Das Kurvenfahren mit einem Motorwagen

[69] Der nicht sachverständige Leser würde ohne die folgende Erklärung vielleicht denken, daß es doch keine besonderen Schwierigkeiten verursacht haben kann, mit einem Motorwagen, der wie eine Pferdedroschke aussah, in derselben Weise auch die Kurven zu fahren. So einfach war die Sache nicht. Die beim Befahren von Krümmungen entstehenden Schwierigkeiten hielt ich im Gegenteil für so wichtig, daß ich schon mindestens 10 Jahre vor dem Bau meines ersten Motorwagens zunächst eine zeichnerische und rechnerische Lösung für dieses Problem suchte.

Beim gewöhnlichen Pferdefuhrwerk bieten allerdings Straßenkrümmungen keine Schwierigkeiten, weil, wie jedermann weiß, jedes einzelne Rad für sich allein frei auf der Achse läuft. Bei starken Krümmungen haben eben, was einleuchtend sein wird, die kurveninnen laufenden Räder einen wesentlich kürzeren Rollweg gegenüber den kurvenaußen laufenden Rädern zurückzulegen. Genau der gleiche Vorgang tritt bekanntlich bei einer Marschkolonne auf, die um eine Ecke biegt. Auch hier müssen die inneren Flügelleute kurz treten, die äußeren Flügelleute dagegen mit großen Schritten den Bogen auslaufen. Derselbe Vorgang bedingt bei einem Wagen die Unabhängigkeit sowohl der vorderen Räder untereinander, als auch der beiden hinteren Räder voneinander.

Bei meinem motorgetriebenen Fahrzeug wirkten die beiden Antriebsketten von der Vorgelegewelle her (in Abbildung 20 leicht erkennbar) mit derselben Antriebskraft auf die beiden Hinterräder. Ich mußte also eine Lösung finden,[70] bei welcher sich die beiden Hinterräder nur auf gerader Strecke gleich schnell drehten. Dagegen sollte beim Befahren einer Krümmung das kurveninnere Hinterrad langsamer und im gleichen Maße das kurvenäußere Hinterrad entsprechend schneller laufen (Abb. 15).

Solange nicht alle Straßen der Welt gerade sind, solange sie sich krümmen und winden, wäre ein Kraftwagen, der keine engen Krümmungen befahren kann, kein verkehrsbrauchbares Fahrzeug. Ich mußte deshalb mein ganzes Bestreben[71] darauf richten, den Motorwagen in jeder Hinsicht straßenreif zu machen. Die von mir erdachte Vorrichtung, die den Drehzahlunterschied der Hinterräder bei Krümmungen bewirken sollte, war das »Ausgleichsgetriebe« oder »Differential«, das auch heute noch jedes Automobil hat und haben muß.

Wie ein solches Ausgleichsgetriebe wirkt, ist leichter gefragt als erklärt. Da bei meinen Motorwagen der Antrieb der beiden Hinterräder durch zwei Ketten von einer Vorgelegewelle aus erfolgte, entschloß ich mich, das Ausgleichsgetriebe in diese Vorgelegewelle einzubauen und die beiden Hinterräder mit keiner durchgehenden Achse zu versehen. Sie konnten sich also getrennt voneinander drehen, wenn das Ausgleichsgetriebe der Vorgelegewelle die beiden Ketten verschieden rasch bewegte.

In Abbildung 16 sollen die beiden gestrichelten Kreise A und B die beiden kleinen Kettenräder der Vorgelegewelle[72] andeuten, während die in der Mitte sichtbaren beiden Kegelzahnräder und das kleine Ritzel zum Ausgleichsgetriebe gehören. Die beiden Achshälften W 1 und W 2 tragen an ihrem mittleren Ende je ein solches Kegelrad. Das kleine Ritzel X steht mit beiden Kegelrädern in Eingriff. Angenommen, man würde mit der Hand das Ritzel in der strichpunktierten Kreisrichtung drehen, so würden sich die beiden Achshälften W 1 und W 2 in derselben Drehrichtung und mit gleicher Drehzahl bewegen. Dieser Fall entspricht der Geradeausfahrt auf der Straße, wobei natürlich das Ritzel X nicht mit der Hand bewegt wird, sondern im Innern der festen Riemenscheibe der Vorgelegewelle (siehe die vorhergegangene Beschreibung der Kraftübertragung) eingebaut ist. Wenn sich diese Riemenscheibe dreht, so führt das Ritzel die strich-punktiert gezeichnete Kreisbewegung aus, wobei die beiden Kegelräder Y 1 und Y 2 mitgenommen und damit die beiden Vorgelegewellen und also auch die Antriebsketten sowie die Hinterräder des Wagens in Bewegung gesetzt werden.

Während sich bei Geradeausfahrt also die Kegelräder Y 1 und Y 2 mit gleicher Drehzahl drehen, so muß jedoch in einer Kurve das eine Hinterrad langsamer laufen; dann bleibt das zugehörige Kegelrad im Ausgleichsgetriebe in der Drehzahl gegenüber dem anderen Kegelrad im Rückstand. Dadurch dreht sich das Ritzel um seine eigene kleine Achse und erteilt dem anderen Kegelrad in genau dem gleichen Maße eine höhere Drehzahl als das erste Kegelrad zurückbleibt.

Damit war das Problem der verschiedenen Drehzahl der beiden Hinterräder in den Kurven gelöst. Beim Befahren[73] einer Krümmung lief nun selbsttätig das kurveninnere Hinterrad langsamer und das kurvenäußere Hinterrad rascher, so daß ihre Drehzahl genau ihren Rollwegen entspricht.

Quelle:
Benz, Carl Friedrich: Lebensfahrt eines deutschen Erfinders. Die Erfindung des Automobils, Erinnerungen eines Achtzigjährigen. Leipzig 1936, S. 69-74.
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