Vom verwünschten Schloße.

[62] In der alten Zeit als der Dienst bei den Soldaten noch sehr streng und schwer war, giengen die Soldaten gerne durch, wenn sie[62] nur irgend eine Gelegenheit dazu finden konnten. So standen einmal drei Soldaten (ein Unterofficier und zwei Gemeine) auf Posten, verabredeten sich davon zu laufen und setzten es auch glücklich ins Werk. Um sich aber der Verfolgung zu entziehen, warfen sie sich in einen Wald, der nicht all zu weit von der Stadt entfernt war. Zwei Tage lang waren sie immer tiefer in den Wald hinein gegangen, in der Hoffnung, bald durch denselben hindurch ins Freie zu gelangen; aber das geschah nicht, denn der Wald war sehr groß. Ihren geringen Mundvorrat hatten sie bereits aufgezehrt; der Hunger quälte sie so, daß sie dachten, sie würden wol Hungers sterben müßen. Als sie nun nur noch wie ausgetrocknete Spinnen weiter stiegen, kamen sie an einen Teich, in welchem ein Schwan hin und her schwamm; den gedachten sie zu erschießen, wusten aber nicht wie sie ihn nachher aus dem Waßer heraus bekommen könnten. Indem sie das überlegten, hub der Schwan zu reden an und sagte ›Meine lieben Herren, ich weiß, daß ihr sehr wünschet etwas zu genießen; ich werde euch sagen, wo ihr etwas zu eßen bekommen werdet. Geht nur noch ein kleines Endchen auf dem Pfade weiter, so werdet ihr an eine schöne Brücke kommen, über die geht hinüber und dann geht noch eine kleine Strecke, da werdet ihr an ein schönes Häuschen kommen, in das geht hinein, da werdet ihr etwas zu eßen bekommen.‹ Die Männer freuten sich nicht wenig darüber und eilten so sehr sie vermochten. Die Brücke fanden sie; sie war so schön, wie sie noch nie eine gesehen hatten. Als sie aber nur ein Paar Schritte jenseits der Brücke gethan hatten und sich umsahen, da war die Brücke verschwunden. Darüber erschraken sie nicht wenig und dachten, daß es ihnen da wer weiß wie schlecht ergehen werde, doch trösteten sie sich wieder ›Ist es uns einmal bestimmt in dem Walde unser Ende zu finden, so werden wir auf keine Art hinaus kommen; Gott thue wie er will.‹ Unter solchen Reden giengen sie weiter und erblickten das Häuschen: in das giengen sie hinein und in der ersten Stube fanden sie einen Tisch und drei Stühle. Der Tisch war schön gedeckt und darauf stund eine Schüßel mit schmackhafter Suppe und daneben ein köstlicher Braten und drei Flaschen Wein, dazu drei Teller mit Meßer und Gabel, wie es sich für drei Leute gehört. Menschen waren aber weder zu hören noch zu sehen. Sie fürchteten sich abermals nicht wenig; da sie aber über die Maßen ausgehungert waren, so setzten sie sich doch an den Tisch und aßen, und es schmeckte ihnen so gut wie noch nie. Während sie aßen,[63] kam eine Maus irgend woher über den Boden gelaufen und sagte ›Liebe Herren, fürchtet euch nicht, eßet und trinket, es ist alles für euch da und dann geht in die andre Stube, da wird jeder ein Bett finden, da könnt ihr euch schlafen legen.‹ Sie sahen in die andre Stube und fanden es so, wie die Maus es gesagt hatte. Da sie sehr müde waren und schon lange nicht geschlafen hatten, legten sie sich nach dem Eßen jeder in ein Bett und sie schliefen die ganze Nacht hindurch vortrefflich.

