen hatte als eben dieses Füllen. Der Reiche ließ, als er den[46] Bruder erkannt hatte, halten – und fragte: »Wo kommst du her? Was hast du erlebt und was erworben?« Da wies der Arme traurig auf das Füllen und sprach: »Das ist alles, was ich in der Fremde erworben habe.«

Nun erzählte ihm der Reiche, daß auch er nach einem Jahr blutarm auf der Heimkehr begriffen gewesen, was die Hexen im Tannenwipfel erzählt hätten und wie es ihm ferner ergangen wäre. Der ältere Bruder hörte ihm aufmerksam zu und dachte bei sich: »Wenn diesem, der um so viel jünger und dümmer ist als ich, ein solches Glück zu teil geworden, so kann es mir, dem älteren und klügeren, gewiß nicht fehlen. Ich werde noch mehr Schätze gewinnen als er.« Aus Scham und Zorn aber erschlug er das Füllen. Dann setzte er seinen Weg fort. – Gerade in der Johannisnacht kam er an jene Tanne und legte sich, wie zum Schlafen, unter ihr nieder. Um Mitternacht flogen auch, wie damals, die Elstern herbei – setzten sich schnatternd und flügelschlagend in den Wipfel und fingen an zu reden. »Wißt ihr auch, Schwestern,« sprach eine, »meine diesjährige Neuigkeit? Was wir vor einem Jahr hier von der wasserarmen Stadt und dem schätzereichen Berge erzählt, das muß jemand belauscht haben; denn ein Jüngling hat der Stadt Wasser gegeben und den Berg seiner Schätze beraubt. Laßt uns darum vorsichtig sein und erst mal unter dem Baume nachschauen. Vielleicht ist wieder ein Lauscher da.«

Und mit fürchterlichem Geschnatter schoß der ganze Schwarm zur Erde hinab. Da fanden die Hexen den älteren Bruder und töteten ihn sofort.

1

D.h. am Morgen des St. Georgstages, 5. Mai (23. April a. St.).

Quelle:
Andrejanoff, Victor von: Lettische Märchen. Nacherzählt von -, Leipzig: Reclam, [1896], S. 47.
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