[33] 68. Die Sage von der schönen Melusina, der Ahnfrau der Luxemburger Grafen.

Vor vielen hundert Jahren lebte auf dem Schlosse zu Körich ein edler Ritter, Graf Siegfried. Dieser verirrte sich einst auf der Jagd und gelangte gegen Abend in ein tiefes, enges, wildverwachsenes Tal. Es war das Tal der Alzet an der Stelle, wo heute Luxemburgs Vorstädte sich malerisch an den Felsen schmiegen. Der Graf sah vor sich den Bockfelsen emporragen und oben auf demselben eine alte, verfallene Römerburg. Plötzlich schlugen Töne eines wundervollen Gesanges an des erstaunten Ritters Ohr. Nachdem der Graf eine Zeitlang dem Gesang gelauscht, eilte er dem Orte zu, woher die Töne erklangen, und bald gewahrte er oben auf den Trümmern der Burg eine Jungfrau sitzen, bei deren Schönheit er wie gefesselt stehen blieb. Es war Melusina, die Nixe der Alzet. Unverwandten Blickes starrte Siegfried nach der überirdischen Erscheinung. Wie die Jungfrau den stattlichen Ritter sah, ließ sie ihren grünen Schleier über das Antlitz fallen und verschwand mit den letzten Strahlen der Abendsonne.

Von Müdigkeit überwältigt, legte sich Graf Siegfried unter einen Baum nieder und schlief ein. Am anderen Morgen weckte ihn der Gesang der Vögel aus einem seligen Traume. Er erhob sich, folgte dem Laufe des Flusses und befand sich bald in der Gegend von Weimerskirch, die ihm bekannt war, und von wo er der Heimat zueilte.

Die Erscheinung der schönen Jungfrau aber und ihr wundervoller Gesang hatten des Grafen Seele mächtig erfaßt; oft zog es ihn nun in diese Gegend, die er liebgewonnen, um sich von neuem an dem Gesang und der schönen Gestalt der Jungfrau zu erfreuen. Einst traf er sie im Tale, denn der Besuch des Grafen war ihr angenehm und sie hatte den stattlichen Ritter liebgewonnen. Rasch trat dieser zu ihr hin, gestand ihr seine Liebe und bat sie, sein Weib zu werden. Sie willigte ein unter der Bedingung, daß sie den Felsen nicht verlassen müsse und er sie nie an den Samstagen, an denen sie allein zu sein wünsche, sehen wolle. Der Graf gelobte es ihr unter Eidschwur.

Siegfried machte nun mit dem Abte von St. Maximin bei Trier einen Tausch, durch welchen er seine schöne Herrschaft Feulen bei Ettelbrück[33] gegen den kahlen Bockfelsen und die umliegenden Waldungen abtrat. Da es ihm aber jahrelang an Geldmitteln gebrach, um auf dem Bockfelsen ein Schloß zu erbauen und Melusina als sein Weib heimzuführen, so nahm er Satans Hilfe gerne an, der sich erbot, ihm das Schloß zu erbauen und ihn mit Reichtum zu überhäufen, wenn er nach dreißig Jahren ihm zu eigen sein wolle. Da prangte über Nacht auf dem Scheitel des Bockfelsens eine herrliche Burg, die stolz in das umliegende Tal herniederschaute. Siegfried vermählte sich mit der schönen Melusina und verlebte fröhliche Tage. Melusina schenkte ihm sieben Kinder.

Aber stets an den Samstagen hielt sich die Nixe den Augen aller verborgen, zog sich in ihre Kammer zurück und schloß sich ein. Lange Jahre schon hatte sie das getan, ohne daß es ihren Gemahl verlangte, zu erfahren, was sie an jenem Tage treibe; aber seine Freunde, die mit der Zeit Kunde hiervon erhalten hatten, weckten in des Grafen Seele Mißtrauen gegen sein gutes Weib. Nun wollte Siegfried um jeden Preis wissen, warum sich Melusina an den Samstagen von ihm zurückziehe. Am nächsten Samstag eilte er heimlich zu ihrer Kammer; ein auffallendes Rauschen und Plätschern tönte ihm aus dem Innern entgegen; er spähte zum Schlüsselloch ins Zimmer hinein: da sieht er seine Gattin in einem Wogenbade sich das lange, blonde Lockenhaar mit goldenem Kamme glätten; ihre schönen Glieder enden in einen ungeheuren, scheußlichen Fischschwanz, mit dem sie die Wellen peitscht. Der Graf stieß einen Schrei des Entsetzens aus, Melusina aber versank im selben Augenblick in des Felsens Tiefen; sie war auf immer für Siegfried verloren.