Dem Unterofficier erschien aber Nachts im Traume eine sehr schöne Jungfrau, die bat ihn und seine Kameraden, sie möchten ein ganzes Jahr und einen Tag da bleiben, sie würden es sehr gut haben und an nichts Mangel leiden; ferner bat sie, es sollte die ganze Zeit hindurch jede Nacht von eilf bis zwölf Uhr einer von ihnen Wache stehen, dafür werde jeder des Morgens unter seinem Kopfkissen ein Geschenk finden; mit dem Geschenk werde schon diese Nacht der Anfang gemacht werden. Den Tag über könnten sie in den Baumgarten links vom Hause durchs Thor gehen; dort würden sie allerhand Geräte zu allerhand Spielen finden, um sich die Zeit, wenn sie ihnen lang werden sollte, zu vertreiben; und sie sollten überhaupt thun, wozu sie Lust hätten und was ihnen in den Sinn komme, nur die Thüre rechts vom Hause sollten sie um Gottes Willen nicht öffnen und da hinein sehen. Früh, als alle munter geworden waren und nicht genug rühmen konnten, wie angenehm und süß sie geschlafen, da erzählte der Unterofficier seinen Traum und sagte, als er damit zu Ende war ›Jetzt muß ich doch einmal unter das Kopfkissen greifen, ob das Geschenk auch da ist, von dem die Jungfrau sprach.‹ Und sieh! er fand da ein kleines Papierchen und im Papierchen nicht wenig Dukaten; eben so fanden die andern beiden unter ihren Kopfkissen ein solches Geschenk. Da nun mit dem Geschenke der Traum so zugetroffen, so muste auch das übrige wahr sein, und sie trafen die Verabredung, daß sie hier ein Jahr und einen Tag bleiben wollten und jede Nacht abwechselnd einer jene Stunde Wache stehen sollte. Am Tage giengen sie in den Garten, von welchem die Jungfrau gesprochen hatte: da fanden sie allerlei schöne Sachen und Zurüstungen zu lustigen Spielen, so daß ihnen die Zeit nicht lang werden konnte; wollten sie aber eßen oder trinken, so brauchten sie nur in die erste Stube zu gehn, da stunden schon auf dem Tische alle die Speisen und Getränke, die sie nur wünschten. Das Mäuschen aber kam täglich zum Vorschein. So[64] lebten denn die drei Männer da wie Fürsten. Nach einem halben Jahre war es ihnen aber wunderbar, daß das Mäuschen auf einmal zur Hälfte menschliche Gestalt angenommen hatte und ihnen immer etwas erzählte. So vergieng ihnen schön und frölich das ganze Jahr und sie brauchten nur noch einen Tag lang da zu sein.

Am letzten Tage des Jahres sagte einer der beiden Gemeinen ›Morgen ist der letzte Tag; wir müßen doch einmal jene Thüre zur Rechten öffnen und hinein sehen, was da ist.‹ Die beiden andern warnten ihn, er solle das doch nicht thun; sie hätten ja so lange ausgehalten ohne hinein zu sehen, so würden sie doch auch noch die zwei Tage aushalten können. Jener Widersacher hielt es aber doch nicht aus, sondern gieng hin, machte die Thüre auf und sah hinein: aber schnell schloß er die Thüre wieder und voller Entsetzen kam er zu jenen beiden und sagte ›Laufen wir, laufen wir so schnell als nur möglich, sonst sind wir verloren!‹ Beide erschraken nicht wenig und fragten ihn »Was hast du da gesehen?« Er sagte ›Ich sah da einen entsetzlichen, brennenden Abgrund, in dem waren Menschen und Nattern und Schlangen und noch allerlei Thiere, die brannten da alle mit einander und alle schrien gewaltig um Rettung.‹ Da rafften sie schnell alles zusammen, besonders das geschenkte Geld, und liefen in schnellem Laufe davon. Ehe sie aber den Ort verließen, zeigte sich ihnen noch einmal jenes Mäuschen, das kurz zuvor schon zu einer schönen Jungfrau geworden, jetzt aber wieder ganz in eine Maus verwandelt war und sagte ›Noch einmal können wir erlöst werden, wenn sieben Knaben von sieben Jahren, die an einem Tage geboren und an einem Tage getauft sind, sieben Jahre und sieben Tage treu ausharren.‹ Diese Worte vernahm der Unterofficier während des Laufens ganz deutlich und er merkte sie sich. Sie fanden wieder die Brücke, giengen über sie hinüber und eilten weiter zu kommen, da sie fürchteten, es könne ihnen etwas Schlimmes widerfahren. Indes geschah ihnen nichts und sie kamen auf denselben Pfaden und Wegen zurück, auf denen sie gekommen waren, und so kehrten sie wieder in dieselbe Stadt zurück, aus der sie entflohen waren; da sie aber ganz anders gekleidet waren, kannte sie niemand mehr. Die beiden Gemeinen begannen nun für das ihnen zu Theil gewordene Geld zu zechen und zu schwelgen, und es dauerte nicht lange, so hatten sie es völlig vergeudet.

Der Unterofficier aber war gescheiter; der gieng zu einem reichen[65] Krämer und kaufte sich theures Tuch zu Rock und Hosen, und als die Kleider fertig waren, kam er wieder zu demselben Kaufmanne und kaufte zu einem andern Anzuge, und stets bezahlte er mit Dukaten. Der Kaufmann hatte aber eine einzige Tochter: als die den Unterofficier beim Einkaufen sah, verliebte sie sich in ihn, denn er war ein zierlicher und wolansehnlicher Mann, und zwar um so heftiger, je feiner und schöner er gekleidet war. Sie sprach darüber mit ihrem Vater, der ihr erwiderte ›Meine Tochter, wenn es der Mann irgend wert ist, so werde ich ihn dir nicht verwehren.‹ Nach einigen Tagen kam er wieder, um zu kaufen, und die Tochter zeigte ihn sogleich ihrem Vater. Der Vater kam nun auch in den Laden und sah sich den Mann an, der ihm ebenfalls recht wol gefiel. Nach einer kurzen Unterredung ladete ihn der Vater ein, in sein Zimmer zu kommen, und er gedachte, von Ferne ihn darüber auszuholen, wie reich und aus welcher Familie er sei; der Mann aber ließ hierüber nichts verlauten. Als er weg gegangen, sagte der Kaufmann zu seiner Tochter ›Der Mann gefiele mir schon ganz gut, es ist aber ein wunderlicher Mensch, so daß man nichts von ihm erfahren kann; ich habe es auf alle Art versucht, ihn auszufragen.‹ Die Tochter antwortete »Väterchen, zu dem Manne muß doch etwas sein; er hat doch nun schon einige Male bei uns gekauft und immer mit Gold gezahlt.« Sie redete dem Vater so lange täglich alles Gute von dem Manne ein, bis sie ihn überredete und der Vater ihr erlaubte, den Mann zu heiraten. So hatte denn dieser Unterofficier das Glück, eine sehr reiche Frau heim zu führen; aber auch er selbst hatte noch viel Geld, und er wurde dann noch reicher, als er den ganzen Besitz seines Schwiegervaters ererbte. Seine beiden Kameraden heirateten auch, da sie aber ihr Geld nicht gespart hatten, so heirateten sie auch nicht glücklich und waren später geringe, arme Leute.

Nach einem Jahre genas die reiche Kaufmannsfrau eines jungen Söhnleins: das war für alle Verwandte eine große Freude, und es ward eine große Kindtaufe gehalten. Vater und Mutter liebten das Kind über alle Maßen, denn es war ein schöner Junge. Als er etwas heran gewachsen war, begannen sie ihn zu unterrichten und in die Schule zu schicken; und als er ins sechste Jahr gieng, konnte er schon so ziemlich die Schrift lesen. Dem Vater kam aber einmal in den Sinn, irgend wo hin an einen verborgnen Ort alles aufzuschreiben, was ihm widerfahren, wie er so reich geworden und wie jenes[66] Häuschen im Walde und alles was dazu gehört, erlöst werden könne. Er kehrte zu diesem Zwecke einen Tisch um und schrieb alles unten auf die Tischplatte. Da geschah es aber einmal, daß der Knabe, als er das siebente Jahr erreicht hatte, in der Stube, wo jener Tisch stund, sein Spielzeug hatte, und beim Spielen rollte ihm etwas, vermutlich ein goldner Ring, unter den Tisch; und als der Knabe unter den Tisch kroch, um den Ring aufzuheben, sah er in die Höhe, erblickte die Schrift und las sie. Da er sehr klug war, sagte er niemandem etwas davon, dachte aber stets darüber nach, wie er das ausführen könne. In der Schule forschte er nun unter allen Schülern die aus, die mit ihm an einem Tage geboren waren, und bald hatten sich ihrer sieben zusammen gefunden und darunter auch zwei Knaben der einstigen Gefährten seines Vaters. Als sie sich nun zusammen gefunden und sich genau davon überzeugt hatten, daß sie wirklich an einem und demselben Tage geboren seien, da ordneten sie alles heimlich an und giengen, ohne daß jemand etwas wuste, an dem Tage, an dem sie das siebente Jahr antraten, als sie zur Schule giengen, fort in den Wald. Die Eltern warteten zu Mittag auf die Ankunft der Kinder, aber niemand kam, und die Eltern wurden darüber sehr besorgt. Einige Tage hindurch suchten sie und forschten nach, aber vergebens. Nach einiger Zeit fiel dem Kaufmanne seine Schrift unter dem Tische ein, und sogleich kam ihm der Gedanke, sein Sohn werde die Schrift gelesen, und da er jetzt sieben Jahre alt geworden sei, auch die andern, die eben so alt waren, mit sich gelockt haben; und wie er erfuhr, daß die andern Knaben auch so alt seien als der seinige, so zweifelte er nicht ferner daran.