Man erzählt, die Amme, die das jüngste Kind in ihrer Pflege hatte, habe manchmal nachts eine weiße Gestalt im Zimmer bemerkt, die gekommen sei, das Kind zu wiegen.

Melusina erscheint nun alle sieben Jahre in menschlicher Gestalt auf der Oberwelt über dem Bockfelsen, um die Vorübergehenden zu ihrer Erlösung aufzufordern. Erfolgt dieselbe nicht, dann schwebt die weiße Gestalt über die Stadt mit dem Ruf: »In sieben Jahren nicht mehr!« und versinkt wieder in den Felsen.

Dadurch ward zur Zeit, als Luxemburg noch eine Festung war, der Wachtposten am Bock so verrufen, daß es sogar den mutigsten Soldaten bangte, wenn sie dort nachts auf Posten stehen mußten. Einst stand ein beherzter Soldat, der mit einem Kameraden die Postennummer gewechselt hatte, zwischen zwölf und zwei Uhr nachts am Bockfelsen Schildwache. Da erschien ihm Melusina in Gestalt eines schönen Mädchens und bat ihn, sie zu erlösen. Es sei dies, sagte sie, ein schweres, doch nicht unmögliches Werk. Fürchte er sich aber vor der Ausführung, so solle er es nicht unternehmen, da sie sonst dreimal tiefer in die Erde versänke. Während dieser Worte entstand ein so heftiges Gebrause um den Bockfelsen, daß der Soldat meinte,[34] derselbe stürze zusammen. Die Schildwache versprach, Melusinens Begehren zu erfüllen, was es auch sein möge, dem er sich zu unterziehen habe. Er müsse, sagte sie, während neun aufeinanderfolgender Tage, jeden Abend Schlag zwölf Uhr hinter dem Altar in der Dominikanerkirche stehen, keine Minute zu früh und keine Minute zu spät. Habe er dies neunmal getan, dann werde sie ihm am zehnten Abend als feurige Schlange mit einem Schlüssel im Munde erscheinen; diesen müsse er mit seinem Munde aus dem ihrigen nehmen und ihn dann in die Alzet werfen, worauf ihre Erlösung vollbracht sei; die Römerburg auf dem Bockfelsen stehe dann wieder da wie vordem.

Acht Abende stand der Soldat Schlag zwölf hinter dem bezeichneten Altare, am neunten aber verspätete er sich. Da hörte er auf seinem Rückwege ein solches Geheul und Gebrüll am Bockfelsen, daß er fast glaubte, alle wilden Tiere seien in der Luft beieinander. Kein anderer Mensch jedoch hörte diesen Lärm.

Auch soll Melusina jedesmal, wenn Gefahr und Unglück der Stadt Luxemburg droht, den Bockfelsen umkreisen und Klagelaute ausstoßen.

So ist Melusina bis auf den heutigen Tag noch nicht erlöst. Wird sie mit der Zeit nicht erlöst, dann wehe der Stadt Luxemburg. Ist das Hemd einst fertig, an dem sie arbeitet, zu dem der kahle Felsen des Bock den Flachs liefert und an dem sie alle sieben Jahre bei ihrem Erscheinen auf dem Felsen einen Stich macht, dann ist sie erlöst; aber die Trümmer der Stadt werden der treuen Wächterin zum Grabmal dienen.


Nach N. Gonner's Mitteilungen und mündlich

Quelle:
Gredt, Nikolaus: Sagenschatz des Luxemburger Landes 1. Neudruck Esch-Alzette: Kremer-Muller & Cie, 1963, S. 33-35.
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