Die sieben Knaben aber giengen auf demselben Wege, auf dem einst die Väter von dreien unter ihnen gegangen waren; und nachdem sie ebenfalls einige Tage sich abgemüht hatten, kamen sie ermüdet und sehr hungrig an jenen See und sahen ebenfalls den Schwan herum schwimmen, und als sie nun am Ufer stunden und wehklagten, fieng der Schwan zu reden an und sagte ›Liebe Kinder, geht nur noch ein Endchen weiter auf dem Fußpfade, dann werdet ihr an eine schöne Brücke kommen; und jenseits der Brücke geht wieder ein Stückchen, so werdet ihr ein Häuschen finden; in das geht hinein, da werdet ihr zu eßen und zu trinken finden und was ihr sonst noch nötig habt.‹ Dieser Rede folgten sie, fanden die Brücke, überschritten sie und nicht weit davon fanden sie auf der andern Seite das Häuschen.[67] In das giengen sie hinein und fanden in der ersten Stube einen schön gedeckten Tisch, auf welchem Speise und Trank aufgetragen war; auch waren sieben Stühle um den Tisch gestellt und sieben Teller, sieben Meßer und sieben Gabeln lagen auf dem Tische. Als sie eingetreten waren, sahen sie sich um; es war aber niemand weder zu sehen noch zu hören, und da sie hungrig waren, setzten sie sich zu Tische und aßen, und es schmeckte ihnen sehr gut. Während sie aßen, zeigte sich auf der Zimmerdiele eine Maus, die ladete sie ein, sichs schmecken zu laßen, in der andern Stube sei für jeden ein Bett, da könnten sie sich schlafen legen. Das fanden sie auch alles so, und da sie müde waren, giengen sie gleich schlafen. In der Nacht träumte einem jeden, daß eine sehr schöne Jungfrau zu ihm gekommen sei, die habe gebeten, sie möchten sieben Jahre und sieben Tage da bleiben und wenn sie treu aushielten, so würden sie sehr glücklich werden; während der ganzen Zeit würden sie sich um nichts zu kümmern brauchen, sie würden weiß gewaschene Hemden und, so bald es nötig, auch schöne neue Kleider bekommen; durch das Thor linker Hand vom Hause könnten sie alle Tage in den Garten gehn, wo sie allerlei Vergnügungen anstellen könnten; nur durch die Thüre rechts sollten sie nicht sehen, und in der letzten Nacht sollten sie sieben Stunden, jeder eine Stunde lang, Wache halten. Als sie früh erwachten, erzählte jeder seinen Traum und alle ihre Träume waren gleich. Da beschloßen sie denn recht fest, hier auszuharren, damit ihnen das große Glück zu Theil werde. Der Sohn des Kaufmanns, der in allen Stücken Anführer und gleichsam der vornehmste unter ihnen war, schärfte seinen Kameraden so viel er nur konnte ein, daß keiner von ihnen einen schlechten Streich begehe, vor allem aber, daß keiner etwa durch das Thor rechts einen Blick werfe. So lebten denn die Knaben da, und die Zeit ward ihnen nicht lang, da sie ja Belustigung aller Art, gutes Eßen und Trinken und Freiheit hatten; denn niemand befahl ihnen etwas. Die Maus zeigte sich ihnen täglich, aber jedes Jahr konnte man bemerken, wie sie vom hintern Ende an menschliche Gestalt annahm und immer mehr zu einem Menschen ward. So oft sie sich zeigte, ladete sie zum Eßen und Trinken ein. Im letzten Halbjahre war das Mäuschen schon ganz und gar zu einer schönen Jungfrau geworden, die sich täglich eine kleine Weile mit ihnen unterhielt, aber auch wieder verschwand, woraus sie sich aber nichts machten, da sie es ja schon gewohnt waren.[68]

Nun kam auch der letzte Tag heran. Da kam die Jungfrau und sagte, daß das nun die letzte Nacht sei und daß sie Wache stehen sollten gleich Abends von fünf Uhr an bis zwölf, in der letzten Stunde solle aber der Kaufmannssohn Wache halten, denn der werde doch am meisten Mut haben; die letzte Stunde werde nämlich die schlimmste sein, da würden Schrecknisse und Thiere aller Art kommen, aber er solle sich vor alle dem nur nicht fürchten, keines könne ihm etwas thun, sie könnten blos Furcht machen. ›Jeder aber, der sich neben dem Hause aufstelle, solle mit dem Säbel rings um sich herum einen Kreis in den Boden ritzen und sich segnen, dann könnten alle die Unholde nicht weiter als bis an den eingeritzten Kreis heran nahen.‹ Von fünf Uhr an hielten sie also Wache und zwar jeder eine Stunde; alles aber blieb ruhig und es erschien ihnen nichts. Als aber um eilf Uhr der Kaufmannssohn die Wache übernahm, da kamen allerlei Thiere und Schreckgestalten herbei gegangen und gelaufen; eins hatte viele Köpfe, ein anderes hatte keinen Kopf, andre hatten Augen wie Feuerflammen, andre wieder hatten einen so großen Rachen, daß sie ihn hätten verschlingen können. Der Knabe aber, wenn er auch bisweilen zitterte, lief doch nicht davon; denn keines der Geschöpfe hatte Macht, ihm etwas zu thun und keines konnte näher an ihn heran kommen als bis an den eingeritzten Kreis. Als aber die Uhr zwölf schlug, da verschwanden die Wesen alle; aber jetzt begann ein Poltern und Dröhnen, wie vom grösten Gewitter; man hätte glauben können, daß Himmel und Erde einstürze; ein mächtiger Sturm erhob sich, ein Knallen und ein Erdbeben, daß es nicht anders war, als sollte alles zu Grunde gehen. Der Kaufmannsknabe, nachdem er seine Stunde Wache gestanden, lief zu den andern in die Stube, und sie alle, die da in der Stube bei einander stunden, überkam durch das fürchterliche Poltern und Knallen ein solcher Schreck, daß sie alle auf die Dielen nieder fielen wie todt, und daß sie dachten, sie wären für alle Zeit verloren; so schliefen sie auch ein und schliefen süß die ganze Nacht hindurch.

Am Morgen aber war alles anders geworden; sie stunden auf und sahen zum Fenster hinaus, aber da war nichts zu sehen, was vorher da war. Sie erblickten viele Soldaten um ein schönes Gebäude herum stehend, und als sie genauer zusahen, da war das Häuschen zu einem großen und sehr schönen Palaste geworden und überall um den Palast herum stunden Soldaten Wache. Da wusten sie gar[69] nicht, was sie denken und sagen sollten. Noch wunderbarer aber ward ihnen zu Mute, als ein sehr feiner Bedienter zu ihnen herein kam, sie hohe Herren und Könige nannte und sie fragte, was ihnen zum Frühstück bereitet werden solle und welchen andern Befehl oder Parole sie für den Tag ergehen laßen würden. Einer sah den andern erschrocken an und keiner sagte etwas; der Kaufmannssohn aber, der immer der Klügste von ihnen war, sagte ›So wie man es alle Tage mit dem Eßen und den andern Dingen gehalten, so sei es auch heute.‹ Sodann brachte ein andrer Bedienter für jeden schöne Kleider, die sie, wie es hohen Herren zukommt, anziehen sollten. Sogleich erschienen sieben Diener, die sie prächtig ankleideten. Als das Frühstück vorüber war, dauerte es nicht lange und es stunden sieben mutige Rosse vor dem Palaste, auf denen sie reiten sollten. Der Stallmeister kam und ladete unter tiefen Verbeugungen die hohen Herrn ein, daß sie, da alles bereit sei, reiten könnten. Die Knaben giengen nun heraus und wurden von Bedienten auf die Pferde gehoben; aber sie hatten nicht wenig Furcht auf solchen Rossen zu reiten, da sie noch nie geritten waren; die Rosse aber waren sehr gut zugeritten und giengen daher sehr ruhig. Als sie ritten, kamen sofort die Generale und andre hohe Officiere ihnen entgegen geritten und fragten, sich tief verbeugend, was geschehen solle. Da wusten sie wieder nichts zu sagen; nur der Kaufmannssohn sagte abermals ›Wie es alle Tage zu geschehen pflegte, so auch heute.‹ Da begannen die Generale zu kommandieren und eine schöne Parade zu halten; dann musten die Hautboisten eine schöne Militärmusik spielen, und die Musik brauste und tönte, daß die Erde erbebte, und je toller die Musik war, desto ärger schlug man die großen Trommeln. Als nun die Parade vorbei war, da ritten die jungen hohen Herren wieder nach Hause, und vor dem Palaste waren wieder viele Bedienten, die ihnen die Pferde abnahmen, andere führten die Pferde hinweg, andere begleiteten sie hinein und da gab es wieder allerlei gute Sachen und Leckerbißen zu eßen und feinen Wein zu trinken. Indem sie nun nach so vielen Nöten allmälig in freudige Stimmung kamen, sieh, da traten sieben unendlich schöne und herrliche Jungfrauen ein, und das waren sieben Prinzessinnen, von denen jede einen der Knaben umarmte und sprach ›Du bist mein Erretter und nun auch mein Bräutigam und wirst einst mein Mann sein.‹ Die Knaben erschraken aufs neue, aber die Prinzessinnen sprachen so liebreich und gnädig mit ihnen und sprachen[70] ihnen zu, sie sollten nun recht vergnügt sein, und jede umarmte den ihrigen und küsste ihn liebreich. Sie erzählten auch, daß der Palast und die ganze Stadt mit allem, was sie enthielt, mit Soldaten, Generalen und andern Leuten, daß sie selbst, daß alles verwünscht gewesen; sie hätten durch ihr treues Ausharren Erlösung gebracht und dafür werde ihnen jetzt so große Ehre erwiesen; sie seien jetzt hohe Herrn und Beherscher des ganzen Königreiches geworden. Dann belehrten sie sie alle Tage, welche Parolen sie den Generälen geben sollten und auf welchem Platze und was für Soldaten die Parade halten sollten; dadurch wurden die Knaben immer dreister und klüger.

Als so eine schöne Zeit verstrichen war, wollten die Knaben zu ihren Eltern reisen, und ihre Bräute, die Prinzessinnen, willigten auch sehr gerne ein; doch sollten sie nicht allein reisen, sondern mit einer großen Schaar Soldaten, wie ihnen das nunmehr zukomme. Wie sie nun reisten und in ihre Stadt einzogen, da entstund eine große Bewegung bis sie alle Soldaten einquartierten, und alle Leute erfuhren, was das zu bedeuten habe. Die Knaben aber, das heißt die jungen Fürsten, erkannten ihre Eltern nicht wieder und die Eltern sie auch nicht, bevor nicht jeder, und besonders der Kaufmannssohn, das ganze Geheimnis von Anfang an gründlich erzählt hatte. Sie hielten sich dann einige Tage dort auf und reisten dann wieder zurück. Und nicht lange darauf, nachdem sie die Prinzessinnen geheiratet, ward der Kaufmannssohn der König und die andern seine obersten Generale und Minister, und unter ihrer Herrschaft befand sich das Land sehr wol und glücklich.

Quelle:
Schleicher, August: Litauische Märchen, Sprichworte, Rätsel und Lieder. Weimar: Böhlau, 1857, S. 62-71.
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